Die einen sprechen von einer echten Zäsur in Gorleben, für die anderen ist nur eine Pause auf dem Weg zum atomaren Endlager: Am Dienstag fand die letzte Besucherfahrt in das Erkundungsbergwerk von Gorleben statt. Die letzte Fahrt ins Salz wurde begleitet vom Diplom-Geologen Christian Islinger, ein Mann der ersten Stunde, der die Besuchergruppen seit 1997 durch das unterirdische Labyrinth leitet.
Wie oft sich die Türen des Seilgezogenen Gitterkastens, der in die Tiefen des Salzstocks von Gorleben führt, rasselnd hinter ihm geschlossen haben, vermag Christian Islinger nicht zu sagen. 200 Fahrten in die Tiefe machte er im Durchschnitt - pro Jahr. Der 52-jährige Diplom-Geologe mit dem unüberhörbar bayerischen Akzent hat seine langen grauen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Er hat seinen eigenen Helm und einen weißen Overall an. Die Besucher müssen sich in rote Anzüge zwängen, bekommen schwere Stiefel, Schutzhelme mit LED-Lämpchen und einen Sauerstoff-Selbstretter.Die Fahrten in den Salzstock von Gorleben begannen immer mit einem Ritual: Die Besucher stellen sich draußen für ein Gruppenfoto auf. "So, das war's, nun können Sie sich wieder umziehen", so Islinger bei dieser letzten aller Fahrten. Alle lachen. Er machte den Gag jedesmal, "und er funktionierte immer". Bei der obligatorischen Sicherheitseinweisung geht es auch dieses Mal zu wie in der Schule: Wer redet, wird von Islinger per Fingerzeig ermahnt. Alle müssen zuhören.
Früher musste Islinger die Sicherheitsausrüstung für die Besuchergruppen noch wie ein Steward im Flugzeug vorführen. In der letzten Zeit übernahm das ein Videofilm auf einem großen Flachbildschirm, der im Treppenhaus des Hauptgebäudes der Festung Gorleben hängt. Wer hier rein will, musste zahlreiche Sicherheitsbarrieren überwinden: Im weiträumig umzäunten Bereich warteten die ersten Wachmänner, es folgt ein Tor, danach ein weiteres, gewaltiges Tor: die Nahtstelle in der kilometerlangen Schutzmauer. Jeder Besucher konnte hier nur einzeln eintreten. Immerhin wurden in den vergangenen Jahren die Wasserkanonen rund um das Erkundungsbergwerk abgebaut - erste sichtbare "Abrüstung" im Jahrzehnte alten Atomstreit, in dessen symbolischem Zentrum Gorleben steht. Immer noch umkränzt aber messerscharfer Nato-Draht die hohe Betonmauer.
"Die martialische Präsentation dieses Standortes ist ein Riesenfehler", sagt Wolfram König. Der Präsident des Bundesamtes für Strahlenschutz ist überraschend am Morgen in Gorleben aufgetaucht, um an der letzten, vom Betriebsrat organisierten Besucherführung teilzunehmen. König will Flagge zeigen - immerhin hat sein Haus angeordnet, die Befahrungen im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit einzustellen. "Wir müssen dieses Geld aus mehreren Gründen einsparen", erläutert König: "Diese Fahrten kosten rund 500.000 Euro pro Jahr. Gorleben ist kein Schaubergwerk, und die Fahrten sind wegen des Standortauswahlgesetzes nicht mehr nötig. Wir wollen kein Präjudiz für den Standort schaffen. Und der Offenhaltungsbetrieb muss auf vertretbare Kosten reduziert werden." König will auch den festungsartigen Komplex auf einen "industriellen Maßstab" zurück bauen lassen - ohne Mauer, ohne Nato-Draht.
Ein letztes Mal Abenteuerausflug in den Erkundungsbereich
Dann stapft die Gruppe die Treppe hoch, es geht durch den
tunnelartigen "Übergang" zu Schacht 1. Wieder Sperren, doppelt
gesicherte Türen.
