40 Jahre Protest gegen Gorleben haben das Wendland verändert

1977 sah das Wendland noch anders aus. Konservative Landwirte und Politiker hatten den Landkreis fest in der Hand. "Alternative" gab es nur wenige und wurden misstrauisch beäugt. Seit der Benennung Gorlebens als Standort für ein Atommüll-Endlager hat sich die Region grundlegend verändert.


Demo in Lüchow


Lüchow-Dannenberg, was 1977 lediglich ein Zipfel an der DDR-Grenze im östlichen Niedersachsen war, ist bis heute dünn besiedelt. Im Jahr der Standortbenennung war nicht nur die Bevölkerung mehrheitlich konservativ eingestellt. Der Oberkreisdirektor (Wilhelm Paasche) war ein Jurist, der bei den Nationalsozialisten hohe Funktionen bekleidet hatte. Im Kreistag hatte die CDU die absolute Mehrheit. Massiven Widerstand erwartete hier niemand. Für Bundes- und Landespolitiker also der ideale Ort, hier ein Nukleares Entsorgungszentrum (NEZ) einrichten zu wollen.

Wie es genau zu der Entscheidung für Gorleben kam, ist bis heute umstritten. Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss beschäftigte sich mit dem Thema, ob Gorleben aus rein wissenschaftlichen Kriterien oder aus politischen Gründen ausgewählt worden ist.  Ein eindeutiges Ergebnis hat auch dieser Ausschuss nicht gebracht. Gorleben-Gegner sahen sich in ihrer Meinung bestätigt, dass politische Gründe für die Auswahl zugrunde gelegt worden waren. Die CDU kam zu dem Schluss, dass der Salzstock aus wissenschaftlichen Gründen ausgewählt wurde.

Aktenrecherchen haben ergeben, dass der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt, sich noch kurz vor der Standortbenennung gegen Gorleben ausgesprochen hatte. Deshalb kam die Standortbenennung durch Ministerpräsident Ernst Albrecht am 22. Februar 1977 für viele überraschend.

Aus den Tagebüchern von Walther Leisler Kiep geht hervor, dass er erstmals Gorleben bei einer Bonner Ministerrunde (1976) ins Gespräch gebracht habe: „Hier gelingt es mir, Lüchow-Dannenberg als vierte Möglichkeit aufnehmen zu lassen“. Nach dem Treffen sei Ministerpräsident Albrecht – zur Überraschung seiner Kollegen – ernsthaft bereit gewesen, einen Standort für ein NEZ in Niedersachsen zu benennen. (Quelle: Gorleben-Archiv / Aktenrecherche durch Karl-Friedrich Kassel)

Flachbohrungen - Ende der 70er Jahre

Inwieweit ein gigantischer Brand, der im Jahre 1975 eine Fläche von 2000 Hektar Wald zwischen Gorleben und Trebel zerstörte, diese Entscheidung zusätzlich beeinflusst hatte, bleibt offen. Die Tatsache, dass in diesem abgebrannten Waldstück 1980 die erste Tiefbohrstelle zur Untersuchung des Salzstocks geplant war, nährt bis heute Verschwörungstheorien, dass der Brand absichtlich gelegt worden war.

Blühende Landschaften durch das Nukleare Entsorgungszentrum

Die damaligen - wie gesagt mehrheitlich konservativen - Kommunalpolitiker sahen in dem Großprojekt ihre Chance, die ewig roten Zahlen in ihren Haushalten zu eliminieren und die Region gar in eine blühende Zukunft führen zu können. Nach dem ehemalitgen Oberkreisdirektor Wilhelm Paasche (1962 - 1978) rechnete man damals mit 3600 neuen Arbeitsplätzen und durch Familiennachzug sowie Auswirkungen auf die regionale Wirtschaft gar mit "15 000 bis 20 000 Menschen, für die zusätzlich Lohn und Brot bereit gestanden hätte." 

Dementsprechend waren die Kommunalpolitiker mit den Ansiedlungsplänen ganz einverstanden - vorausgesetzt, die Entschädigungszahlungen stimmten. Wie der damalige Oberkreisdirektor Klaus Poggendorf in seinem Buch "Gorleben - der Streit um die nukleare Entsorung und der Zukunft der Region", beschreibt, wurde hart verhandelt, um möglichst hohe Entschädigungszahlungen herauszuholen - verknüpft mit der Drohung, die Zustimmungen für den Bau zu verweigern, sollten Bund, Land und Betreiber ihren Forderungen nicht nachkommen.

