Thema: archäologie

Freie Republik Wendland: Die Vermessung der Widerstandsgeschichte hat begonnen

33 Tage lang lebten Gorlebengegner im Mai 1980 ihre Vorstellung von alternativem Leben - bis die Polizei das "Hüttendorf 1004" räumte. Der Archäologe Attila Dézsi will nun diesem bedeutsamen Ereignis der Protestgeschichte auf den Grund gehen.




Auf dem Tisch liegen Gasmasken, Blechdosen und eine Keramiktasse. Erste Funde, die der Archäologie Attila Dézsi im Wald zwischen Trebel und Gorleben gemacht hat. Dort war Ende der 70er Jahr der Bohrplatz 1004 vorgesehen, auf dem die ersten Erkundungen für ein Endlager im darunter gelegenen Salzstock durchgeführt werden sollten.


Vergangenen Donnerstag stellte Dézsi in den Trebeler Bauernstuben sein Forschungsprojekt und erste Ergebnisse vor.

Gegner des Endlagerprojektes machten den Planungen, im Gorlebener Wald einen Bohrplatz einzurichten, einen Strich durch die Rechnung: am 3. Mai 1980 zogen hunderte von ihnen auf das Bohrgelände, errichteten dort in Windesschnelle ein funktionierendes Dorf und lebten 33 Tage lang ihre Vorstellung von einem alternativen Leben.

Die unterschiedlichsten Bauweisen wurden dort - teilweise zum ersten Mal - ausprobiert. Holzhäuser mit Dachterrasse, Strohballenhäuser, Hütten aus Glasflaschen - "auf 1004" gab es viele neue Ansätze für alternative Architektur zu erleben - die später teilweise zur Basis ökologischen Bauens wurden. Das aus Holz gebaute Gemeinschaftshaus bot sogar Platz für 400 Menschen. Statisch durchgerechnet von Architekturstudenten hätte es wohl Chancen auf dauerhaften Bestand gehabt.



Aber auch in sozialer Hinsicht erprobten die "Hüttendörfler" neue Formen gemeinschaftlichen Lebens. Entscheidungen wurden nach Diskussionen mit allen Dorfbewohnern basidemokratisch getroffen. Das gemeinsame Leben war von den Prinzipien Solidarität, Freundschaft und gegenseitigem Respekt getragen.


Zeitzeugen lassen sich von Dezsi die Lage der Hütten erklären.


Es gibt also durchaus verschiedene Ansätze, das Ereignis "Hüttendorf 1004" auf soziologische oder architektonische Bedeutsamkeit zu untersuchen - ganz abgesehen von der Frage, inwieweit "1004" Auswirkungen auf den weiteren Verlauf der wendländischen - oder wahrscheinlich sogar der bundesdeutschen - Protestgeschichte hatte.

Mit seinem Forschungsprojekt will Attila Dézsi zu aktuellen gesellschaftlichen Diskursen beitragen. Denn für ihn ist die "zeitgenössische Archäologie", ein noch junger Zweig dieses Forschungbereichs, ein wichtiges Element, um auch jüngere gesellschaftliche Vorgänge wissenschaftlich einordnen zu können.

Die Faszination für das Leben "auf 1004" hält bis heute an. Das ist jedes Mal zu spüren, wenn man Menschen trifft, die damals dabei gewesen sind. "Du kannst dazu gar nichts sagen, du warst ja nicht dabei," ist ein Standardsatz, den jede/r zu hören bekommt, der es wagt, sich über "1004" zu äußern - ob positiv oder negativ.

Doch was machte die Faszination aus? War es die Freude zu sehen, dass die eigenen Ideen für eine neue Architektur funktionierten? Das Erleben einer Gesellschaft, die nach anderen Prinzipien funktionierte als "die Welt da draußen"? Hätten diese Prinzipien dauerhaft Bestand gehabt, wenn es nicht abrupt und gewalttätig zerstört worden wäre? Und nicht zuletzt: wie lebt es sich mit der ständigen Bedrohung, geräumt zu werden?

Attila Dézsi kann als Archäologe nur die Fakten erkunden, um die Bedingungen - und vielleicht auch Widersprüche - dieses gesellschaftlichen Zusammenlebens sichtbar zu machen. Was haben Konservendosen zum Beispiel auf einem Platz zu suchen, der sich ökologischen Kriterien verschrieben hatte? Wozu dienten die Gasmasken, die Dézsi gefunden hat?

Zunächst ging es um die genaue Verortung des Hüttendorfs im mittlerweile längst wieder zugewachsenen Wald von Gorleben. Auch wenn es noch Zeitzeugen gibt, die vom Hüttendorf berichten können - kein einziger dieser Zeitzeugen war in der Lage, im Gorleber Wald stehend,  zu sagen, wo eigentlich sich dieses Dorf befunden hat. Dezsi hat jede einzelne Hütte auf den Zentimeter genau verortet:  Fotos, Satelliten-, Filmaufnahmen und moderne GPS-Technik halfen dabei.



Im weiteren Verlauf der Forschungen werden dann, so berichtete Dézsi in Trebel, Fundstücke und Informationen in eine Datenbank eingepflegt. Diese Daten sollen dann öffentlich zur Verfügung stehen und so als Grundlage für weitere Forschungen dienen.

Dézsi hat in Hamburg und Wien historische Archäologie studiert. 2011 nahm er an einer Ausgrabung im ehemaligen Konzentrationslager im Österreichischen Mauthausen teil – und entdeckte eine Neuausrichtung seines Faches, die im deutschsprachigen Raum bislang nur in Wien angeboten wird: „Zeitgeschichtliche Archäologie“. Anders als andere Archäologen buddeln die Forscher hier keine Jahrtausende alten Steine und Knochen aus, sondern rekonstruieren Orte der jüngeren Geschichte.

Graben nach der eigenen Geschichte


Bislang befasst sich das junge Fach vor allem mit dem Zweiten Weltkrieg und der NS-Diktatur. Untersucht wurden etwa Überreste der Konzentrations- und Zwangsarbeiterlager, Schlachtfelder, Bunker, Schützengräben und Orte von Erschießungen.

Die Erfahrungen, die Dézsi als Grabungshelfer in den landwirtschaftlich genutzten Feldern um die Gedenkstätte Mauthausen machte, haben ihn beeindruckt. „Wir haben immer wieder Objekte gefunden, Kinderschuhe zum Beispiel“, sagt er. „Ich weiß nicht, ob es an den sinnlichen Eindrücken liegt, die man so gewinnt, oder daran, dass es sich um Alltagsgegenstände handelt, die einem vertraut sind, aber solche Funde lösen oft viel mehr aus, als es schriftliche Dokumente oder Bilder und Fotografien vermögen.“ Diesen „Effekt“, wie er sagt, will er sich nun auch bei seinem Projekt im Wendland zunutze machen.

Fotos: Gerhard Ziegler



2017-11-23 ; von Gerhard Ziegler (text),
in 29475 Gorleben, Deutschland

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