Am Sonntag erhält die Schriftstellerin Marie Luise Scherer in Polen den Linde-Literaturpreis. Wie verdient dieser angesehene Preis ist, zeigte sich vergangene Woche in einer Lesung aus ihrem Text "Die Hundegrenze".
Wie soll man der größten lebenden Reporterin unserer Zeit in einem Artikel gerecht werden? Einer Frau, deren Sprache unglaublich präzise ist und dennoch sinnlicher kaum sein könnte? Mit Worten diese nur ihr eigene Sprache beschreiben zu wollen, kann nur scheitern.
Am Samstag voriger Woche las Marie-Luise Scherer in der Kulturtenne Damnatz aus ihrem Buch „Die Hundegrenze“. Im Laufe des Abends gibt die Schriftstellerin zwar zu, dass sie sich
„überproportional“ für Hunde interessiere. Wer nun aber denkt, es handle
sich bei der Lesung um possierliche Tiergeschichten einer altersmüden
Reporterin, der irrt. Gewaltig.
Die DDR-Grenze wurde nicht nur von Menschen, sondern auf jeweils drei Kilometer langen Abschnitten auch von Hunden bewacht. In den sogenannten Hundetrassen waren die Hunde mit ihren Halsbändern an
„Laufanlagen“ festgemacht. Sommers wie winters waren sie den
klimatischen Bedingungen gnadenlos ausgeliefert und fristeten ein
erbärmliches Dasein.
Das Leid der Tiere, das Leben und die Arbeit der Grenzsoldaten an der
Grenze, bis ins kleinste Detail recherchiert und literarisch
aufbereitet, versetzen in die Lage, die Brutalität der Grenze und des
DDR-Regimes verstehen zu können. Es wird möglich zu verstehen und zu spüren, was Grenzen und deren
Erbauer Tier und Mensch antun können. Wie sie eingreifen in ein Leben.
Grob und schicksalhaft einerseits, fein und subtil andererseits.
Indem der bekleidete Posten unmerklich zu einem Teil der Persönlichkeit
wird, einsickert in Gedanken und Empfindungen, ähnlich des Flugsandes,
der über Jahre die eine Hälfte des idyllisch in die Landschaft
eingebetteten Grenzerhauses zur Wüste werden
lässt.
Die Lesung endet. Das Entsetzen findet im Schweigen des Publikums
seinen Nachhall, als die Stimme Scherers verstummt. Erst nach und nach kehren die Gedanken zurück in die sorgsam restaurierte Kulturscheune Damnatz. Der Rahmen, den die Örtlichkeit bietet, ist klein. Auch wenn an diesem
Abend kein Platz frei bleibt, finden hier kaum mehr als zwei Dutzend
Menschen Platz.
Man sitzt an zwei großen Tafeln, miteinander, man teilt
die gleiche Ebene mit der Schriftstellerin. Und so ist die Distanz
zwischen dem Publikum und der Vortragenden gering. Auf Augenhöhe werden
Fragen gestellt, entspinnen sich später im Garten
Gespräche.
Ein Mann, ehemaliger Funker der NVA, bestätigt, was als Frage über jedem historischen Text schwebt: Ja, so war es. Details und Sachverhalte entsprechen den Erfahrungen des Mannes. Und
sicherlich ist es diesem gewissenhaften Umgang Scherers mit Fakten und
Menschen zu verdanken, dass der ehemalige Soldat an diesem Abend ein
Stück seiner Vergangenheit mit dem überwiegend westdeutschen Publikum
teilt.
Ein anderer will wissen, ob sie sich „die Geschichte“ ausgedacht habe.
Marie-Luise Scherer versteht die Frage nicht, will sie vielleicht nicht
verstehen. Der Mann wird vom Publikum aufgeklärt und gibt erstaunt zu, dass er all
ihre Geschichten als fiktive Reportagen gelesen habe. Sein Erstaunen
offenbart vor allem die überragende literarische Qualität ihrer Texte.
Scherers Reportagen gehen unter die Haut, pulsieren noch Jahre nach der
Lektüre. Sie schaffen einen Zugang zum wiedergegebenen Inhalt,
ermöglichen ein tieferes, ein emotionaleres Verstehen. Obwohl
Marie-Luise Scherer nie die Grenze zum Emotionalen oder Trivialen
überschreitet und ihre Reportagen bis ins letzte Detail genau
recherchiert sind, sprengt ihre Sprache doch alles. Sie lässt sich nicht
einsperren, sie hält sich nicht zurück, bannt das Unmenschliche.
Sie
tut das, in dem ihre Worte das Geschehen genauestens beschreiben - Worte
treffsicherer als Pfeile. Und doch bildet sie nicht digital genau ab. Ihre Art zu beschreiben ist keineswegs durch eine Kamera zu ersetzen.
Die Sinnlichkeit, über die ihre Sprache verfügt, ist ein Mysterium.
Keimt sie aus ihrer Genauigkeit oder trotzt sie ihr? Es lässt sich mutmaßen, dass sie beseelt ist von einem zutiefst humanistischen Geist einer großen Persönlichkeit.
Ihre exakte Recherche und ihre sezierend scharfen Beschreibungen
vermögen den Porträtierten Würde zu verleihen. Eine Würde, die Scherer
auch der Bestie von Paris nicht verweigert.
Auf diese Art wahrgenommen zu werden, bedeutet auch, der Belanglosigkeit oder Ignoranz des Weltenlärms entrissen zu sein.
Der verklungene Regen lastet noch schwer auf den Rosenblüten, vermag
aber die überbordende Pracht im Garten der Gastgeberin nicht zu mindern.
Kissen und Decken werden gereicht, die Gäste sind auch nach dem Ende
der Lesung willkommen. Am Ende des Tages bricht die Sonne hinter den
Wolken hervor. Der ehemalige Funker hat seinen Regenschirm vergessen.
Die Reporterin hat seinen Worten genügend entnommen, um ihn für eine
Rückgabe kontaktieren zu können.
Marie-Luise Scherer bricht auf in die Dunkelheit. Sie muss Worte finden für die Rede, an der sie schreibt - am Sonntag erhält sie den Linde-Literaturpreis. In ihrer Tasche, sorgsam in eine Servierte eingewickelt, ein paar übrig gebliebene Happen der Spargelvariationen, für die Raben, die ihren Garten bevölkern.
Aus der Begründung für die Verleihung des Samuel-Bogumil-Linde-Preises: "Charakteristisch für ihre Texte sind ein präzise recherchierter Hintergrund und eine Sprache, die fernab jeder journalistischen Schnelligkeit liegt. Marie-Luise Scherer lässt sich Zeit beim Schreiben, zwingt ihre Sätze nicht herbei, sondern lässt sie entstehen.
Marie-Luise Scherer ist Trägerin zahlreicher Literaturpreise. Ihre Werke wurden u.a. mit dem Theodor-Wolff-Preis (1970), dem Egon-Erwin-Kirsch-Preis (1977 und 1979), dem Siebenpfeiffer-Preis (1989), Ludwig-Börne-Preis (1994), dem Italo-Svevo-Preis (2008), dem Heinrich-Mann-Preis (2011 und dem Kunstpreis des Saarlandes (2012) ausgezeichnet.