Millionengelder sind seitdem in den Landkreis geflossen - ergänzt durch üppige persönliche Zuwendungen an diverse Bürgermeister aus den "Standortgemeinden". Fünfstellige Summen werden da von Verwandten und Bekannten verschiedener Kommunalpolitiker genannt, Einladungen zu üppigen Dinners und teure Urlaubsreisen inklusive. Wer sich bedroht fühlte, bekam gar einen ausgebildeten Schäferhund zur Verfügung gestellt, um sich besser schützen zu können.

Die Menschen des Gorleben-Widerstands

Auf der anderen Seite hatte sich schon vor der Standortbenennung eine kleine Gruppe gefunden, die von den Atommüll-Entsorgungsplänen gehört hatte und dementsprechend wachsam war. Von Gorleben war 1972 allerdings noch keine Rede - aber von Langendorf an der Elbe.

Kontakte zur Friedensbewegung und anderen Anti-Atomgruppen bestanden bereits und so nahm der Widerstand schnell Fahrt auf. Neben Landwirten, die nukleare Verstrahlung ihrer Ernten fürchteten, waren es BürgerInnen des Landkreises, die intensiv auf die Gefahren der Atomkraft hinweisen wollten. Die "Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg" (BI) gründete sich und hatte bald hunderte Mitglieder. Hausfrauen, Auszubildende oder Lehrerinnen  waren die ersten Protagonisten der BI.

Wie zum Beispiel Lilo Wollny : als Hausfrau und Mutter von fünf Kindern wurde sie - nach Selbstaussagen - aus dem " Schlaf gerissen, als Albrecht den Standort verkündete und engagierte sich in der neu gegründeten BI. Sie wurde eine ihrer ersten Vorsitzenden und zog 1987 als Parteilose für die Grünen in den Bundestag.

Oder Marianne Fritzen: die katholische Französischlehrerin (und ebenfalls Mutter von fünf eigenen und zwei Stiefkindern) war ebenfalls eine Mitstreiterin der ersten Stunde, langjährige BI-Vorsitzende und später Kreistagsabgeordnete und Bürgermeisterin der Stadt Lüchow. Inzwischen ist die kleine Frau, die keine Scheu davor hatte, sich mit Polizei-Hundertschaften anzulegen, gestorben.

Oder Rebecca Harms: 1980 war sie als 24-jährige Landschaftsgärtnerin eine der MitinitiatorInnen des Hüttendorfes auf dem Bohrplatz 1004. Auch sie eine der BI-Vorsitzenden. Die ersten Jahre des Gorleben-Widerstands haben sie so geprägt, dass sie den Kampf für ihre Heimat nie aufgegeben hat. 1994 entschied sie sich, den Kampf für ein "atomfreies Wendland" politisch fortzusetzen. Sie zog als Grüne in den Niedersächsischen Landtag ein, wurde dort bald Fraktionsvorsitzende und wechselte dann 2004 in das Europaparlament.


Nicht zu vergessen Andreas Graf von Bernstorff, dem die größte Fläche über dem Salzstock Gorleben gehört. Er gab im Juli 1978 bekannt, dass er das Kauf-Angebot der Atomwirtschaft von über 26 Millionen Mark ablehnen wird. Da seine Flächen über einem Teil des Salzstocks liegen, der zum geplanten Einlagerungsbereich gehört, gilt er als zentrale Figur im Schachspiel "Endlager-Gorleben". Immer wieder muss er sich seit seiner Weigerung, zu verkaufen, damit auseinandersetzen, dass ihm mit Enteignung gedroht wird.

Bauern im Betonklotz - Castortransport 2005

Gewaltfrei sollte der Widerstand sein, kreativ und von öffentlichkeitswirksamen Aktionen geprägt. Die "Theaterwehr Brandheide" gründete sich und zog mit sarkatischen Stücken durch die Lande. Die wendländische Filmkooperative drehte zwischen 1975 und 1999 sechs Filme, die sich unter verschiedenen Aspekten mit dem wendländischen Gorleben-Widerstand beschäftigen.

Zuerst war es hauptsächlich die Sorge um ökologische und gesundheitliche Schäden, die durch austretende Radioaktivität entstehen könnten. Im Laufe der Jahre richtete sich der Protest auch zunehmend gegen eine intransparente Politik, die die Bevölkerung vor vollendete Tatsachen stellen wollte. Die Bürger fühlten sich ausgeschlossen von Verhandlungen die "im Hinterzimmer" stattfanden. Diverse Verschleierungsversuche durch Politik und Betreiber nährten zusätzlich Skepsis und Misstrauen gegen die "Atompläne für Gorleben".