Aufgeregt drängen die geologisch interessierten Rentner aus
Schleswig-Holstein in den winzigen Fahrstuhl, der sie in zwei Minuten
auf 840 Meter Tiefe bringt. Die Gruppe hat sich vor einem Jahr für die
Fahrt angemeldet und hatte Glück: Sie sind die definitiv letzten
Besucher, die das Bergwerk zu sehen bekommen. Der Fahrstuhl muss dreimal
fahren, bis alle unten sind.
Wenn der große Fahrstuhl für Salztransporte genutzt wird - was zur Zeit der Fall ist - dann heißt es zusammenrücken: Die Gäste werden in enge, übereinander gestapelte Käfige gedrängt. Im "Notfahrstuhl" kommt man sich - ungewollt - näher, inklusive Abenteuerstimmung. Unten angekommen, sind viele Besucher verblüfft über die Größe von Halle 1.
Fahles Licht empfängt die Besucher, und eine warme, salzig-dunstige Atmosphäre. Nach einer kurzen Erläuterung warten schicke gelbe Mercedes-Geländewagen auf die Gäste. Die Gefährte wurden hier unten in Einzelteilen angeliefert und wieder zusammengebaut, wie jede der teils riesigen Maschinen, die im Salz rumoren. Die Sicherheitstore öffnen sich automatisch, wenn Islinger an einem Seil zieht, was von der Decke baumelt. Gestoppt wird an markanten Punkte wie dem Anhydrit-Austritt oder der Stelle, wo Erdöl seh- und riechbar zu Tage tritt. An einer Stelle hält die Gruppe länger: Die „Gorlebener Bank" ist eine Gesteinsformation, wo sich das Salzgebirge leicht verschiebt. Eine Messeinrichtung dokumentiert mechanisch die fortschreitende Bewegung: ein Zentimeter pro Jahr.
Begonnen wurde die Besucherbefahrung traditionell über Tage mit einem Vortrag, Kaffee und Getränke standen bereit. Aber diesmal sagt Christian Islinger zur Begrüßung: "Willkommen im ehemaligen Erkundungsbergwerk". Betretene Mienen bei den Rentnern. Sie ahnen, dass die Mitarbeiter sich neue Stellen suchen müssen. Christian Islinger referiert kenntnisreich über die Entstehung der Steinsalz-Lagerstätten, die vor mehr als 250 Millionen Jahren in einem Flachwassermeer, dem sogenannten Zechsteinmeer, in weiten Teilen der Nordsee, Norddeutschlands und Polens entstanden. Wegen der höheren Plastizität und der geringeren Dichte im Vergleich zum umgebenden Sedimentgestein wurde an etlichen Stellen das Salz in sogenannten Salzdomen nach oben gedrückt. Auf diese Weise entstand auch der Salzstock von Gorleben. Die Erkundungen im Salzstock sollten ermitteln, ob sich die Steinsalzformation für eine Endlagerung von hochradioaktiven Abfällen aus Atomkraftwerken eignet.
Von der "Unterbrechung" zur Schließung?
Eine Standortentscheidung für ein Endlager steht immer noch aus in Deutschland. Für die staatliche Aufgabe, diese Endlager einzurichten, ist das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) zuständig. Im Juli 2013 trat das Standortauswahlgesetz für die Suche eines solchen Endlagers in Kraft. Von 1979 bis 2000 wurde der Salzstock Gorleben auf seine Eignung als Endlager für hochradioaktive Abfälle untersucht. Als Folge des Atomausstiegs im Jahr 2000 wurden die Erkundungsarbeiten zwischen Oktober 2000 bis September 2010 ausgesetzt - das so genannte Gorleben-Moratorium.
