Thema: theater

"Ist das die Liebe?" Von der inneren Zerstörung einer Ehe

Die (selbst)zerstörerische Liebe zwischen Leo Tolstoi und seiner Frau Sofia bringt die Übersetzerin Andrea Clemen mit ihrer Tagebuch-Collage bedrückend nah in die Gegenwart. Caspar Harlan und Kerstin Wittstamm wagten sich an die theatralische Umsetzung des Stücks.

"Ist das die Liebe? Oder nur das Verlangen nach Liebe?" Diese hellsichtige Frage stellt sich Tolstoi bereits in der Phase der ersten euphorischen Verliebtheit. Tolstoi war 34 Jahre alt als er die 18-jährige Sofia im Hause ihrer Eltern kennenlernt.

Die ganze Geschichte dieser dramatischen Liebe findet sich in den Tagebüchern von Tolstoi und Sonja wieder. Tägliche Begebenheiten, philosophische Überlegungen, mentale Zustände - alles schrieben sie nieder - getrennt, in verschiedenen Räumen. Aber sie lasen gegenseitig ihre Tagebücher, machten gar Notizen im jeweils anderen Notizbuch. So entstand eine komplexe schriftliche Dokumentation des Niedergangs einer großen Liebe.

In den Tagebüchern offenbart sich die zunächst schüchterne Liebe zwischen beiden, die von Seiten Sonjas zunächst getragen ist von der Faszination für seine geistige Kraft. Tolstoi wiederum ist sich anfangs nicht sicher, was der Kern seiner Liebe ist. Sinnliches Verlangen? Seelische Nähe? Sehnsucht nach Zuwendung?

Erste Zweifel und die Ödnis des Landlebens

Als Sofia noch vor der Hochzeit die älteren Tagebücher ihres zukünftigen Mannes liest, kommen ihr erste Zweifel, ob sie den Mann wirklich kennt, den sie heiraten will. Von Gonorrhoe ist da die Rede, von Spielschulden und immer wiederkehrenden Begegnungen mit Huren. Auch die drastische Sprache schreckt sie zunächst ab.

Doch sie schiebt alle Zweifel beiseite, heiratet "das Genie" trotzdem. Doch im Laufe der Jahre, in denen 13 Kinder geboren werden, entfernen sich beide immer weiter voneinander. Während Tolstoi seine schon zu Lebzeiten berühmten Romane schreibt und über eine neue, gerechtere Gesellschaftsordnung grübelt, versteht Sonja ihren Mann immer weniger.

Sie ist jung, sie will tanzen, feiern, fröhlich sein, "leichte Gespräche" führen. Die Schwere der Tolstoischen Gedanken kann irgendwann nicht mehr ertragen. Tolstoi wiederum ist von ihrer Kleingeistigkeit, ihrer Angst, ihn zu verlieren und dem Zwang, einen großen Haushalt aufrecht erhalten zu müssen, immer genervter. Ihn treibt immer mehr um, wie er den Konflikt zwischen seinem Anspruch nach Besitzlosigkeit und seinem Dasein als wohlhabender Gutsbesitzer lösen soll.

Ein neues Gesellschaftsmodell versus Sehnsucht

Er will sein Eigentum weggeben, hält sein herrschaftliches Leben nicht mehr aus angesichts der Not von Arbeitern und Bauern in der ländlichen Gegend von Jasnaja Poljana, wo beide auf dem heimatlichen Gut von Tolstoi leben. Tolstoi beginnt, handwerkliche Tätigkeiten selbst auszuführen, bringt seine Ausscheidungen "mit einem Gefühl von Vergnügen" nach draußen.

Sonja dagegen hasst das ländliche Leben, sie will in Moskau leben, am gesellschaftlichen Leben teilnehmen, Bälle und Festivitäten genießen. Doch für Tolstoi ist das verachtenswerter Müßiggang, zu dem niemand berechtigt ist, solange Not und Armut bei Anderen herrschen. 

Er will arbeiten, seine Aufgabe finden, schreiben, eine neue Gesellschaftsordnung erfinden. Seine Frau kommt ihm oberflächlich vor. "Du bist ein Mühlstein an meinem Hals," wirft er im Streit vor. Sie kontert, dass er grausam sei und nicht sähe, dass sie ihn liebt. Nach dem Tode ihres Lieblingssohns versinkt sie in Verzweiflung, denkt an Selbstmord.

