Weihnachten steht vor der Tür. Von der Geburt Jesu berichtet die Bibel, aber in diesem Zusammenhang auch von einem grausamen Geschehen: König Herodes lässt in und um Bethlehem alle Jungen unter zwei Jahren umbringen. Um vor Ort über das Sterben kleiner Kinder durch Tyrannen-Willkür nachzudenken, bedarf es aber keiner Reise nach Israel. Auch in Lüchow-Dannenberg fanden ebenfalls Kinder durch ein Menschen verachtendes Regime oft in den ersten Lebensmonaten den Tod. ...
oder sie wurden in höchst gesundheitsgefährdendem Maße vernachlässigt. Dies geschah in so genannten „Ausländerkinder-Pflegestätten“. Solche „Heime“ waren auch in Lefitz, in Liepehöfen, in Nienhof bei Göttien und in Seerau/Lucie eingerichtet worden.
Dass es in diesen vier Orten Einrichtungen gab, in denen Kinder ausländischer Zwangsarbeiterinnen starben oder zumindest litten, wurde vielen - vor allem jüngeren - Menschen in der Region gewiss erst bekannt, als in Dannenberg, wie berichtet, der Stadtentwicklungsausschuss die Anlage eines Gedenkplatzes für Opfer der Hitler-Diktatur aus der Jeetzelstadt und ihrer Umgegend befürwortete. Eine Gedenktafel auf dem Platz soll auch an die Kinder erinnern, die infolge der schlimmen Zustände in einem solcher „Heime“, in Liepehöfen, ihr Leben verloren.
„Fremdvölkische“ Frauen zur Abtreibung gezwungen
Über 400 solcher Einrichtungen hat es seinerzeit in Deutschland gegeben, in ihnen kamen nach bisherigen Erkenntnissen etwa 50 000 Kinder zu Tode. „Die tatsächliche Opferzahl ist höher anzusetzen, da nach Kriegsende weitere Kinder an den Folgen der Isolierung in den 'Heimen' starben“, schreibt der Historiker Raimond Reiter in seinem Buch „Tötungsstätten für ausländische Kinder im Zweiten Weltkrieg“ (Hannover 1993, Verlag Hahnsche Buchhandlung, ISBN 3 775 258 752). Das Forschungs-Projekt „Krieg gegen Kinder“ spricht sogar von 100 000 Kindern, zählt dazu auch die ungeborenen, deren Mütter zu Abtreibungen gezwungen wurden. Während die Nazi-Macht den Schwangerschaftsabbruch bei deutschen Frauen im Interesse der „Lebenskraft des Volkes“ strengstens sanktionierte - bis hin zur Todesstrafe -, war die Abtreibung straflos, wurde sogar begrüßt, wenn sie die „Fortpflanzung minderwertiger Volksgruppen“ verhinderte. Zu jenen Gruppen zählten nach NS-Ideologie auch die „fremdvölkischen“ und „fremdrassigen“ Frauen, die im Kriegsdeutschland zur Zwangsarbeit herangezogen wurden – und ihre Kinder in den „Ausländerkinder-Pflegestätten“ abgeben mussten. In Niedersachsen, das ergaben die Untersuchungen von Raimond Reiter, gab es mindestens 58 derartige Unterkünfte, weitere 31 waren geplant. In ihnen waren bis zu 4000 Mädchen und Jungen untergebracht, von denen vermutlich rund 3000 infolge des „Heim“-Aufenthaltes starben.
SS-Mann empfiehlt schmerzlose Tötung der Kinder
Über die „Zukunft“ der Ausländerkinder gab es verschiedene Ansichten unter Entscheidungsträgern der Nazis: Die einen sprachen sich für die „Aufzucht“ der Kinder als künftige Arbeitssklaven aus, die anderen für den Tod der Kleinen. Ein SS-Gruppenführer vom „NSDAP-Hauptamt für Volkswohlfahrt“ zum Beispiel schrieb in dieser Sache an SS-Reichsführer Heinrich Himmler Wenn man nicht wolle, dass die Kinder am Leben bleiben, dann solle man sie nicht langsam verhungern lassen „und durch diese Methode noch viele Liter Milch der allgemeinen Ernährung entziehen“. Es gebe zur Tötung der Kleinen „Formen, dies ohne Quälerei und schmerzlos zu machen“. Der SS-Chef in Berlin war federführend bei der „Heim“-Aktion. Das Projekt „Krieg gegen Kinder“ resümiert in diesem Zusammenhang: „Die Anweisung Himmlers, die Kinder möglichst wenige Tage nach der Geburt von den Müttern zu trennen und in 'Ausländerpflegestätten einfachster Art' unterzubringen, kam einer Mordempfehlung gleich“.