Der Bürgerprotest im Wendland war wohl nach den erfolgreichen massiven Protesten am geplanten Atomkraftwerk in Wyhl (Baden-Württemberg) eine der ersten großen Bürgerbewegungen, die sich konkret gegen ein Bauprojekt wandten. Zumindest ist der wendländische Widerstand bis heute der Hartnäckigste. Erst 1985 begann der Protest gegen die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf. Auch diese Pläne wurden später eingestellt.

"Eine schwache Minderheit verunsichert die Bevölkerung"

Für den damaligen Oberkreisdirektor Wilhelm Paasche war Gorleben-Gegner eine "schwache Minderheit", die mit irreführenden Informationen die Bevölkerung verunsicherte. Zugezogene und Auswärtige würden den Widerstand dominieren, so Paasche. Die Atomgegner hätten die Bevölkerung des Wendlands unter "konzentrierten Beschuss" genommen, heißt es in seinem Aufsatz in "Hannoversches Wendland", einer Veröffentlichung der Landeszentrale für politische Bildung.

Und weiter heißt es dort: "Insbesondere eine offenbar gelenkte Überschwemmung der Lokalzeitung mit skeptischen Leserbriefen, Inserate von skeptischen Angehörigen einzelner Berufsgruppen, ständige Informationsveranstaltungen der "Bürgerinitiative Umweltschutz" und eine skeptische Berichterstattung der Lokalzeitung verfehlten neben den vielfältigen Demonstrationsveranstaltungen mit meist ganz überwiegend auswärtigem Teilnehmerkreis ihre Wirkung auf die Bevölkerung des Landkreises nicht." 

Für Paasche war es ausgemachte Sache, "daß alle Feinde unserer Gesellschaft sich sehr stark für den Kampf gegen die Atomenergie engagieren. Sie alle erhoffen, den Zusammenbruch unseres freiheitlichen Systems aus der Notlage großer Arbeitslosenzahlen."

Und über den Schriftsteller Hans-Christoph Buch, der damals das Buch "Bericht aus dem Innern der Unruhe - Gorleber Tagebuch" verfasst hatte, schreibt Paasche: "Aber auch die Anhänger anderer unserer Ordnung feindlicher Richtungen, die sich ja in Westdeutschland bekanntlich vor allem aus Vertretern der Intelligenz rekrutieren, sehen in dem Widerstand gegen die Kernenergie ein hervorragendes Mittel zur Erreichung ihrer Ziele. Ein an der Organisation der Aktivitäten der hiesigen Bürgerinitiativen hervorragend beteiligter Mann (Buch) hat inzwischen ein Buch veröffentlicht, das er "Bericht aus dem Innern der Unruhe - Gorleber Tagebuch" nennt. "Aus dem Inhalt ergibt sich eindeutig, daß sich der Verfasser und andere in den Bürgerinitiativen tätige Gesinnungsgenossen als Nachfolger und Fortentwickler der früheren APO und der deutschen Terrorszene verstehen."

Eine ähnliche Meinung über die Gorlebengegner herrschte bei vielen Politikern. "Unappetitliches Pack" nannte Bundesinnenminister Kanther die Demonstranten während des Castor-Transports im Frühjahr 1996.

Das Ende der freien Republik

Die Räumung des im Mai 1980 entstandenen Hüttendorfs "1004" verstärkte die Wut der Gorleben-Gegner zusätzlich. Bis 1987 hatte sich die Stimmung im Landkreis so aufgeschaukelt, dass Gegner und -Befürworter sich gegenseitig mit tiefem Hass begegneten. Während die Gorleben-Gegner von Bestechung, Bespitzelung und andauernden Kriminalisierungsversuchen sprachen, warfen Polizei, Verfassungsschutz und letztendlich auch die Betreiber den Demonstranten Gewaltbereitschaft und Verfassungsfeindlichkeit vor.

Hausdurchsuchungen, Verhaftungen bei Castortransporten und Ermittlungen nach § 129a (Mitglied in einer terroristischen Vereinigung) waren an der Tagesordnung. Das Plakat für den ersten "Tag X", welches nach Ansicht der Polizei zur Sabotage an Bahnschienen aufrief, konnte nur veröffentlicht werden, weil Joseph Beuys es durch seine Unterschrift zum Kunstwerk machte.

