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"Niklas" beschert lange Bahnfahrt mit Gitarre und Kettensäge

Wer am Mittwoch in Hamburg mit dem Flieger gen Moskau startete, hatte eine kürzere Reisedauer vor sich als Bahnpassagiere, die am Nachmittag mit dem „erixx“ von Lüneburg nach Dannenberg wollten. Die russische Metropole war nach vier Stunden in der Luft erreicht, die Jeetzelstadt auf der Schiene erst nach fünf. „Niklas“ hieß der Schuldige: Der Sturm hatte mehrmals Bäume auf die Strecke geworfen.

Puh! Ohne allzu schlimme Verspätung per Bahn aus Hamburg oder Hannover nach Lüneburg gekommen, ein kurzer Sprint noch zur Westseite – aus der Puste, aber glücklich über den bisherigen Fahrtverlauf. Trotz des Sturmes die Wendlandbahn rechtzeitig erreicht. Gleich fährt er los, der an diesem Tag vorletzte erixx nach Dannenberg. Zeit zum Verschnaufen und zum Denken an die bedauernswerten Bahnkunden, die an den Großstadtbahnhöfen wegen des im Lande wütenden „Niklas“ hören mussten: Zugausfall, Zugausfall,.Verspätung, lange Verspätung.....

Der erixx hat noch ein paar Minuten gewartet auf eine Anschlusszug, gut so, Dann setzt sich die weißblaugelbe Bahn in Trab, in einer Stunde und sieben Minuten endet ihre Fahrt am Bahnhof Dannenberg Ost. So soll es sein.

erixx gut frequentiert

Der Zug ist nicht voll, aber recht gut besucht. Gruppen, Paare, ein paar Einzelreisende, mit Rucksäcken, Papiertüten eines Klamotten-Billiganbieters, zwei nach Büromensch aussehende Männer mit Laptoptaschen, eine Frau mit umhüllter Gitarre, zwei gut gelaunte Männer mit heimlich gebunkertem Bier (Alkoholverbot im erixx!).

Sie alle wollen nun irgendwo aussteigen, ganz nah in Vastorf vielleicht, in der Streckenmitte bei Dahlenburg, spätestens in Dannenberg. Aber sie alle ahnen noch nicht, dass ihre Fahrt länger dauern wird als etwa eine Flugreise von Hamburg nach Moskau. Denn sie können noch nicht wissen, dass Niklas ihren Feierabendplänen kräftig was pusten wird.

Ein Baum! - Kraftmeyer wollen ihn wegziehen

Besonders kräftig hat er zwischen Bavendorf und Dahlenburg gepustet, hat einen Baum entwurzelt, der nun quer über den Schienen liegt. Bremsen, halten. „Ach, den packen wir, den ziehn wir wieder in den Wald“, ruft ein Mann vom Format „ich sprenge alle Ketten“. Klar, kommentieren weitere Kraftmeyer. Auch eine junge Frau möchte dabei sein: Schließlich sei sie bei der Feuerwehr! Die meisten Fahrgäste bleiben sitzen, harren der Dinge.

Nix für Hulk und Herkules

Doch die Ruck-Zuck-Räumaktion bleibt Wunschdenken. Der Blick auf den doch ziemlich dicken Baum, und auf seinen gewaltigen, von Niklas ausgerissenen Wurzelkomplex lässt auch die Mutigsten folgern: Hier muss die Säge ran! Das ist das Eine, das Andere: Selbst wenn ein Herkules oder Hulk den Stamm hätte wegschaffen können, er hätte nicht gedurft. Der Zugführer darf die Leute auf freier Strecke aus Sicherheitsgründen nicht nach draußen lassen, und: Ohne Genehmigung der Bahn hätte er, auch wenn der Baum verschwunden wäre, nicht einfach weiterfahren dürfen.

Es ist warm, hell, und es gibt ein Klo

Langsam wird’s unruhig. Wie lange noch? Kommt die Feuerwehr? Wann geht’s weiter? Ich habe noch eine Verabredung! Der Fahrer telefoniert per Funk nach Lösungen. Warten auf Antwort. Trost: Es ist warm im Zug, hell, und es gibt ein Klo. Zudem ein recht geräumiges und komfortables im erixx, vergleicht man es mit anderen Zugtoiletten. Noch bleiben viele Passagiere ganz in sich gekehrt. Hacken auf dem Laptop, lesen, schlummern, hören irgendwas aus Stöpseln in den Ohren.