Sommer 1944: Vier „Heime“ eingerichtet
Solch eine gezieltes, direktes Ermorden hat es in den vier Lüchow-Dannenberger „Heimen“ nicht gegeben. Wohl aber waren es die Krankheit fördernden Zustände, die – belegt ist dies für drei der Heime - zum Tode von Kindern führten. Heutzutage würde die Justiz in solchen Fällen vermutlich Tötungsdelikte „durch Unterlassen“ gegeben sehen. Zur Nazi-Zeit jedoch waren „fremdvölkische“ Menschen rechtlos. Durch Anordnungen der Hitler-Diktatur für das gesamte Deutsche Reich wurden in den Kriegsjahren die „Pflegestätten“ eingerichtet. In Lüchow-Dannenberg, damals Kreis Dannenberg, geschah dies im Sommer 1944. In einer Besprechung einigten sich der Landrat, Vertreter des Arbeitsamts und die Führung der Kreisbauernschaft, der die Trägerschaft der „Heime“ oktroyiert worden war, auf die Standorte Liepehöfen, Nienhof, Seerau und Lefitz.
Säugling gewaltsam der Mutter entrissen
Bis Kriegsende bestanden die „Pflegestätten“. Die in Lefitz geriet besonders ins Visier der Alliierten, wurde Gegenstand eines Kriegsverbrecher-Prozesses, der vom 18. März bis zum 1. April 1948 in Hamburg lief. Angeklagt waren die erste Heimleiterin der Einrichtung und die so genannte Kreisbäuerin, als Vertreterin der Kreisbauernschaft mit verantwortlich für das „Heim“. „Verhungernlassen und Misshandeln von Zivilpersonen“ - also Verstöße gegen die Haager Landkriegsordnung - warf die Anklage den Frauen vor. Die Prozessakten sind in London in den britischen National-Archiven einsehbar. Raimond Reiter hat sie für seine Arbeit „Tötungsstätten“ ausgewertet und dem entsprechend viele Details zum „Fall Lefitz“ aufgezeigt: Als Heimleiterin war im Sommer 1944 eine kaufmännische Angestellte eingesetzt worden, die weder Ausbildung noch Erfahrung in Kinder- und Säuglingspflege besaß. Unterstützt wurde sie von zwei ausländischen Helferinnen, die ebenfalls keine Fachkompetenz hatten und mit ihrer Arbeit völlig überfordert waren. Die in der Umgebung des Ortes lebenden Fremdarbeiterinnen wurden gezwungen, ihre Kinder in das „Heim“ zu bringen. Eine der ersten Frauen, denen dieses Schicksal widerfuhr, war eine Polin namens Vera: Als sie sich weigerte, ihren gerade erst drei Monate alten Sohn Pietr dem „Kinderlager“ - so nannte man die Unterkunft im Ort - zu überlassen, wurde ihr der Säugling gewaltsam entrissen. Vier Monate später war der Kleine tot; „Zahnkrampf“ stand als Todesursache in der Sterbeurkunde.
„Ausgezehrt - die kleinen Füße ans Bett gebunden“
Bis Januar 1945, als eine neue Heimleiterin ihren Dienst begann, starben weitere acht Kinder im „Lager Lefitz“. Die neue Leiterin berichtete später als Zeugin, ein Einwohner habe ihr erzählt, „dass die kleineren Kinder unter einem Jahr alle gestorben seien. Der Tod erfolgte plötzlich, und niemand konnte sich an die Todesursache erinnern“. Im Prozess gingen die Zeugenaussagen auseinander: Erinnerten sich mehrere Deutsche , das „Heim“ habe „sauber und ordentlich“ ausgesehen, erklärten ausländische Zeugen, das „Heim“ sei verdreckt gewesen, die Kinder krank und unterernährt. Ein polnischer Zeuge beispielsweise sagte unter Eid: „Das Kind war ganz ausgezehrt, und seine kleinen Füße waren an das Bett gebunden. Außerdem hatte das Kind blutende Wunden an seinen Beinen, Gesäß und Rücken von nassem Bettzeug, welches nur selten gewechselt wurde. Es war außerordentlich kalt im Lager, und die Füße und Hände der Kinder waren blau und angeschwollen“.
Hungrig und blaugefroren
Doch auch Deutschen war seinerzeit aufgefallen, wie entsetzlich schlecht es den Kindern im „Heim“ erging. Ein Bauer, der die Heimleiterin 1944 darauf aufmerksam machte und warnte, bei der Kälte im ungeheizten Schlafraum und bei der unzureichenden Ernährung würden die Kleinen bald sterben, wurde aufgrund dieser „Vorwürfe“ sogleich von der Heimleiterin angezeigt. Der Polizist, der sich mit der Anzeige befassen musste, sagte später aus: „Ich selbst hätte mein eigenes Kind nie freiwillig in ein derartiges Heim gegeben“. Das Sterben im „Heim“ sprach sich herum, auch bei den Fremdarbeiterinnen, und so erfuhr beispielsweise die Polin Zofia davon, die bei einem Wirt in Groß-Sachau arbeitete.