Mit dem zwischen der rot-grünen Bundesregierung und den Energieversorgungsunternehmen vereinbarten zehnjährigen Moratorium begann die Unterbrechung der untertägigen Erkundung in Gorleben. Dieser Zeitraum sollte genutzt werden, um sicherheitstechnische Fragen zur Endlagerung zu klären: Die Beherrschung der Gasbildung, die durch die Korrosion der Behälter und Zersetzung der Abfälle auftritt, und die Eignung von Salz als Wirtsgestein im Vergleich mit anderen Gesteinen wie Ton und Granit. Im November 2012 wurden die Erkundungsarbeiten im Salzstock Gorleben erneut gestoppt, um die parteiübergreifenden Konsensgespräche über ein Standortauswahlgesetz nicht zu gefährden.
Und schließlich wurden die bergmännischen Erkundungsarbeiten in
Gorleben mit Inkrafttreten des Standortauswahlgesetzes am 27. Juli 2013
beendet. Nach wie vor wird aber der Salzstock Gorleben, wie jeder andere
für ein Endlager in Betracht kommende Standort, in das
Standortauswahlverfahren
Endlager? "Nicht mehr in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts"
Nach Zeiträumen befragt, zuckt Islinger nur mit den Schultern. "Offiziell sollen wir bis 2031 einen Standort in Deutschland haben. Aber - ist das realistisch? Und wann haben wir dann ein Endlager? Meine private Meinung: Nicht mehr in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts!"
Islingers Fazit nach der bisherigen Erkundung fällt nüchtern aus. "Mir ganz persönlich wäre ein "schlechtes" Endlager lieber als ein "gutes" Zwischenlager. Denn wir gehen das Risiko ein, noch Jahrzehnte mit den Zwischenlagern leben zu müssen, nur um den "besten" Endlager-Standort zu finden, nicht nur einen "geeigneten"! Und wir werden nie "den besten" Standort bekommen."
Islinger, der dem Betriebsrat angehört, hat Glück im Unglück. Der Vater zweier erwachsener Söhne bekommt eine neue Stelle als Geologe: Ab dem 1. Januar 2015 auf Schacht Konrad in Salzgitter, "dort arbeite ich wieder als Betriebsgeologe. Konrad soll 2022 in Betrieb gehen, als Endlager."
Ist das ein Einschnitt in seinem Leben? "Ja. Das hier ist mein Bergwerk", sagt Islinger traurig. Hier hat er gleich nach dem Studium in Erlangen angefangen, vor 25 Jahren. Zehn Jahre war er hier als Geologe tätig. Dann begann er, eher zufällig, die Besucherfahrten zu begleiten. Viele der Besucher waren mit Islinger im Bergwerk. Vor fast allen hat er über seine Arbeit und die seiner Kollegen referiert. "Die Öffentlichkeitsarbeit - da hängt mein Herzblut dran. Die Grünen haben mal kritisiert, unsere Arbeit wäre nicht neutral. Natürlich sind wir nicht neutral - aber wird sind sachlich. Nach 25 Jahren kann man nicht neutral sein. Ich wollte immer, dass die Leute verstehen, was hier passiert, das sie ein Gefühl dafür bekommen."
Und was erwartet den Dannenberger nun? Christian Islinger wird
künftig zwischen dem Wendland und Salzgitter pendeln, dort eine kleine
Wohnung beziehen. Seine Frau, die in Salzwedel arbeitet, wird er nur am
Wochenende sehen. Um sein Haus und den großen Garten kann er sich auch
nur dann kümmern. "Was soll's, besser als arbeitslos", meint der
52-jährige lakonisch. Und: "Sag zum Abschied leise Servus".
Foto / Björn Vogt: Für den Geologen Christian Islinger (rechts Mitte) war es vorerst die letzte Schachtfahrt, bei der er einer Besuchergruppe die Details des Erkundungsbergwerks erklären konnte. Ab 1. Oktober ist das Erkundungsbergwerk für Besuchergruppen gesperrt.