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„Inklusion“ – in Wustrow ein fernes Ziel

Nach der Vergewaltigung einer jungen Frau durch einen Bewohner einer Behinderteneinrichtung in Wustrow diskutiert der ganze Ort über den Umgang des Heims mit den Bewohnern. Bei einer Veranstaltung im Dorfgemeinschaftshaus fanden sich am Donnerstag Abend rund 300 Bürger ein, um ihre Befürchtungen und Vorwürfe u.a. mit Heimleitung und -aufsicht zu diskutieren.

  „Inklusion“ ist seit einiger Zeit in der Pädagogenszene das Zauberwort. Behinderte und Nicht-Behinderte sollen gemeinsam ausgebildet werden und möglichst viele Lebensbereiche miteinander teilen. Gegenseitige Toleranz, Akzeptanz und Respekt vor dem Andersartigen sind dabei Grundvoraussetzung. Wie weit dieses Ziel noch entfernt ist, zeigt sich dieser Tage in Wustrow, nachdem dort Ende Juli mutmaßlich ein Bewohner der dortigen Behinderteineinrichtung eine junge Frau im offenen Feld vergewaltigte.

Seitdem häufen sich Berichte über Vorfälle mit den Bewohnern der LeBe Mechau, die in Wustrow und Klennow seit 13 Jahren zwei Wohnhäuser mit Betreuungsangebot für heute insgesamt 25 Bewohner führt. „Die stehen plötzlich vor dir und machen sich nackig,“ war noch der harmloseste Vorwurf auf der Informationsveranstaltung am Donnerstag im Dörfergemeinschaftshaus Wustrow, zu der rund 300 Bürger erschienen waren. Von onanierenden Bewohnern im Buswartehäuschen wurde da berichtet, von Prügeleien und Besäufnissen.

Quer durch die gesellschaftlichen Schichten und Altersgruppen ging die Reihe derjenigen, die sich seit der Vergewaltigung in Wustrow nicht mehr sicher fühlen. Frauen haben Angst um sich sich selbst und Eltern um ihre Kinder. Seltsamerweise fand sich aber nach der Veranstaltung niemand, der oder die die genannten Vorfälle mit eigenen Augen wahrgenommen hatte. Im Gegenteil: die Vorfälle waren offensichtlich auch bei privaten Kaffeetrinken oder Festivitäten bis zum Tag der Vergewaltigung kein Thema. „Hier und da“ sei mal von einem einzelnen Vorfall gesprochen worden, erinnerte sich eine Bürgerin. Auch die Polizei hatte laut Bekunden des örtlichen Kontaktbeamten keine Kenntnis von den beschriebenen Vorfällen. Auch eine versuchte Vergewaltigung vor einigen Jahren sei bei der Polizei nie angezeigt worden, war in Wustrow zu hören.

Vertrauensverhältnis zwischen Träger und Stadt zerrüttet

Trotzdem: der Frust über den Träger, die LeBe Mechau GmbH & Co. KG aus Mechau sitzt bei den Wustrowern tief. Höhnisches Gelächter brandete auf, als Geschäftsführer Thomas Giese den Tagessatz für die Bewohner von durchschnittlich 100,-- Euro nennt - bezahlt von den heimischen Sozialämtern bzw. den Angehörigen der geistig behinderten Einwohner.

Lauthals wurde der Verdacht geäußert, dass die Leitung gezielt mehr Bewohner annimmt, als sie verkraften kann, um sich „die Taschen vollzustopfen“. Außerdem wurde der LeBe vorgeworfen, dass das Personal 1. zahlenmäßig zu gering und 2. ungenügend qualifiziert sei. Auch Pastor Udo Engel kritisierte, dass die Ausbildung zum Erzieher nicht ausreichend sei für den Umgang mit Behinderten. „Außerdem haben sie sich nie gekümmert, wenn mal was vorgefallen war“, lautete ein weiterer Vorwurf, der den engen Personalschlüssel von 1:2 im Blick hatte, mit dem jedes Heim in Niedersachsen arbeiten muss.

Dieser Schlüssel bedeutet, dass grundsätzlich für je zwei Bewohner eine Fachkraft zur Verfügung steht. Angesichts eines Drei-Schichten-Systems inklusive Wochenende kommt es leicht dazu, dass lediglich eine Fachkraft im Dienst ist, zumal dann, wenn Urlaubs- oder Krankheitsausfälle die Personalressourcen noch mehr reduzieren.

Aus Sicht der Heimleitung tut man alles, um die Bewohner gut zu betreuen, zu fördern und auch die Integration mit den nicht-behinderten Einwohnern Wustrows zu befördern. Wie war es dann möglich, dass der schreckliche Vorfall am 24. Juli 2013 geschehen konnte? „Aus der Symptomatik der Behinderung lässt sich der Vorfall nicht erklären," sind sich sowohl Geschäftsführer Thomas Giese als auch Hausleiterin Simone Sode einig. In einem Gespräch mit wnet am Freitag Morgen berichteten Giese und die Hausleiterin, dass der mutmaßliche Täter vier Jahre lang „nett und unauffällig“ mit ihnen gelebt habe. Nichts habe darauf hingewiesen, dass er gefährlich werden könnte. „Auch die anderen Bewohner in Wustrow sind geschockt, dass er so etwas gemacht haben soll. Niemals hätten sie das vermutet.“ Die beiden Heimleiter leugnen nicht ab, dass einer ihrer Bewohner (mutmaßlich) eine schreckliche Tat begangen hat, die Ursachen sehen sie aber nicht in der Krankheit oder mangelnder Betreuung. 

