Dass auch das hochgerühmte "Schweizer Modell" für ein Endlagersuchverfahren nicht ohne Tücken ist, zeigte sich am Donnerstag Abend beim Vortrag eines Vertreters der NAGRA, der vor dem Samtgemeinderat Gartow referierte.
Während in Deutschland seit mittlerweile 36 Jahren der Schwerpunkt der öffentlichen Auseinandersetzung über ein Endlager für radioaktiven Abfall auf der Frage liegt, ob der Salzstock Gorleben dafür geeignet ist und wie dieses festzustellen sei, hat die Schweiz nach mehreren fehlgeschlagenen Versuchen, eine bestimmte Region als Endlagerstandort zu definieren, Konsequenzen gezogen und sich an ihre volksdemokratische Kultur erinnert.
Seitdem wird nach der Festlegung von Sicherheitskriterien und raumplanerischen Bestandsaufnahmen unter der Einbeziehung der betroffenen Kantone in einem breit angelegten öffentlichen und transparenten Prozess nach dem am besten geeigneten Standort für ein Endlager gesucht. So jedenfalls stellte es Markus Fritschi von der NAGRA dar, die für die Endlagerung und die damit verbundenen Forschungs- und Projektierungsarbeiten verantwortlich ist. "In diesen Prozess werden auch Vertreter aus den deutschen Nachbarregionen einbezogen," so Fritschi.
Wie Fritschi in Gartow berichtete, legte sich die Schweiz schon früh auf bestimmte Vorgaben fest: hochaktive Abfälle (HAA) sollen tiefengeologisch "dauerhaft sicher" gelagert werden, schwach- und mittelaktive Abfälle in einem horizontal zugänglichen Lager im Alpenraum untergebracht werden.
"Die Verantwortlichen für die Entsorgung mussten zeigen, dass es in der Schweiz mögliche Standorte gibt, an denen ein „geologisches Tiefenlager“ (Endlager) nach dem Stand der Technik gebaut und betrieben werden kann, das die behördlich festgelegten Anforderungen an die Langzeitsicherheit erfüllt," so Fritschi. Dieser "Entsorgungsnachweis" wurde für das Wirtsgestein Opalinuston bereits 2002 geführt und 2006 vom Schweizer Bundesrat (entspricht der Deutschen Bundesregierung) bestätigt. Der Entsorgungsnachweis für schwach- und mittelradioaktiven Abfall liegt bereits seit 1988 vor.
ETAPPE 1 - Auswahl geeigneter geologischer Standortgebiete
In dieser Phase zum Beispiel ging es darum, geeignete geologische Standortgebiete vorzuschlagen und ihre Auswahl zu begründen. Nach einem umfangreichen Beteiligungsverfahren mit den betroffenen Kantonen, einer raumplanerischen Analyse sowie einer ausführlichen sicherheitstechnischen Prüfung durch die Aufsichtsbehörden wurden die Ergebnisse dem Bundesrat zur Genehmigung vorgelegt.
Im Jahre 2011 konnten auf diese Weise insgesamt 26 Regionen mit geeigneten Wirtsgesteinen vorausgewählt werden, die durch eine systematische Anwendung nach vorher festgelegten Kriterien auf insgesamt sechs Standorte für hochradioaktiven Abfall sowie sechs Regionen für schwach- und mittelaktiven Abfall eingegrenzt wurden.
Geleitet wurde das Verfahren vom Bundesamt für Raumentwicklung (ARE). Das Bundesamt für Energie legte gemeinsam mit den betroffenen Standortkantonen und dem ARE die jeweiligen Planungsparameter fest - immer noch unabhängig von einem bestimmten Standort, sondern eng orientiert an den festgelegten Sicherheitskriterien.
Die Eignung dieser verbliebenen Regionen sollte in ETAPPE 2 weiter untersucht werden.
Parallel zum gesamten Verfahren werden in zwei Felslaboren standortunabhängig die Bedingungen für eine "dauerhaft sichere Lagerung" erforscht.
ETAPPE 2 - Auswahl von Standorten / Einrichtung der Regionalkonferenzen
Da die meisten der (vor)ausgewählten möglichen Standortregionen in der Nähe der deutschen Grenze liegen, gehören Gemeindevertreter der deutschen Seite ebenso zu den Teilnehmern der Regionalkonferenzen wie Schweizer Bürger.