Ein verzweifeltes Ende  

Tolstoi redet von "einem Irrenhaus, dass von einer Irren geleitet wird." Sie vereinsamt immer mehr, versinkt in Paranoia, Eifersucht und Verzweiflung. Sie trennen sich. Er lebt auf dem Lande, auf seinem Gut, hat sein Eigentum weitestgehend abgegeben. Sie lebt in Moskau, führt ein eigenes Verlagsbüro und gibt die ihr überlassenen älteren Texte heraus. Doch auf Druck von Sonja lässt sich Tolstoi wieder auf ein Zusammenleben mit seiner Frau ein.

Am Ende, nach 48 Jahren Ehe, macht Tolstoi sich bei Nacht und Nebel davon. Er ist inzwischen über 80 Jahre alt, hält die Krankheiten, Depressionen und Vorwürfe seiner Frau nicht mehr aus. Auf der Fahrt zieht er sich eine Lungenentzündung zu und stirbt im Bahnhofswärterhäuschen von Astapowo. Während die Weltpresse ihn umringt, wird seine Frau nicht zu ihm vorgelassen. Tolstoi stirbt, ohne Sonja wiedergesehen zu haben. 

Zwei Schreibtische im Schwarzen Raum

Geschickt arrangierte die Dramaturgin und Übersetzerin Andrea Clemen Auszüge aus den Tagebüchern zu einem dramatischen Dialog zweier Liebender, die an ihrer Unfähigkeit, sich gegenseitig zu verstehen, scheitern.

Kaspar Harlan und Kerstin Wittstamm bringen den hochdramatischen Stoff nicht als reine Lesung auf die Bühne, sondern wagen sich an eine theatralische Umsetzung. In einer Mischung aus Lesung und Spielszenen bringen sie die zerstörerische Liebe von Tolstoi und Sonja dem Publikum so nahe, dass es tiefe intime Einblicke in den quälenden Alltag gewinnen kann.

Schon das Bühnenarrangement symbolisiert die Ferne der beiden: ein schwarz ausgekleideter Raum, in dem - weit entfernt voneinander - zwei Schreibtische stehen. Tolstois Schreibtisch ist bedeckt von Büchern. Wie eine Mauer stehen und liegen sie vor ihm und hinter ihm im Regal.

Der Schreibtisch von Sonja steht im leeren Raum. Dahinter gibt es nur das Schwarz des Vorhanges. Auf dem Tisch liegen Hefte und Mappen sowie eine silberne Schreibfeder nebst Halter. Lediglich eine kleine Lampe bringt ein wenig Licht auf den Tisch.

Nur in wenigen Momenten begegnen sich die beiden direkt, in der Mitte des Raums. Im leeren, lediglich vom Schwarz der Vorhänge umhüllten Raum. Doch schnell kehren beide wieder an ihre Schreibtische, in ihren eigenen Kosmos zurück. 

Kaspar Harlan als Tolstoi gelingt es souverän, die philosophischen Überlegungen ebenso überzeugend zu transportieren wie die emotionalen Ausbrüche. Die Verzweiflung und Hilflosigkeit des alternden Tolstois wird ebenso spürbar wie der ungebrochene Drang nach Sinnfindung und politischer Betätigung.

Kerstin Wittstamm interpretiert die junge Sonja als kindlich schmachtendes, naiv liebendes Mädchen, die glaubt, dass allein die Liebe zu "dem Genie" reicht, um ihn auf ewig an sich zu binden. Liegt es an moderner Skepsis gegenüber einer derart naiven Liebe, dass die junge Sonja nicht recht lebendig werden will?

Im zweiten Teil, als die ältere Sonja immer mehr in Bitterkeit und Verzweiflung versinkt, gelingt es Kerstin Wittstamm jedoch, beim Publikum tiefes Mitgefühl für diese leidende Frau auszulösen. Sie macht den Wechsel zwischen Euphorie und Verzweiflung, zwischen Hoffnung und Enttäuschung, Hass und bitterlichen Vorwürfen in all ihren Facetten sicht- und spürbar.

Insgesamt ein beeindruckender Theaterabend, der viel Stoff zum Nachdenken  über die ewige Suche nach Glück und Liebe hinterlässt. Nicht zuletzt gibt die Tagebuch-Collage tiefe Einblicke in die philosophischen und politischen Entwicklungsprozesse Tolstois sowie seine (vergeblichen?) Bemühungen, den eigenen Maximen gerecht zu werden. 

Übrigens: die samte Tagebuch-Collage ist als Hörspiel bei youtube nachzuhören - click hier!





2015-06-21 ; von Angelika Blank (autor),
in Klein Witzeetze, 29482 Küsten, Deutschland

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