Tiere und Pflanzen nehmen Besitz von der Dömitzer Eisenbahnbrücke
„Wer A sagt, muss auch B sagen – A wie Auto und B wie Bahn“: Mit diesen Worten forderte Niedersachsens damaliger Wirtschaftsminister Peter Fischer (SPD) am 18. Dezember 1992 auf der just freigegebenen neuen Dömitzer Straßenbrücke, „die Schienenverbindung Dannenberg-Dömitz-Ludwigslust in den neuen Bundesverkehrswegeplan aufzunehmen“. Im Klartext: Eine neue Bahnbrücke möge gebaut werden; in etwa dort, wo am 20. April 1945 amerikanische Flieger den Eisenbahnüberweg bombardierten. Nicht wenige Optimisten teilten des Ministers Wunsch – trotz der Bedenken aus dem Bundesverkehrsministerium, das gemahnt hatte: Eine neue Bahnbrücke würde mehr als 1 Milliarde DM kosten, und das sei aufgrund des zu erwartenden schwachen Verkehrsaufkommens nicht vertretbar. Der Wunsch Peter Fischers und vieler anderer blieb unerfüllt, das Interesse an der Bahnbrücke jedoch ist ungebrochen: Weitaus mehr Besucherinnen und Besucher als erwartet, waren am Sonntag ins Panoramacafé nach Dömitz gekommen, erlebten einen Vortragsabend zum Thema „Die Dömitzer Eisenbahn-Elbbrücke – Denkmal und Mahnmal“.
Eingeladen hatten das Museum Festung Dömitz und der Dannenberger Arbeitskreis für Landeskunde und Heimatpflege (DALAH). Dessen Vorsitzender, Helmar Süßenbach, kennzeichnete den Zustand - und wohl auch die Zukunft - der Brücke: „Ihr Verfall schreitet unaufhaltsam voran.“ Die ganze Stahlkonstruktion sei von Rost befallen, aus einem der Brückenpfeiler wachse mittlerweile eine Birke heraus, sprenge das Mauerwerk, und auch an vielen anderen Stellen nehme Bewuchs zunehmend Besitz von der Brückenruine. Für Biologen wäre es gewiss interessant, zu untersuchen, welche Pflanzen und Tiere sich im Laufe der Jahrzehnte an und auf dem ehemaligen Elbüberweg angesiedelt haben.
Für die Tierwelt, die sich noch vor Gründung des Deutschen Kaiserreichs im Elbvorland bei Dömitz und Kaltenhof tummelte, war es am 8. September 1870 mit der Ruhe vorbei: Der erste Spatenstich zum Bau der Eisenbahnbrücke wurde gefeiert, Ingenieure und Arbeiter rückten an, der Bau des im Jahr zuvor beschlossenen Großprojekts für die Bahnstrecke Berlin-Dannenberg-Hamburg begann. Auch Lenzen war damals als Brückenstandort in der Diskussion, erinnerte Museumsleiter Jürgen Scharnweber in seinem Vortrag. Doch die zuständigen Stellen entschieden sich für Dömitz – wegen des festen Baugrundes und auch aus militärischen Gründen: In der Festung waren Soldaten stationiert, die im Kriegsfall die Brücke als strategisch wichtigen Überweg hätten schützen sollen. Die selbe Überlegung führte auch zum Bau der „wehrhaften“ Brückenhäuser mit Schießscharten und Kasematten. Zum Kampf gegen Angreifer aber wurden Soldaten nie eingesetzt an der Bahnbrücke – wohl aber gegen Arbeiter aus dem eigenen Land: Beim Brückenbau unter katastrophalen Arbeitsverhältnissen war es zu schweren Unfällen gekommen; der Unmut der Bauleute darüber entwickelte sich zu Unruhen – Militär wurde herbei befohlen, unterdrückte das Aufbegehren der Arbeitsleute. Am 18. Dezember 1873 fuhr der erste Personenzug über die 1050 Meter lange, rund 3,6 Millionen Reichsmark teure Brücke. Unzählige Züge folgten – fast 72 Jahre lang.
Wer zerstörte die Eisenbahnbrücke am 20. April 1945, an dem auch die benachbarte Straßenbrücke in Trümmer gelegt wurde, nun wirklich? War es die Deutsche Wehrmacht mit Sprengladungen, wie manche Zeitgenossen wissen wollen – oder waren es US-Bomben? „Beide haben die Zerstörung der Bahnbrücke bewirkt“, beantwortete Oliver Eicke aus Quickborn, der sich mit der Brücke aus militärhistorischer Sicht befasst, diese Frage, denn: Die Wehrmacht habe Brückenbögen und -pfeiler mit Sprengladungen gespickt, diese aber nicht gezündet. Am 20. April hätten dann amerikanische Flieger die Brücke bombardiert, um der Wehrmacht einen wichtigen Weg abzuschneiden. Durch dieses Bombardement seien auch die deutschen Sprengladungen detoniert.
Die Brückenreste dienten in den folgenden Jahren sowohl den Grenzorganen der DDR als auch dem Bundesgrenzschutz als Beobachtungspunkte, blickte Dieter Joachim Felber aus Dannenberg zurück. Der ehemalige BGS-Präsident erinnerte an Ereignisse, die im Zusammenhang mit der zwischen Ost und West strittigen Frage um den Grenzverlauf in der Elbe standen, etwa an die Fahrt des bundesdeutschen Vermessungsschiffs „Kugelbake“, dessen Peilarbeiten 1966 von DDR-Einsatzbooten so behindert wurden, dass BGS-Kräfte eingriffen und britische Truppen bei Gorleben demonstrativ mit Panzern auffuhren. Der Konflikt endete friedlich, „kein Schuss fiel“, so Felber.
Es ist still geworden um die Bahnbrücke. „Gepflegt“ wurde sie ein letztes Mal 1958: DDR-Kräfte versahen „ihre“ Bückenbögen mit einem Schutzanstrich. Im Westen geschah nichts zum Erhalt der Brücke. Trotz der Proteste aus Politik und Bevölkerung ließ die Bundesbahn 1978 die Brückenreste im Flussbereich beseitigen, Argument: Korrosion und Gefährdung des Schiffsverkehrs. Neun Jahre später hieß es auf Dömitzer Seite: Abriss aller noch verbliebenen Brückenteile.
Die Brücke rottet vor sich hin. Ein Bauwerk, das immer wieder Kunstmaler, Literaten und auch Filmschaffende inspirierte. Wie Axel Kahrs, Literaturwissenschaftler aus Lüchow, das Vortragspublikum wissen ließ, zählte auch Hildegard Knef zu denen, die der zerstörte Elbüberweg faszinierte, 1948, als sie an der Brücke weilte: Dreharbeiten zum „Film ohne Titel“ waren dort angesagt. Die Autoren Nicolas Born, Guntram Vesper, der Liedermacher Walter Mossmann („Gorleben-Lied“) und viele andere haben sich in ihren Werken jener Brücke gewidmet, die Kahrs treffend kennzeichnete als „einer der einsamsten Orte Deutschlands“.