Nicht zu vergessen: die Jahre 1972 bis 1977 waren bundesweit geprägt von Hysterie, da die Rote Armee Fraktion (RAF) immer wieder mit Anschlägen versuchte, die starre Gesellschaftsordnung aufzubrechen und die Bundesregierung unter Druck zu setzen. Rasterfahndungen, Notstandsgesetze und Berufsverbote waren die Themen in den Jahren. In den Universitäten prägten zu der Zeit ehemalige Nationalsozialisten die Wissenschaft, arbeiteten als Professoren und Dozenten.

Auch in den wendländischen Gremien saßen immer noch Verwaltungsbeamte und Politiker, die in der Nazizeit herausragende Positionen hatten. Wie z.B. der oben genannte Oberkreisdirektor Wilhelm Paasche. Er betätigte sich nach Quellen des Heimatkundlichen Arbeitskreises (veröffentlicht im Wendland-Lexikon) seit 1931 aktiv in der national-sozialistischen Bewegung, baute nationalsozialistische Jugendorganisationen auf. Paasche übernahm im Kreis Preußisch Eylau im Mai 1936 die Leitung des NS-Kreisschulungsamtes, später die des Kreisamtes für Kommunalpolitik, und war seit 1.1.1938 Leiter der Organisationsstelle der Reichsstudenten-führung der NSDAP.  Nach dem Krieg zunächst aus allen öffentlichen Ämtern verbannt, gelang dem Juristen auf Umwegen wieder der Weg in die Verwaltungen, bis er 1962 Oberkreisdirektor des Landkreises wurde. 

Die Frage "Bist du für oder gegen Gorleben?" stand am Anfang so mancher Beziehung - welche dann sehr schnell endete, wenn die Antwort "falsch" ausfiel. Das betraf Arbeitsgruppen genauso wie private Beziehungen. So manche Familie hatte heftige innere Kämpfe auszustehen. Wie zum Beispiel die Familie Grill. Der Vater, Klaus-Dieter Grill, war als CDU-Abgeordneter im Kreistag herausragend an allen Verhandlungen über Entschädigungszahlungen beteiligt - sein Sohn wurde später aktiver Gorlebengegner.

Der spätere Oberkreisdirektor Klaus Poggendorf gab Anfang der 90er Jahre noch eine interne Anweisung heraus, nach der niemand aus der Verwaltung mit dem Vorläufer der heutigen "Kulturellen Landpartie", damals "Wunde.r.punkte", zusammen arbeiten durfte. Umgekehrt durfte die Organisation der Kulturveranstaltung nicht mit der Kreisverwaltung zusammenarbeiten, weil man "Vereinnahmung" befürchtete. Nur durch "geheime" Besprechungen war es möglich, dass wenigstens die Programmhefte in die touristische Bewerbung des Landkreises aufgenommen wurden.

Die Stimmung im Landkreis war von gegenseitigem Misstrauen und Generalverdacht geprägt. Nachbarn gingen auf die andere Straßenseite, Gorleben-Befürworter mussten befürchten, dass ihnen Gülle vor die Haustür geschüttet wurde und Gorleben-Gegner sahen sich ständigen Anfeindungen ausgesetzt. In Schulen und öffentlicher Verwaltung wurde niemand eingestellt, der sich zum Gorleben-Widerstand bekannte.

Das Wendland hat sich gewandelt

Die "schwache Minderheit", als die Oberkreisdirektor Paasche damals den Gorleben-Widerstand sah, entpuppte sich im Laufe der mittlerweile 40 Jahre als zähe und kreative Menge, die von Jahr zu Jahr zunahm.

Der "Gorleben-Treck" 1979, bei dem Gorlebengegner aus dem Wendland mit über 500 Traktoren nach Hannover zogen, wurde zur größten Demonstration, die Hannover bis dato erlebt hatte. 100 000 Menschen fanden sich im März in der Innenstadt von Hannover, um dort gegen Atomkraft zu demonstrieren. Ein Reaktorunfall im amerikanischen Harrisburg hatte kurz vorher viele Menschen aufgeschreckt.

Folge des massiven Protestes: Ministerpräsident Ernst Albrecht begrub das Projekt "Nukleares Entsorgungszentrum" nur wenige Wochen nach dem Treck mit der Begründung, dass dieses "politisch nicht durchsetzbar" sei. Ein erster großer Erfolg für den wendländischen Widerstand.

Die Gründung der Grünen und ihr Einzug in den Bundestag (1983), das Erstarken der Friedensbewegung und letztendlich auch der Atomausstieg hatten ihren Nährboden zumindest indirekt in der starken Anti-Gorleben-Bewegung. Im Wendland wurde bewiesen, was langjähriger Bürgerprotest bewirken kann, wenn er kreativ und ausdauernd geführt wird.

