Am vergangenen Wochenende löste das Junge Schauspiel Hannover mit seiner neuen Produktion "Mythen der Freiheit" in Salderatzen frenetischen Jubel aus. In einer spektakulären Inszenierung brach das junge Ensemble mit sämtlichen Freiheits-Glaubenssätzen der westlichen Welt ...
War es Theater, ein wüstes Spektakel oder ein Rockkonzert mit Spieleinlagen? Wer "Mythen der Freiheit" in Salderatzen miterlebt hat, wird diese Frage nur schwerlich beantworten können. In ihrer neuen Inszenierung mixten das Ensemble des Jungen Schauspiels so ziemlich alle dramaturgischen Finessen auf so raffinierte Art miteinander, dass die Einordnung in ein Genre unmöglich scheint.
Wenn Christoph Schlingensief die Produktion wahrnehmen könnte, so würde er vermutlich aus Begeisterung aus seinem Grab wieder auferstehen – oder sich mit dem beruhigenden Gefühl wieder schlafen legen, dass es junge Theatermacher gibt, die seine revolutionären Ideen weiter entwickeln.
Was das junge Ensemble mit seinem Dramaturgen Aljoscha Begrich und Regisseur Florian Fiedler in Salderatzen bot, dürfte in die Geschichte der Kultur-Highlights im Wendland eingehen und in den Köpfen des begeisterten Publikums einiges durcheinander gebracht haben.
Eine Handlung hat „Mythen der Freiheit“ nicht. Die „Kirche der Anti-Freiheit“, angeführt durch den „Anti-Freist“, eine gottähnliche Gestalt in maoistisch angehauchter Uniformjacke, soll die Befreiung von der Doktrin der absoluten Freiheit bringen. „Komm, Antifreist, gib uns Zwang und beschränke uns!“ so die irritierende Anbetung des neuen „Erlösers“.
In atemberaubender Geschwindigkeit und einer multimedialen Bühnenshow dekliniert „Mythen der Freiheit“ in rund zwei Stunden die unterschiedlichsten Aspekte eines verfehlten Freiheitsverständnisses durch. Satirisch überspitzt werden die in der westlichen Welt allgemein gültigen Glaubenssätze von der Fahnenstange geholt: die Freiheit der Kunst, der Wissenschaft und gar die der Liebe werden in Zweifel gezogen.
Dabei setzt das Junge Schauspiel punktgenau dramaturgische Mittel ein, die sie völlig frei und doch dem Zweck untergeordnet aus der gesamten Theatergeschichte zieht. Elemente aus biblischen Krippenspielen finden sich in der Inszenierung ebenso wieder wie die Ästhetik von Video-Blogs, Klamauk á la Commedia dell' Arte ebenso wie philosophische Textcollagen. Mit dem treibenden Rock der Band Rainer von Vielen (der übrigens alle Songtexte schrieb), erinnert das Stück gar an die Rock-Oper „Tommy“ von The Who.
Genial auch, wie die Dramaturgie mit den Versatzstücken der akkustischen Manipulation spielt. „Nimm Dein Wort als Geschoss, Lass es auf die Dummen los“ kommt wie ein Fussballgesang daher. Und wenn der Anti-Freist an die Freiheits-Dogmen aus Werbung, Politik und Medien erinnert, klingt es wie eine Brandrede Hitlers.
Wie schwierig es ist, eine unvermittelt überlassene „totale Freiheit“ zu nutzen, zeigte sich, als eine Frau aus dem Publikum auf der Laufbühne eine ganze Viertelstunde lang das tun sollte, was sie wollte. Mehrfach flehte sie um Hilfe und fühlte sich ob dieses Anspruches sichtlich unwohl.
In der Inszenierung geht es nicht um das platte Beschneiden von Freiheiten, sondern darum, „nicht alles das zu tun, was man kann“. So wird letztendlich auch die atemberaubende „Freiheitsaustreibung“ am Ende des Stückes zu einer Wiederbelebung der Freiheit, nämlich derjenigen, die Verantwortung übernimmt für das Geschehen in der Welt – die die Hungernden in der dritten Welt, die Mönche in Tibet und die gefolterten Frauen in Burma eben nicht auf dem Altar der individuellen Freiheit opfert und sie ihrem Schicksal überlässt.
Christoph Schlingensief sah sich als Aufklärer, Bußprediger und Mahner, der den „gepflegten deutschen Kulturschrebergarten“ aufwühlen wollte. Ähnliches könnte man vom Jungen Schauspiel Hannover behaupten. Nach frenetischem Applaus gab es aus dem Publikum bereits erste Anfragen, ob es demnächst eine „Bewegung der Anti-Freiheit“ geben werde. Regisseur Florian Fiedler lächelte und hatte nur eine kurze Antwort: „Womöglich ...“.
Foto(s): Angelika Blank