Am Montag wird Marianne Fritzen 90 Jahre alt. Mehr als ein Drittel ihres Lebens widmete sie dem Kampf gegen die Atomanlagen in Gorleben - und wurde dabei zu einer der Gallionsfiguren des wendländischen Widerstands.
1957, als Marianne Fritzen in den Landkreis kam, war dieser Landstrich noch ein Anderer: geprägt von landwirtschaftlichen Betrieben, fanden politische Auseinandersetzungen allenfalls am Stammtisch statt. Frauen spielten dabei keine Rolle. Die CDU hatte die absolute Mehrheit, was sie auch in der Katholischen Kirche widerspiegelte, in der Marianne Fritzen zeitlebens sehr aktiv war.
Bis zu dem denkwürdigen Tag im Jahre 1972, als bekannt wurde, dass in Langendorf ein Atomkraftwerk gebaut werden sollte. Seitdem hat sich das Leben der Mutter von fünf leiblichen und zwei Stiefkindern massiv geändert.
In der Katholischen Kirche hatte Marianne Fritzen das Bildungswek mitgegründet, Jugendgruppen initiiert und sich für die Gleichstellung interkonfessioneller Ehen eingesetzt. Sie war im Kirchenvorstand und einige Jahre Vorsitzende des Pfarrgemeinderates. Doch als sie mit ihrem Ansinnen, eine Informationsveranstaltung über die Atompläne im Landkreis im Rahmen der Kirche zu veranstalten, bei ihren CDU-Kollegen auf harsche Ablehnung stieß, war Schluss mit der ehrenamtlichen Arbeit für die Kirche. "Da waren unsere CDU-Herren ganz anderer Meinung als ich. Damals war die Katholische Kirch ja noch stramm auf Pro-Atom-Kurs." so Marianne Fritzen. "Dieser komische Atomkram hat seitdem immer mehr mein Leben bestimmt."
Die katholische Kirche - zumindest im Bistum Hildesheim - hat längst die Atomkraft als "gegen die Schöpfung gerichtete" Technologie erkannt. Nicht zuletzt entsendet sie einen eigenen Vertreter in die einzurichtende Endlagerkommission. Für Marianne Fritzen eine späte Genugtuung nach all den Jahren des Kampfes.
Mit Augenmaß und Leidenschaft
Mann und Kinder trugen das intensive politische Engagement mit Fassung, gehörten doch politische Diskussionen und gesellschaftliche Beteiligung in der Familie schon immer zum Alltag. Für den wendländischen Widerstand war dieser Einsatz ein "Glücksfall", wie es die heutige EU-Fraktionsvorsitzende der Grünen, Rebecca Harms, anlässlich der Verleihung des Petra-Kelly-Preises an Marianne Fritzen im Jahre 2010 nannte. "Zum Glück für uns alle hattest du nicht nur reichlich Erfahrungen mit sehr verschiedenen Menschen mit sehr expliziten Meinungen," so Harms damals. "Zum Glück für uns hattest du zudem reichlich aber nicht unendliche Geduld. Dein Respekt und deine Toleranz vor Anderen konnten sehr abrupt enden, wenn Autoritäten hohl oder Hierarchien unbegründet waren. Zum Glück für uns führtest dein (Ehren!)Amt mit Verantwortung, mit Augenmaß und mit einer Leidenschaft, die die andere Seite oft unterschätzte. " (hier! ist die gesamte Laudatio nachzulesen).
Diese Fähigkeiten brachten Marianne Fritzen nicht nur in das - jahrelang ausgeübte - Amt der BI-Vorsitzenden, sondern auch in den Kreistag des Landkreises Lüchow-Dannenberg sowie in das Amt der stellvertretenden Bürgermeisterin von Lüchow.
Auch Auseinandersetzungen mit den Berühmten und Mächtigen der Republik hatte sie nie gescheut. Strickmütze und Wintermantel wurden beinahe zu ihrem Markenzeichen, wenn sie sich mit Politikern wie Ernst Albrecht, Gerhard Schröder oder Jürgen Trittin öffentlich stritt. "Das sind auch nur Menschen wie Du und ich, habe ich mir immer gesagt," zuckt Marianne Fritzen mit den Schultern. "Da habe ich nie Angst gehabt, ihnen auch öffentlich meine Meinung zu sagen."
Dabei trennt sie fein säuberlich zwischen politischer Auseinandersetzung und persönlicher Freundschaft. Auch das eine Philosophie, die ihr höchsten Respekt einbrachte. "Wir haben verschiedene Rollen. Die haben eine Rolle zu vertreten, die politische. Ich habe eben die andere Rolle. Da geniere ich mich nicht, mich mit ihnen auseinandersetzen," so Marianne Fritzen.