"...dann bringt uns die Feuerwehr Brühe"

Nach und nach siegt bei einigen die Neugier über das stoische Verharren, Sie schlendern zur Fahrerstand, begucken das Hindernis. Immer mehr „tauen auf“, erzählen, wo sie waren, wohin sie wollen. Nach und nach entsteht so etwas wie eine kleine „Schicksalsgemeinschaft“. „Und bei welcher Feuerwehr bist du, ich bin...“ „Was wohl meine Kinder denken...ich hab ihnen doch versprochen, früh bei ihnen zu sein!“ „Wartet bei ihnen auch wer?“ „Jetzt kann ich heute Abend nicht für meinen Freund kochen!“ „Ich habe eigentlich meinen Rotkreuzabend!“ Geteiltes Leid ist halbes Leid. Auch der Mut zum Schimpfen wächst, das erleichtert. „In diesem Kaff hat man nicht mal Handy-Empfang“ „Hier müsste in jedem Zug eine Kettensäge liegen!“ „Wenn wir hier bloß was zu trinken haben könnten!“ „Oooch, wenn wir erst mal ein paar Stunden hier festsitzen, bringt uns die Feuerwehr Würstchen und Brühe“, will ein Mann beschwichtigen – erntet aber bloß bange Blicke: „Meinen sie – soo lange werden wir....?“

In Bavendorf sollen Busse kommen

Dann endlich die erlösende Nachricht vom Zugführer, er hat seinen Auftrag bekommen: Der Zug soll zurück fahren bis Bavendorf. Dorthin würden Busse bestellt,die führen dann nach und nach alle Bahnhöfe an – bis Dannenberg. Aber: Wann diese Busse kommen, das sei völlig ungewiss.

Langsam geht’s zurück nach Bavendorf. Wer will, kann dort im Zug bleiben bis dass die Busse eintreffen. Aber fast alle steigen aus. Regen peitscht, Niklas bläst unvermindert. Einige flüchten schon aus der Kälte wieder in den Zug. Ein Grüppchen verharrt, steht an der Straße, und als ein Auto mit DAN-Kennzeichen naht, lässt jemand den Winkefinger wackeln macht auf Anhalter. Das Auto ignoriert das Signal. Weiter frieren.

Alternative: Zurück nach Lüneburg

Wann die Busse kommen?Nach wie vor liegt das im Dunklen. Nach wie vor ungewiss, vermeldet der Zugführer, und: Er müsse wieder zurück nach Lüneburg, dort die Passagiere für die letzte Fahrt nach Dannenberg abholen, die ja um 20.40 Uhr starten soll dort, nun aber etwas später. .Wer wolle, könne ja mit zurück und dann wieder aufs Neue in Richtung Dannenberg starten. Ein Räumtrupp der Bahn habe den Baum vor Dahlenburg inzwischen beseitigt. Besser als hier draußen zittern, wer weiß, wann der Bus kommt?“ entscheidet ein Teil der Wartenden, steigt wieder in den erixx. Die anderen hoffen draußen auf die Busse.

Und da liegt schon der nächste Baum

Abfahrt nach Lüneburg. Die Strecke dorthin war ja frei. War. „Nein, nicht schon wieder“, ruft jemand, als der Zug plötzlich erneut auf freier Strecke bremst. Wieder ein Baum. Glück im Unglück: Die Männer, die eben noch vor Dahlenburg das Hindernis entfernt haben, sind noch nicht weit weg, werden nun zu Hindernis Nummer zwei beordert.

Stoff für eine Story mit Werwolf

Wieder warten. Irgendwann ein Lichtschein, weit hinten im Wald. Die Befreier stiefeln heran! Ein Schriftsteller unter den Fahrgästen fabuliert sogleich: Eine Superstory könnte man aus der Sache machen, Arbeitstitel „Nachts auf der Wendlandbahn“ oder so. Ganz unheimlich, mit ein bisschen Crime. „Ein Wolf darf darin nicht fehlen“, ergänzt ein anderer Fahrgast. Das sei aktuell, das gehöre zu dieser Gegend, sagt er und heult wie Isegrim durch die Spitze des Zuges, wo sich einige Wartende versammelt haben. „Dann aber ein Wolfsman – ein Werwolf“, schlägt der Literat vor. Draußen heult Niklas, und die Kettensäge kreischt: Der Baum ist weg – freie Fahrt! Wie lange?

Glücklich in Lüneburg- Neustart

Dieses Mal scheint's gut zu gehen.Irgendwann nach 21 Uhr landet Erixx in Lüneburg-West, dort verharren seit 20.40 Uhr die Fahrgäste der letzten Wendlandbahn dieses Mittwochs. Sie gesellen sich zu denen, die schon kurz vor 19 Uhr in Dannenberg sein wollten und nun erzählen, was sie bisher erlebt haben.