Platzierung, Ausgestaltung und Erschließung der Oberflächenanlagen sind dabei ebenso Themen wie die Auseinandersetzung mit den wirtschaftlichen, ökologischen und gesellschaftlichen Auswirkungen auf die Region. Deswegen gehört auch zu den Aufgaben der Regionalkonferenzen, Projekte und Maßnahmen zur nachhaltigen Entwicklung der Regionen zu diskutieren und zu erarbeiten. Die Regionalkonferenzen treffen sich regelmäßig, erteilen Aufträge für weitere Expertisen oder erstellen Fragenkataloge für das weitere Verfahren. Die Mitglieder erhalten für ihre intensive Arbeit ein nennenswertes Honorar. Unklar blieb am Donnerstag, aus welchen Mitteln der aufwändige Kommunikationsprozess finanziert wird.
Zur Erinnerung: Die Sicherheitskriterien für den Betrieb eines Endlagers, die wissenschaftlichen Grundlagen für die Auswahl (Gesteinsarten, Art der Einlagerung, Behälterintegrität etc.) wurden bereits in Etappe 1 festgelegt bzw. werden standortunabhängig im Felslabor weiter untersucht (siehe oben).
Nach den Vorstellungen der Schweizer Regierung sollte Etappe 2 bereits im Jahre 2011 mit der Benennung von mindestens zwei Standorte für schwach- oder hochradioaktive Abfälle abgeschlossen werden. Doch der Schweizer Findungsprozess hat Verspätung: Am 20.01.2012 wurden in einer Pressekonferenz insgesamt 20 mögliche Standorte für Oberflächenanlagen in den ausgewiesenen Standorten vom Bundesamt für Energie vorgestellt. Derzeit wird gemeinsam mit den Standortregionen daran gearbeitet, mindestens ein Areal für den Standort einer Oberflächenanlage (für schwach- und mittalaktiven Abfall) pro Region zu finden.
ETAPPE 3 - Eingehende Untersuchung ohne Untertage-Erkundung
Erst in dieser Phase sollen die verbliebenen (mindestens) zwei Standorte eingehender untersucht und miteinander verglichen werden. Bohrungen von über Tage sowie weitere geophysikalische Untersuchungen durchgeführt werden. Untertägige Erkundungsmaßnahmen, wie diese aktuell am deutschen Standort Gorleben durchgeführt werden, sind während des Auswahlprozesses nicht vorgesehen.
Auch in Phase 3 sind die Regionalkonferenzen weiter beteiligt. Sie können eigene Gutachten beauftragen, eigene Vorschläge entwickeln oder bestimmte Standorte ausschließen. Enden wird Phase 3 allerdings erst, wenn sich die Beteiligten in einem nationalen Prozess auf (mindestens) zwei weiter zu untersuchende Standorte geeinigt haben. Ein Vetorecht der betroffenen Kantone gibt es dabei nicht.
"Wir haben hier eine Umweltschutzaufgabe zu lösen, für deren Lösung die ganze Nation die Verantwortung übernehmen muss," begründete Fritschi, warum der betroffene Kanton kein Vetorecht erhält. Allerdings kann das ganze Verfahren noch vor der Genehmigung durch die Bundesversammlung gestoppt werden, wenn es auch nur einem Schweizer gelingt, 50 000 Unterschriften gegen das eingebrachte Gesetz zusammen zu bringen. Dann geht das Gesetz in den Volksentscheid. Und gegen diese Entscheidung des "Schweizer Stimmvolks" gibt es keine Rechtsmittel mehr. Dann ist das langwierige Verfahren zu Ende - so oder so.
"Eventuell können wir ein Endlager im Jahre 2050 in Betrieb nehmen," prognostizierte deshalb Fritschi am Donnerstag in Gartow, wann womöglich ein Endlager gefunden sein könnte.
WAS KÖNNEN WIR VON DER SCHWEIZ LERNEN?
"Wir haben immer wieder Schwierigkeiten, herauszufinden, wie in Deutschland die Zuständigkeiten verlaufen. Sie sind für Außenstehende äußerst undurchschaubar," diese Aussage von Markus Fritschi bezeichnete womöglich eines der Hauptprobleme im deutschen Endlagersuchverfahren. "Ich kann Ihnen nur den guten Rat geben: trennen Sie die Zuständigkeiten für Aufsicht, Bewilligung und Betrieb."