Als sie im Herbst 1944 aufgefordert wurde, ihren knapp einjährigen Sohn ins „Heim“ zu bringen, weigerte sie sich. Die Polizei erschien, mit der Gestapo wurde gedroht – auch Zofias Kind wurde ins „Lager“ geschleppt. Als die Mutter ihren Sohn besuchte - dies war nur Sonntags für zwei Stunden gestattet - fand sie ihn hungrig, blaugefroren und ohne Decke vor. Mutig nahm die Frau ihren Kleinen mit, flüchtete zu ihrer Arbeitsstelle und fand Mitleid bei der Frau des Gastwirtes: Diese bot an, das Kind in ihrem Haus unterzubringen. Doch die Heimleiterin erzwang, wieder mit Gestapo-Drohung und Polizei, die Herausgabe des Kindes. Der kleine Junge musste bis April 1945 im „Lager“ bleiben, starb kurz nach Ende des Nazi-Regimes. Zwar beschäftigten sich Ärzte und Gesundheitsamt mit den Sterbefällen in Lefitz - das endete aber mit dem Ergebnis, dass eine Infektion angenommen wurde, ausgelöst durch einen „Keim“, „der nicht identifiziert werden konnte“.
Von Läusen und Geschwüren befallen
Mut zeigte auch ein Hilfspolizist in Lefitz, der miterleben musste, wie unzureichend die Kinder ernährt wurden und wie schrecklich sie – in leichter und zerrissener Kleidung - unter der Kälte litten. Der Polizist konfrontierte die Heimleiterin mit diesen Missständen. Prompt wurde er von der Frau angezeigt, wieder winkte sie mit der Gestapo. Gegen Weihnachten 1944 gab die Leiterin ihren Dienst auf – eine Nachfolgerin kam. Sie schilderte später vor Gericht ihre ersten Eindrücke: „Die Kinder waren sehr blass, hatten Läuse und Geschwüre. Sie waren mehr oder weniger krank und in Bettstellen untergebracht, die vollständig mit Kot verunreinigt waren.“ Die neue Leiterin versuchte offensichtlich, die Zustände im „Heim“ so weit es ging zu bessern. Mit dem Erfolg, dass bis zur Auflösung des „Lagers“ im Mai 1945 dort kein Kind mehr verstarb.
Heimleiterin: Sechs Monate ins Gefängnis
Die erste Heimleiterin wurde im Kriegsverbrecherprozess in Hamburg 1948 zu einem halben Jahr Gefängnis verurteilt. Für die „Kreisbäuerin“ endete das Verfahren mit einem Freispruch. Aufsicht führende Stellen, etwa zuständige Ämter in Lüneburg, waren nicht angeklagt worden.
Tote Kinder auch in Liepehöfen und Seerau/Lucie
Die „Heime“ in den drei anderen Orten des damaligen Kreises Dannenberg wurden zwar im Prozess erwähnt, jedoch strafrechtliche Ermittlungen gab es dazu nicht. Für die Einrichtung in Liepehöfen ist belegt, dass dort sieben Babys starben, die zwischen 1944 und Kriegsende von ausländischen Müttern geboren waren. Die Kinder erreichten ein Lebensalter von zwei Monaten bis zu einem Jahr. Nur bei einem Kind ist die Todesursache urkundlich erwähnt: „beidseitige Lungenentzündung“.
In Seerau/Lucie waren rund 20 Kinder ins „Heim“ gezwungen worden, Vier bis fünf von ihnen sollen dort gestorben sein, berichtete der damalige Leiter des Gesundheitsamtes im Lefitz-Prozess. Zu der „Pflegestätte“ in Nienhof liegen keine Erkenntnisse über die Zahl der dort untergebrachten Kinder vor und auch keine Hinweise zu Todesfällen.
Was mit den Leichen der toten Kinder aus den „Heimen“ geschah, ist nur teilweise bekannt. Ein deutscher Zeuge, im Oktober 1947 von alliierten Kräften befragt, erklärte damals: „Ich habe festgestellt, dass sieben Gräber auf dem Friedhof in Clenze sind, ein Grab auf dem Friedhof in Gülden, ein Grab auf dem Friedhof in Groß Wittfeitzen und ein Grab auf dem Friedhof in Satemin. Diese Kinder sind alle aus dem Heim in Lefitz.“ W i e die Kinder beerdigt wurden ist nicht nachzuvollziehen; im Zusammenhang mit einer „Pflegestätte“ andernorts erinnert sich die ehemalige Inhaberin eines Bestattungsinstitutes: „Für uns war es immer erschütternd, die Kinder aus dem Lager zu holen. Meist waren sie in Panzerfaustkisten gebettet, manchmal nur in einem Pappkarton...“
Fotos: Gedenkstein auf dem Friedhof in Velpke;
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