Immer wieder spielt ein leises Lächeln um den Mund des Literaturwissenschaftlers Dr. Reiner Stach. Dabei ist sein Thema „Das Leben Franz Kafkas“ nach allgemeinem Vorurteil überhaupt nicht witzig. Doch mit jedem Wort, mit jedem Satz, den Stach aus seiner vor kurzem erschienen Biografie vorliest, wird den über 40 Zuhörenden im eng besetzten Gastraum der „Schwedenschanze“ deutlicher, dass hier jemand sitzt, der von seinem „Forschungsgegenstand“ restlos begeistert ist – und sich intensiv damit beschäftigt hat.
Seit über zwanzig Jahren gehört "Franz Kafka" zu Stachs Leben. Bereits seine Dissertation 1985 beschäftigte sich mit „Kafkas erotischem Mythos“. Als Wissenschaftslektor und Herausgeber von Sachbüchern musste er sich zwar auch mit anderen Themen beschäftigt, aber seine Liebe zu Kafka hörte nie auf. Im Laufe der Jahrzehnte hat Stach aus unzähligen Quellen so viel Wissenswertes über Kafka und seine Zeit zusammengetragen, dass im Juli nach insgesamt 12 Jahren Arbeit Band zwei der auf drei Bände angelegten Gesamtbiografie erschien.
Kafka und Humor?
Was fasziniert ihn so an diesem eher unscheinbaren Mann aus Prag, dessen Lebensgeschichte auf den ersten Blick nicht viel Besonderes enthält? Stach lacht: „Von Anfang an haben mich seine unglaubliche Wahrhaftigkeit und Offenheit begeistert, aber auch sein Humor.“ Humor? Bei Kafka? „Aber ja, in Kafkas Werk finden sich viele Stellen mit einem sarkastischen, fast schon an Satire erinnernden Humor. Seine Überzeichnungen von bedrückenden Lebenssituationen haben immer wieder auch etwas Komisches, Selbstironisches.“ Wie zum Beispiel in der „Verwandlung“: der Handelsvertreter Gregor Samsa wacht eines Morgens auf und findet sich als Käfer, auf dem Rücken liegend und hilflos mit den Beinchen zappelnd, wieder. Er selbst möchte ganz normal seinen Alltag weiter leben, versucht, seinen „Zustand“ nicht allzu ernst zu nehmen. Doch seine Familie stößt ihn entsetzt ins Zimmer zurück, lässt ihn nicht hinaus.
Stach hat ein klares Bild von den Lebensumständen Franz Kafkas, er weiß, dass diese „Käfergeschichte“ eine absurde Überzeichnung von Kafkas realer Familien-, Berufs- und Lebenssituation darstellt: sein ganzes Leben hat Kafka, um sich und seine Familie zu ernähren, als Jurist für eine Unfallversicherung gearbeitet. Tagsüber feilte er an Unfallvorschriften, protokollierte Unfallgeschehen und überprüfte Betriebe – um dann nachts seiner eigentlichen Leidenschaft, dem Schreiben, nachzugehen. Denn hier, „in der Tiefe der Nacht (meinte Kafka) die eigentliche Beute“ zu machen, wie er in einem Brief an seine Geliebte Milena Jesenska einmal schrieb. Immer träumte er dabei von einem „freien Schriftstellerleben“ in Berlin, doch der Prager Beruf und seine Familie ließen ihn nicht los. Zeitlebens blieb Kafka bei den Eltern in der Prager Wohnung.
Beeindruckend erzählte Stach Alltagsgeschichten aus dem Prag zu Anfang des ersten Weltkriegs. Zum Beispiel über die allgemeine Kriegsbegeisterung, die auch Kafka nicht unbeeindruckt ließ. Im Prager Vergnügungspark war ein künstlicher Schützengraben aufgebaut, an dessen Drehkreuzen die Prager Schlange standen, um einmal „Soldat im Schützengraben“ spielen zu können. Kafka besuchte diese Volksbelustigung. Im Tagebuch beschrieb er die Eindrücke dieses Tages kurz und lapidar: „Anblick der Ameisenbewegung am Schützengraben und in ihm“. Dabei war - nach Stach - Kafkas größter Wunsch, Soldat zu werden, nicht unbedingt aus patriotischer Überzeugung, sondern weil ihm das Soldatenleben die Möglichkeit eröffnet hätte, während der langen Wartezeiten auf den nächsten Einsatz, endlich weitgehend ungestört schreiben zu können. So meinte jedenfalls Kafka, der es eigentlich besser hätte wissen müssen, denn zu seinem Arbeitsbereich gehörte auch die versicherungsrechtliche Bearbeitung von schlimmsten Verletzungen aus dem Krieg zurückgekehrter Soldaten.
