Es kommt einem ebenso grotesk und absurd vor wie ein notwendiger, aber seit Jahren nicht stattfindender Umbau einer lebensgefährlichen Straßenkreuzung: Ein gesetzeskonformer Hochwasserschutz entlang der Elbe ist bei größeren Vorhaben offenkundig nicht mehr unterhalb einer Planungs- und Bauzeit von 10 Jahren zu haben. Geplante Ausbauten der Elbedeiche bei Neu Darchau, zwischen Wussegel und Damnatz sowie alternative Konzepte für die Seegeniederung zeigen, wie weit die staatliche Selbstblockade inzwischen geht.
Einerseits verlangen die Gesetze von den zuständigen Deichverbänden und Landkreisen einen angemessenen Hochwasserschutz, der mindestens die zuletzt erreichten maximalen Fluthöhen berücksichtigt. Nichts anderes bedeuten die von Landesbehörden vorgegebenen und aktualisierten „Bemessungswasserstände“ für gefährdete Gebiete. In der Jahrzehnte lang verfolgten Logik der Kanalisierung von Flussläufen (‚Deichomatik‘) hieß das fast immer: Erhöhung vorhandener Deichstrecken.
Andererseits haben die gleichen Parlamente Gesetze zum Schutz von Gewässern, bedrohten Arten und Biotopen beschlossen, die oft in direkter Nachbarschaft von inzwischen untauglichen Deichstrecken liegen. Diese Flächen können daher nicht umstandslos für Deicherhöhungen (damit zugleich auch Verbreiterungen der Deichbasis) und andere Umbaumaßnahmen zum Hochwasserschutz genutzt werden. Für dennoch unvermeidliche Bauvorhaben auf geschützten Flächen müssen nach EU- und Bundesrecht Ausgleichs- und Kompensationsflächen im Nahbereich zur Verfügung gestellt werden – doch solche sind kaum noch verfügbar. Denn diese müssen bestimmte Anforderungen erfüllen hinsichtlich Lage, Bewuchs, Bewirtschaftung uam.
Erst hat man die Elbe und die Unterläufe ihrer Zuflüsse – überwiegend aus wirtschaftlichen Gründen – weitläufig durch Deiche eingemauert, die über die Jahre immer höher und immer breiter gebaut werden mussten. Und dann hat man aus Umweltschutzgründen immer mehr angrenzende Flächen unter Schutz gestellt – oft viel zu spät, weswegen große Flächen mit Auenwäldern zerstört wurden. Deichomatik und Naturschutz wirkten gleichsam in konfliktreicher Koexistenz und waren zu Kompromissen verdammt. Beispielhaft dafür steht die seit Jahrzehnten – schließlich auch im Bundestag – heftig ausgetragene Kontroverse um ein geschlossenes Zukunftskonzept für die Elbe: brauchen wir z.B. eine angeblich wirtschaftlich notwendige Vertiefung der Fahrrinne und Buhnenausbauten – oder vielmehr Rückverlegungen von Deichen und eine Renaturierung von Uferstrecken (auch Auenwäldern) entlang der Mittelelbe? (Siehe dazu auch den früheren Beitrag Nr. 55 hier im Blog.)
Inzwischen sind die Handlungsspielräume für einen Naturschutz-gemäßen Hochwasserschutz und umgekehrt so gering, dass man von Selbstblockade sprechen kann; und weil vorgeschriebene Kompensationsmaßnahmen so kompliziert abzuwägen sind, dauern aktuelle Hochwasserschutzprojekte immer länger. Als Faustformel kann man inzwischen sagen: unter zehn Jahren geht nichts mehr. In Gartow hat es allein fünf (!) Jahre gedauert, die technische und rechtliche „Machbarkeit“ von zwei Hochwasserschutz-Varianten für die Seegeniederung in zwei umfangreichen Studien untersuchen zu lassen und die Ergebnisse öffentlich zu diskutieren. Gewiss sind das wertvolle Vorarbeiten; doch in diesen 5 Jahren konnte nicht eine Planungszeichnung für eine reale Bauplanung erstellt und nichts Verbindliches vereinbart werden. Im benachbarten Vietze haben die Behörden einen begonnenen Deichbau einfach nicht fortgesetzt und in denselben 5 Jahren notwendige Anschlussarbeiten hinausgeschoben.
Nach der letzten großen und bislang höchsten Elbeflut im Juni 2013 – also vor inzwischen 9 Jahren – musste das Land neue, höhere Werte für das Elbe-Bemessungshochwasser am Höhbeck und anderswo festlegen. Doch daraus folgte bis heute nur sehr wenig Konkretes, insbesondere für größere Projekte mit besonderen Herausforderungen: über die Untersuchung von Machbarkeiten an der Seege ist man nicht hinaus gekommen. Ähnlich ist die Situation in Neu-Darchau, dort zusätzlich kompliziert durch die strittige Debatte um eine neue Elbbrücke. Die eigentlich abgeschlossenen Planungen für den Deichausbau zwischen Wussegel und Damnatz wiederum konnten bislang nicht beginnen, weil die zuständige Genehmigungsbehörde die vorgeschlagenen Ausgleichsflächen nicht akzeptiert.