Dr. Peter Hocke vom Karlsruher Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse sowie Mitglied in der Expertengruppe Schweizer Tiefenlager ortet über den Schweizer Prozess die Mängel des deutschen Verfahrens. "Die Stärke des Schweizer Prozesses ist die hohe Flexibilität und Offenheit der Kommunikation sowie ein hohes Maß an Transparenz." Hocke war von den Grünen- und UWG-Abgeordneten im Samtgemeinderat als Kenner des "Schweizer Modells" eingeladen worden.
In der Schweiz herrsche lt. Hocke in Politik und Management nicht so eine "schreckliche Angst" davor, Informationen und Erkenntnisse mit der breiten Öffentlichkeit zu teilen. "Bei uns herrscht die Angst vor den 400-seitigen Argumente-Büchern, wie sie in der Schweiz durchaus mehrfach produziert wurden," weiß Hocke um die Klippen eines offenen Beteiligungsprozesses.
Aber eben diese "Argumentations-Bücher", die Unklarheit darüber, wie lange ein Thema diskutiert werden soll, ein schwaches Konfliktmanagement und nicht vorhandene Schlichtungsstrukturen bringen den Prozess in der Schweiz zum Stocken, so Hocke.
Selbst die lange Kultur eines freiheitlichen Demokratieverständnisses verhindert offenbar nicht, dass Zwistigkeiten über wissenschaftliche Grundsatzfragen oder die Zeitplanung angesichts der immensen technischen und sozialen Komplexität des Themas ins Nirwana führen - wenn es niemanden gibt, der den Prozess moderiert und "mit strategischer Zielsetzung" zum Erfolg führt.
In der Schweiz ist als Moderator und Verantwortlicher für das Finden eines Endlagers die NAGRA eingesetzt (Nationale Genossenschaft zur Endlagerung von Radioaktiven Abfällen) finanziert und getragen von den Schweizer Atomkraftwerksbetreibern, die wiederum laut Schweizer Kernenergiegesetz für die Bereitstellung eines Endlagers für radioaktiven Abfall verantwortlich sind. (Zitat Kernenergiegesetz, Art. 31: "...(zu den Entsorgungspflichten) gehören auch die notwendigen Vorbereitungsarbeiten wie Forschung und erdwissenschaftliche Untersuchungen sowie die rechtzeitige Bereitstellung eines geologischen Tiefenlagers.) Was ist also naturgemäß das strategische Ziel der NAGRA?
Markus Fritschi bewies in Gartow eindrücklich, dass er es versteht, öffentliche Prozesse zu moderieren: von Anfang wandte er sich in seinem Vortrag an die vielzählig erschienen Besucher, die er offensichtlich sofort als Gorlebengegner geortet hatte und ließ den Samtgemeinderat in seinem Rücken. Mit Charme, kleinen Scherzen und gezielt eingesetzter punktueller Selbstkritik konnte er mehrfach lauten Beifall bei den sonst gar so kritischen wendländischen Widerständlern einheimsen.
Das "Schweizer Modell" erschien nach dem Vortrag von Fritschi als schillerndes Beispiel einer gelungenen Basisdemokratie, die selbst einen so hochkomplizierten Prozess wie die Findung eines Endlagers erfolgreich zu Ende bringt. Aber seit Phase 2 "knirscht es im Prozess", wie Dr. Hocke es ausdrückte. ... und die NAGRA steht unter Beschuss: vor knapp drei Wochen erst verlangen Sozialdemokratische Politiker, dass die NAGRA verstaatlicht werden soll (siehe Link unten).
Hier nur einige Links zur kontroversen Diskussion über das Schweizer Auswahlverfahren bzw. zur Rolle der NAGRA sowie zu Konzepten, die skizzieren, wie es gehen könnte :
- blick.ch: "SP-Politiker wollen NAGRA verstaatlichen"
- suedkurier.de: "Bürger fordern Antworten zum Tiefenlager" (01/2013)
- taz.de: "Die Atomindustrie steuert die Behörde" (07/2012)
- zeit.de: "Kuschelrunde am Endlager" (08/2010)
Foto / Angelika Blank: Mit Charme und Einfühlungsvermögen stellte Markus Fritschi von der NAGRA am Donnerstag im Samtgemeinderat Gartow das Schweizer Beteiligungsmodell vor.