"Immer den Menschen im Auge behalten"
Als sie im Jahre 2000 enttäuscht und wütend die - von ihr mitgegründete - Grüne Partei wegen des Kosovo-Krieges und des Atomkonses verließ, war es Jürgen Trittin wichtig, sie persönlich zu besuchen und ihre Gründe für den Austritt zu erfahren. Auch viele andere Freundschaften aus der Zeit sind bis heute erhalten geblieben - auch wenn es in politischen Fragen auch heute noch heiß her geht. "Da habe ich bestimmt manchen Leuten auf den Schlips getreten," ist sich Marianne Fritzen bewusst - und bereut dennoch nichts.
Schon früh war der Horizont der Kolbornerin weiter als der von so manch Anderem. Im Elsass geboren, wuchs sie mit zwei Sprachen auf. Später lernte sie den Sinologen und Musikwissenschaftler Joachim Fritzen kennen, mit dem sie einige Jahre nach Taiwan ging, wo ihr Mann an der Deutschen Schule unterrichtete. Auch einige der Kinder wuchsen in Taiwan auf. Erst 1968 kehrte die Familie endgültig nach Deutschland zurück. Noch heute gehört ihre Liebe dem Chinesischen und der französischen Sprache.
Hat der Widerstand gegen ein Atomendlager in Gorleben ihr Leben verändert? Da kommt die beinahe 90-jährige etwas ins Zögern. "Ich habe darüber nie nachgedacht," sagt sie dann nach etwas Nachdenken. "Es war immer soviel zu tun, dass man nicht überlegte, warum man etwas gerade tut." Außerdem hat sie keine Vorstellung, wie ihr Leben wohl verlaufen wäre, wenn es die Pläne für ein Endlager in Gorleben nicht gegeben hätte. Das Problem war eben da - und es galt, sich dagegen einzusetzen. Punkt.
Fast ein Jahrhundert soziale Bildungsarbeit
1924 - da war der erste Weltkrieg gerade sechs Jahre vorbei, 15 Jahre später sollte der zweite Weltkrieg beginnen. Wegen ihres deutschen Vaters durfte die junge Französin nicht in Paris studieren. "Überhaupt war das damals eine ganz andere soziale Gesellschaft," erinnert sich Marianne Fritzen. "Gerade für Mädchen waren die Perspektiven nicht sonderlich vielfältig. Meine Kinder und auch einige Enkelkinder haben eine akademische Ausbildung. Das war vor 90 Jahren überhaupt nicht selbstverständlich." Da habe sich auch in sozialer Hinsicht vieles zum Positiven verändert, ist Marianne Fritzen überzeugt - vor allem für Frauen. "Im Landkreis ist es zwar nicht so sichtbar. Aber auf Landesebene sind doch inzwischen viele Frauen in Führungspositionen."
Nicht umsonst galt Marianne Fritzens Engagement deshalb schon früh der sozialen Bildungsarbeit - zunächst in der Katholischen Kirche. Später führte sie eine Bewegung an, die bundesweit für Aufsehen sorgte - und letztendlich nicht unmaßgeblich an dem Scheitern der Atompläne für Gorleben beteiligt war. Es war vor allem der massive öffentliche Protest, ausgehend vom wendländischen Widerstand, der Ernst Albrecht 1979 dazu veranlasste, das nukleare Wiederaufbereitungszentrum in Gorleben als "politisch nicht durchsetzbar" einzustellen. Schon damals, beim legendären Traktoren-Treck nach Hannover, war Marianne Fritzen in der vordersten Reihe. Dabei galt ihr Einsatz nicht nur dem politischen Kampf, sondern immer auch einem toleranteren Miteinander.
"Früher habe ich mehr gelesen"
Bereut Marianne Fritzen etwas? "Nö", ist die schlichte Antwort. "Ich mache weiter so, solange es geht. Mein Leben ist durch den Widerstand sehr bereichert worden. Früher allerdings habe ich mehr gelesen, mehr
Musik gemacht - aber dieser komische Atomkram hat mich dauernd beschäftigt."
Was Marianne Fritzen aber nicht davon abhält, sich heute noch öffentlich gegen die Atompläne auszusprechen - solange ihre Gesundheit es zulässt.
Foto / Kina Meyer ... publixviewing.de: So kennt der wendländische Widerstand "unsere Marianne": Unbeugsam und kompromisslos kämpft die bald 90-jährige seit über 40 Jahren gegen die Atompläne für Gorleben. Hier bei ihrer Rede zum 35. Jahrestag der Standortbenennung Gorlebens im Jahre 2012 (im Hintergrund der Schachtturm des Erkundungsbergwerks)