Im Wendland ist man sich dieser Bedeutung nur teilweise bewusst. Nach dem Ende der Castortransporte begannen zermürbende Diskussionen über die Rolle des Widerstands. Aber spätestens seit Beginn der "bunten" Ära in der Kreisverwaltung im Jahre 1998, bei der die CDU ihre Mehrheit verlor, hat die Spaltung der Bevölkerung nachgelassen.

Energiewende im Wendland

Seit über 20 Jahren haben grün-bunte Fraktionen die Mehrheit im Kreistag. Längst arbeiten Gorleben-Gegner auch in den Verwaltungen.   Es steht - zumindest meistens - nicht mehr im Vordergrund, ob jemand Befürworter oder Gegner der Endlagerpläne ist und ehemals Verfeindete arbeiten gemeinsam an Projekten, die allerdings nichts mit "Gorleben" zu tun haben.

Wie zum Beispiel der 1998 gefasste Beschluss, den Landkreis mittelfristig zu 100 % aus regional produzierten regenerativen Energien zu versorgen. Zunächst eine Initiative der grün-bunten Mehrheit im Kreistag engagierten sich mit zunehmendem wirtschaftlichen Erfolg auch konservative Kreise. Biogas- und Windkraftanlagen entstanden, so dass bereits seit einigen Jahren der private Stromverbrauch zu mehr als 100 % aus regionalen Quellen kommt.

Hier deutet sich allerdings eine neue Konfliktlinie an. Ob Atomkraftgegner oder -befürworter - neuerdings gibt es einen gemeinsamen Feind: Windkraftanlagen. Die meisten wollen zwar erneuerbare Energiequellen als Schwerpunkt der Energieversorgung, aber Windkraft? Nein Danke! Da treffen sich die Feinde von einst.

Der neue Slogan: Natürlich kreativ

Der Landkreis ist bunter geworden in all den Jahren. Mehr als 200 Kulturschaffende haben sich in Folge des Gorleben-Widerstands im Landkreis angesiedelt, beleben die Region mit unzähligen Kulturveranstaltungen. Eine professionelle Theatergruppe (Freie Bühne Wendland) hat sich gegründet. Zahlreiche Veranstaltungsorte bieten monatlich ein Kulturprogramm, wie es so manche größere Stadt nicht zu bieten hat.

Allen voran die "kulturelle Landpartie" (KLP), die längst der Schmuddelecke entwachsen ist und heute von den Tourismuszuständigen als wichtigster Werbeträger für den Landkreis genutzt wird. Selbst der neue Werbe-Slogan "Natürlich kreativ" bezieht sich auf die zahlreichen Kulturschaffenden - die mit großer Mehrheit Gorleben-Gegner sind. Nicht unbedingt zur Freude der aktuellen KLP-Aktiven, die zwanghaft Jahr für Jahr ihre politischen Wurzeln im Gorleben-Widerstand betonen müssen.

Die rund 50 000 Menschen, die alljährlich diese inzwischen zur Großveranstaltung mutierte Veranstaltungsreihe besuchen, interessiert das allerdings nur am Rande. Sie begeistern sich für ursprüngliche Fachwerkhäuser, schöne Gärten und die Vielfalt der zahlreichen Kunsthandwerker und Künstler.

Ohne den langjährigen Protest gegen das "Atomklo Gorleben" wäre dieser Landkreis nicht so bunt und liberal, wie er sich heute darstellt. Bei den Veranstaltungen der Bürgerinitiative Umweltschutz finden sich zwar nach dem Ende der Castortransporte längst nicht mehr so viele Demonstranten ein wie früher. Aber in einem Punkt sind alle überzeugt: Sollte Gorleben tatsächlich zum Endlagerstandort werden, dann wird der Widerstand genauso stark sein wie vor 40 Jahren. Auch wenn dann die nächsten Generationen übernehmen müssen - die bei vielen Aktionstagen schon sichtbar sind. 

Unser Dank geht an Michael Bertram, der uns mit seinen Recherchen zu Wilhelm Paasche wichtige Anregungen geliefert hat.

Quellen: Klaus Poggendorf "Gorleben - der Streit um die nukleare Entsorung und der Zukunft der Region" / Beitrag von Wilhelm Paasche in der Schriftenreihe "Hannoversches Wendland" / Material aus dem Gorleben-Archiv.  

Fotos (Archiv): Roswitha Ziegler, Wendländische Filmkooperative



2017-02-20 ; von Angelika Blank (autor),
in 29475 Gorleben, Deutschland

endlager_gorleben   widerstand  

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