Gute Stimmung an Bord

Diesmal geht’s flott, jetzt sind alle Bäume weg, die Stimmung an Bord ist gut, lebendig. Nur ganz wenige gucken mürrisch, ansonsten geht’s recht lebendig zu. Kinder sind nun mit im erixx, zwei Jungen um die neun balgen sich, die fröhlichen Gesellen mit dem Bier (jetzt ohne Bier) sind nach wie vor guten Muts, nehmen das Ganze – man ist seit etwa vier Stunden im Zug – gelassen, und einer von ihnen wiegt sich im Takt (will er tanzen?), als die Frau mit der Gitarre („Hab ich mir heute in Hamburg gekauft“) zu spielen beginnt.

Lustige Lieder, Heine und Brunnenästhetik

Sie singt Lieder mit lustigen Texten, gern hört man zu. Ein Senior, ganz in Schwarz mit rotem Momper-Schal philosophiert aus aktuellem Anlass über den Wert der Geduld und der Gelassenheit. Er habe in wenigen Stunden Geburtstag, verrät er. „Andere feiern 'rein – ich fahre eben ins neue Lebensjahr, denn wer weiß, wie lange wir hier noch zusammen sind!“ sagt er, zitiert aus Heinrich Heines Belsazar „die Mitternacht zieht näher schon...“ - es ist aber erst circa 22 Uhr - und vertieft sich wieder in ein Buch über Ästhetik in der Brunnenkultur.

Percussion auf der Buchablage

Nicht lange, denn die Frau mit der Gitarre singt wieder ein nettes Lied, wieder gut zum Zuhören und Mitsummen. Und sie bekommt Unterstützung: Der Literat mit der Wolfsgeschichte entpuppt sich auch als Musiker, begleitet das Zupfinstrument mit Percussion, mit Rhythmen auf Buchablage und Sitzlehnen im erixx, situatives Improvisieren! Und singen kann er auch. Sein „Malaguena“ hört sich gut an. Ziemlich atonal klingt eine Melodie, die zugleich aus dem Nachbarwagen herüberdringt aus Richtung der beiden gut gelaunten Gesellen.

Leichter Windwurf ist rasch weg

Gute Laune hier wie dort. Die endet schlagartig in langen Gesichtern, als erneut eine Bremsung vonnöten ist. Für die Erstpassagiere Baum Nummer drei, für die Neuen der erste. Doch es ist eher Gestrüpp, schnell weggeräumt. Wenig später „Nummer vier“, auch das eher harmloser „Windwurf“, rasch fortzuschaffen.

Bavendorf: Buspassagiere sind jetzt fort

Unterwegs wird natürlich auch wieder Bavndorf passiert – und gespannt spekulieren die „Erstfahrgäste“, ob denn ihre Schicksalgefährten, die auf Busse warten wollten, noch immer in der Kälte bibbern, oder? Nein, sie waren inzwischen tatsächlich via Bus davon gekommen.

"Doch ein ganz nettes Erlebnis"

Ein mulmiges Gefühl bleibt bis zum ende der Fahrt. Wann kommt der nächste Stamm, Ast, Zweig? Nein, sowas kommt nicht mehr. Aber erst ganz kurz vor Hitzacker, ihrem Ziel, zieht die Frau mit der Gitarre die Hülle über ihr Instrument. Es hat mit seiner Premiere mit dazu beigetragen, dass am Ende der langen Fahrt sogar Kommentare zu hören waren wie „Irgendwie war das doch ein ganz nettes Erlebnis!“

Lieber Zugführer: Dankeschön!

Das endete dann damit, dass der freundliche, Zugfahrer auf Dannenberg Ost bei den Passagieren für die Geschehnisse um Entschuldigung bat. Aber bitteschön – entschuldigen müsste sich allenfalls „Niklas“. Dem Mann am Fahrschalter gebührt kein Zorn für die Verspätung, sondern Dank für seine Freundlichkeit, seine Geduld beim Antworten auf die vielen Fragen der ungeduldiger Fahrgäste (auch einige ungeduldige dabei)und dafür, dass er sie alle umsichtig und sicher nach Hause gebracht hat. Hagen Jung

Foto: Zwischen Bavendorf und Dahlenburg hatte Sturm Niklas einen Baum auf die Schienen geworfen. Foto: Hagen Jung




2015-04-01 ; von Hagen Jung (autor), auf lokales
in Dannenberg (Elbe), Deutschland

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