Der Verrückte in Dir
Über die Improvisationsgruppe „FieseMatenten“, die jährlichen Weihnachtsstücke, die Theaterarbeit mit „Terra est Vita“ und die Aufführungen des „Mehrgenerationen-Ensembles“ hat sich in Platenlaase ein kräftiges Pflänzchen schönster Theaterkultur entwickelt. Erstaunlicherweise in einem Haus, das für die Theaterarbeit überhaupt nicht eingerichtet ist: kein Geld, begrenzter Raum, nur ein Minimum an Bühnentechnik.
Jetzt kommt dort als Drei-Personen-Produktion das Stück „Elling“ heraus, eine Komödie um zwei Männer, die nach Jahren in der Psychiatrie eine eigene Wohnung beziehen dürfen: Elling, der verklemmte, überkandidelte Denker und Kjell-Bjarne, der grobschlächtige Hüne mit dem Geist eines kleinen Jungen, mit nichts im Kopf als dem Gedanken, endlich Sex mit einer Frau zu haben. Plötzlich sind die beiden auf sich allein gestellt, und ihr gesamter Alltag, die kleinsten Selbstverständlichkeiten werden zu Problemen, die mit Mut bewältigt werden müssen: telefonieren, einkaufen, ausgehen, ein Lokal durchqueren.
Schrittweise wagen sich die beiden in die Öffentlichkeit, aber dann wird ihre Freundschaft auf eine harte Probe gestellt. Kjell-Bjarne findet im Treppenhaus eine betrunkene schwangere Frau. Als er beginnt, sich um sie zu kümmern, gerät die eingespielte Beziehung der beiden Wohngenossen aus der Balance.
„Wir hatten einfach riesige Lust auf dieses Stück“, erzählt Regisseurin Kerstin Wittstamm. „Also haben wir einfach angefangen, ohne Geldzusage, ohne geplanten Aufführungstermin und natürlich mit dem Risiko des Scheiterns“. Anders als beim sogenannten Weihnachtsmärchen, für dessen rund 20 Aufführungen schon Ende August die ersten Buchungen eingehen, konnten sich die Beteiligten mit diesem Projekt Zeit lassen – zum Glück, denn die Ausgangssituation – zwei Verrückte in der Normalität – hätte leicht in der Klamotte oder einem Rührstück enden können.
Unterschiedlicher können Figuren nicht sein: Elling changiert zwischen kleinkarierter Nickeligkeit und pseudointellektueller Hochstapelei, Kjell-Bjarne dagegen ist der einfältige Bär, der Lesen erst mit seinem ersten Pornoheft gelernt hat. Es wäre ein Leichtes gewesen, die beiden als komische Nummern zu inszenieren. Doch dazu hat Kerstin Wittstamm, langjährige Regisseurin bei „Terra est Vita“, zu viel Achtung vor der Würde behinderter Menschen. Bei „Elling“ lacht man nicht über die Figuren, sondern über die Situationen, die sie zu bewältigen haben.
Theaterarbeit mit Behinderten – beim Projekt „Elling“ mit umgekehrtem Vorzeichen. Aber nicht unbedingt einfacher. Jeder Schauspieler weiß, wie schwierig es ist, überzeugend einen Betrunkenen zu spielen. Glaubwürdig eine Behinderung darzustellen, ist nicht minder schwer. Dazu kommt das Risiko, daß der Zuschauer die Reduktion möglicherweise als handwerkliche Begrenzung des Schauspielers erlebt.
Elling-Darsteller Peter Bauhaus bekennt denn auch seine anfängliche Versuchung, die Figur „mit Gänsefüßchen“ zu spielen: dies bin nicht ich! Erst durch die Ermutigung der Regisseurin habe er die Herausforderung annehmen können, im Spiel den „Elling in sich“ zu entdecken und sichtbar zu machen. Burkhard Reinecke durfte schon als „Vogelkopp“ einen Menschen mit „Meise“ darstellen.
Als Kjell Bjarne muß er sich vom tumben Gefühlsanalphabeten, dessen einzige Emotionalität darin zu bestehen scheint, seinen Kopf auf den Tisch zu schlagen, zum liebenswert unsicheren Partner und Familienvater entwickeln. Er tut es auf eine sehr anrührende Art, so daß man mit ihm aufatmen möchte, wenn der innere Knoten endlich platzt. Während Kjell Bjarne seinen ersten Sex erlebt, findet Elling zu seiner Bestimmung als schrulligem Untergrund-Poeten.
Der Sozialarbeiter Frank und die beiden Frauenrollen Gunn und Reidun werden von der Regisseurin selbst gespielt – mit Rollenwechsel und Umzug auf offener Bühne. Diese werkstattgemäße Offenheit ist ebenso wie das genial schlichte Bühnenbild von Julia da Franca nicht nur den fehlenden Mitteln in Platenlaase geschuldet. Es ist bewußt gewähltes Stilmittel – der Versuch, Theater pur zu machen, ohne ablenkendes Dekor und ohne die Illusion einer geschlossenen Theaterwelt.
„Vor einem Jahr haben wir uns in Braunschweig gemeinsam eine Elling-Inszenierung angesehen“, erzählt die Regisseurin: auf der Bühne eine komplett eingerichtete Wohnung, viel technischer Aufwand, Hebebühne, Projektion, Bühnenschnickschnack. Toll, aber nicht notwendig. Manchmal, sagt sie, sei es gut, wenn man sich reduzieren müsse. Reduzieren heiße eben auch konzentrieren. Ab einem bestimmten Punkt der Probenarbeit sei der Blick auf mögliche Vorbilder dann tabu gewesen. Vor allem: „Auf keinen Fall noch einmal den (tollen) Film ansehen!“ Statt dessen lieber auf die Kraft des Theaters vertrauen und den eigenen Elling, den eigenen Kjell Bjarne, den eigenen Frank finden.
In vorläufig zwei Aufführungen ist das bemerkenswerte Ergebnis zu besichtigen: Ein kleines feines Kammerspiel über das Verrückt-Sein und den Elling in uns allen. Premiere: 19. September, 20.30 Uhr in Platenlaase.