Problematisch an der Angelegenheit ist allerdings, dass der mutmaßliche Täter wegen einer ähnlich gelagerten Straftat im Gefängnis gesessen hatte. Aus dem Gefängnis heraus war ihm dann der Heimplatz in Wustrow vermittelt worden. „Aber weder der Gefängnispsychologe noch die Gutachter wollten uns den Grund der Verurteilung nennen, in Respekt gegenüber dem Willen des späteren Bewohners. Dieser wollte nicht, dass seine Tat bekannt wird.“ so Thomas Giese. Auch im Eingangsgespräch habe der Bewohner dann eine Beantwortung der Frage nach dem Grund für die Verhaftung abgelehnt. „Da aber die Gutachten weder Selbst- noch Fremdgefährdung attestierten und alle anderen Voraussetzungen vorlagen, haben wir ihn letztendlich aufgenommen.“ Nach diesem Vorfall aber werde man sich ganz sicher mit der Ablehnung der Informationsübermittlung nicht mehr zufrieden geben, betonte Giese am Freitag Morgen. „Einen Bewohner, über den wir nicht alle Informationen bekommen, werden wir nicht aufnehmen.“ 

Von der Bürgerschaft wünschen sich Giese und Hausleiterin Sode allerdings mehr Unterstützung, vor allem mehr Interesse an den Bewohnern und ihrer Wohn- und Betreuungssituation. "Kommen Sie zu uns und machen Sie sich selbst ein Bild von unseren Häusern und ihren Bewohnern," forderte er am Donnerstag die Zuhörer auf. Was die Vergangenheit angehe, da seien die Betreuer allerdings im Laufe der Zeit in eine "Schonhaltung" gegangen, wenn es um die Kommunikation mit der Wustrower Bevölkerung gegangen sei, da von dort immer wieder recht negative Signale zu hören gewesen seien. So habe der Ortsrat Klennow vor einiger Zeit die Behinderten schriftlich regelrecht von der Teilnahme an einer öffentlichen Veranstaltung ausgeladen, konnte sich Hausleiterin Sode erinnern.

Wie einige der Kritiker am Donnerstag Abend zugaben, haben sie sich in den dreizehn Jahren, in denen die LeBe in Wustrow bereits ansässig ist, noch nie an die Heimleitung gewandt, wenn es um Schwierigkeiten mit Bewohnern ging. "Man hat nie mit uns, sondern immer nur über uns geredet," weiß auch Thomas Giese. Er wünscht sich, dass der runde Tisch, der am Donnerstag Abend initiiert wurde, tatsächlich dazu führt, dass Heim-Betreiber, Einwohner und weitere Beteiligte konstruktiv miteinander ins Gespräch kommen, um das Ziel, das "über allem steht", nämlich die Integration der Behinderten in die Gesellschaft, erreichen zu können. 

"Im Einzelnen funktioniert es ja auch schon," so der Geschäftsführer. "Hier helfen Bewohner im Garten, dort bei der Ernte oder im Forst." Aber insgesamt ist das Verhältnis der Behinderten, der Heimleitung und der "normalen" Wustrower Bürger angespannt bis ablehnend. Unkenntnis über die Art der Krankheit sowie die Bedingungen der Behinderten-Betreuung mag bei allen Befürchtungen und Vorwürfen auch eine Rolle spielen.

So gehört es in Deutschland z.B. zum Grundprinzip der Betreuung von Behinderten, dass sie sich frei und ungehindert bewegen können - sofern sie nicht durch einen Unterbringungsbeschluss in eine geschlossene Einrichtung eingewiesen werden. Sie dürfen weder eingesperrt noch zwangsweise ernährt oder medikamentiert noch in der Wahl der Freizeitbeschäftigung behindert werden.

Wie Staatsanwältin Dagmar Freudenberg, die als Vorsitzende des Landespräventionsrates die Veranstaltung moderierte, erläuterte, sichert ein Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13.12.2006 den Behinderten ein Recht auf Freiheit zu. Und sie wies auch darauf hin, was viele im Saal offenbar vergessen hatten: "Das was hier passiert ist, ist eine Straftat. Und wird auch als solche geahndet werden." Der mutmaßliche Täter wird sich einem Strafprozess stellen müssen - Gutachter werden entscheiden, ob er für seine Tat als voll schuldfähig anzusehen ist oder nicht. Wie in jedem anderen Strafverfahren auch, in dem die Schuldfähigkeit eine Rolle spielt.

Ein Strafverfahren, wenn auch wesentlich geringeren Ausmaßes, wird auch diejenigen erwarten, denen nachgewiesen werden kann, dass sie die Reifen des pädagogischen Leiters der LeBe Theo Wickmann zerstochen haben. Wie in der Nacht nach der Veranstaltung geschehen.

Wie gesagt: Bis zur wahren "Inklusion" ist es in Wustrow noch ein weiter, weiter Weg. Beide Seiten werden einiges dazu tun müssen, damit der Traum Wahrheit wird.

Foto / Angelika Blank: Rund 300 Interessierte fanden sich am Donnerstag Abend im Dorfgemeinschaftshaus Wustrow zur Infoveranstaltung über die Behinderten-Wohnheime der LeBe Mechau ein.





2013-08-16 ; von Angelika Blank (autor),
in Wustrow (Wendland), Deutschland

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