Ein großartiger Erzähler
Unzählige Geschichten hat Reiner Stach zu erzählen, vom Prag zu Beginn des ersten Weltkrieges, von allumfassenden bürokratischen Vorschriften, die das Leben damals bestimmten, von Lebensmittelknappheit und merkwürdigen Firmengepflogenheiten (in einem Steinbruchbetrieb gab es überdurchschnittlich viele Arbeitsunfälle. Kafka fand heraus, dass ein Teil des Lohnes in Alkohol ausgezahlt wurde und entdeckte darin die Ursache für die vielen Unfälle), aber auch von den erotischen Beziehungen Kafkas, seines durchaus leidenschaftlichen, wenn auch komplizierten, Privatlebens.
Eine spannende Welt tut sich da auf, ein Europa im Umbruch, eine hochbürokratische Versicherungsgesellschaft, eine alles einnehmende Familie, leidenschaftliche Frauen - und mittendrin ein hellsichtiger dünner Mann mit abstehenden Ohren, der nachts schriftstellerische Werke schuf, die heute noch faszinieren.
Stachs biografisches Konzept ist dabei voll aufgegangen: „Empathie lautet das Zauberwort des Biografen“, so Stach zu seinem Selbstverständnis. „Dazu gehört selbstverständlich auch, sich in die Zeit, die Lebensumstände und die Beziehungen hineinzudenken“. Anders als sonst üblich hat Stach Zeitumstände, Werk und Privatleben nicht getrennt voneinander betrachtet, sondern erzählt sie als unauflösliche Einheit, da ja „auch Kafka inmitten seiner Umstände gelebt habe und nicht separiert davon“. Und obwohl Stach unglaublich viele Details und kleine Geschichten zusammengetragen hat, verliert er sich doch nie in Detailversessenheit, behält immer den Blick für die Zusammenhänge. In Werkinterpretationen versucht er sich gar nicht erst. „Ich möchte zeigen, wie Kafka zu seinen Werken kam, welche Eindrücke, welches Erleben ihn geprägt haben“, so Stach.
Man möchte sich mit „Jahre der Erkenntnis“ einschließen und tief in die Welt des Franz Kafka eintauchen. Wie durch ein Fenster bekommen wir tiefe Einblicke in die Gedankenwelt des „Herrn K.“, wie Kafka sich selbstironisch in einigen Geschichten nannte – wunderbar erzählt und ebenso detailreich wie präzise geschildert von Reiner Stach.
„Kafka – die Jahre der Erkenntnis“ ist erschienen im S. Fischer Verlag, ISBN-Nr. 978-3-10-075119-5, Preis: 29,90 €.
Der erste Band „Jahre der Entscheidungen“ beschreibt die Jahre 1910 – 1915, in denen Kafka seinen schöpferischen Durchbruch erlebte. Das Buch ist ebenfalls bei S. Fischer erschienen, kostet gebunden 29,90 € und als Taschenbuch 14,95 €
Im Internet gibt es übrigens eine interessante Ergänzung zur Biografie, www.franzkafka.de, auf der neueste Funde, Einblicke in Kafkas Leben sowie Literaturhinweise veröffentlicht sind – eine interessante Ergänzung zur umfassenden Biografie.
UPDATE/08.08:
Wie uns Reiner Stach gestern mitteilte, handelt es sich bei dem angeblich "sensationellen" Fund einer Sammlung von Pornoheften in Kafkas Nachlass um einen "reinen Marketing-Gag" des Briten James Hawes. "Und er funktioniert, denn es schreiben alle darüber", so Stach. Schon in seiner Lesung am Sonntag hatte Stach mehrfach auf ein durchaus intensives erotisches Leben Kafkas verwiesen. "Auch Bordellbesuche Kafkas sind seit langem bekannt", hob Stach in seiner Lesung hervor. Keine Rede also von einer "Kafka-Industrie", die den "Säulenheiligen" Franz Kafka nicht antasten mag, wie es der Brite James Hawes gerade der Weltöffentlichkeit verkaufen will.
spiegel online plädierte übrigens "im Sinne viktorianischer Moral" dafür, auch Casanova, Rimbaud, Beardsley oder Rops den posthumen Prozess zu machen. Denn keine Geringeren als diese weltberühmten Schriftsteller wie Illustratoren seien die Urheber der angeblichen "Pornos".