Ist das alles noch Umsetzung von Recht und Gesetz – oder eher staatliches Nichthandeln und Behördenversagen, das in anderen gesellschaftlichen Bereichen längst zu Krawallen geführt hätte?
Ein absurdes Szenario – aber real
Man vergleiche die Situation mit einer gefährlichen Straßenkreuzung: trotz umfangreicher Vorschriften in der Straßenverkehrsordnung und zusätzlich aufgestellter Warnschilder kommt es dort immer wieder zu schweren Unfällen, auch mit Personenschäden. Also ist klar: Gehwege, Fahrradspuren und ein Kreisverkehr oder eine Ampelanlage müssen her, mindestens! Aber viele Jahre lang passiert, außer weiteren Unfällen – nichts!
Denn zahlreiche Vorschriften des Landes, des Bundes und der EU schützen die direkt angrenzenden Flächen mit wertvollen Biotopen. Also werden Machbarkeitsstudien zu Umbauvarianten und Gutachten erstellt, Diskussionsrunden und Konferenzen darüber abgehalten, Abstimmungen im Gemeinderat. Doch niemand hat eine Vorstellung davon, wie lange diese aufwändige Prozedur noch dauern wird und ob am Ende überhaupt ein akzeptables, im Amtsdeutsch: „genehmigungsfähiges“ Planungsergebnis erzielt wird. Und in all diesen Jahren können theoretisch jeden Tag weitere „Unfälle“ passieren; einige passieren tatsächlich und steigern die Wut der Betroffenen.
Natürlich ist das ein absurdes Szenario – denn niemals könnte in unserem Land eine erwiesenermaßen lebensgefährliche Straßenkreuzung länger als 18 Monate einer empörten Öffentlichkeit widerstehen sowie einer nachfolgenden Umbauplanung mit astreinem Planfeststellungsverfahren. Notfalls würde sie einfach abgesperrt wegen „Gefahr im Verzug“ – funktioniert aber leider nicht bei Fließgewässern. Der Vergleich kann vielleicht verdeutlichen, wie unterschiedlich Gefahren und Sicherheitsdefizite entlang von Flüssen einerseits und im Straßenverkehr andererseits wahrgenommen werden. Heinrich König vom Niedersächsischen Landesbetrieb für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz (NLWKN), seit vielen Jahren zuständig für Hochwasserschutzprojekte in unserem Landkreis, beschrieb die Problematik vor einigen Wochen folgendermaßen: „Die Politik muss da handeln, es muss ein Weg geschaffen werden, wie solche Projekte im Notfall auch umgesetzt werden können, ohne dass Ausweich- und Ausgleichsflächen zur Verfügung stehen“. Es gehe schließlich um Daseinsvorsorge und Bevölkerungsschutz (EJZ vom 24. März 22).
Statt aber an konkreten Lösungen für blockierte Projekte mitzuwirken, weichen grundsatztreue Naturschützer*innen und konfliktscheue Kommunalpolitiker*innen oft und gern ins Allgemeine aus. Sie bemühen lieber den leider zu lange missachteten Leitgedanken, den Flüssen müsse wieder mehr Raum zurück gegeben werden, vorhandene Deiche müssten zurückverlegt (wie bei Lenzen geschehen) und mehr Flutpolder zur Zwischenspeicherung von Hochwassern angelegt werden.
JA, alles richtig und notwendig! Alles seit Jahren von Umweltschützer*innen und Verbänden gefordert, inzwischen sogar an einigen Abschnitten der Elbe offiziell in Planung wie etwa bei Wittenberge, Wahrenberg und für die Lenzer Wische.
‚Den Flüssen mehr Raum geben‘ – guter Leitgedanke, manchmal schon fast Ausrede
Doch selbst wenn diese Projekte an der Mittelelbe vielleicht schon in fünf oder in acht Jahren fertig gestellt würden und bei künftigen Elbefluten deutliche Entlastungen bewirken könnten (was zu hoffen ist, aber heute niemand sagen kann) – inwiefern helfen solche ungewissen Aussichten weiter, bringen den seit vielen Jahren dauerhaft bedrohten Siedlungen mehr Sicherheit?
Wer ständig bloß die Formel ‚Den Flüssen mehr Raum geben‘ wiederholt, ohne gleichzeitig nach Lösungswegen für bekannte Gefahrenbereiche zu suchen, muss sich den Vorwurf gefallen lassen, konkrete Flutgefahren zu leugnen, vor politischen Zielkonflikten abzutauchen und nur noch auf Zeit zu spielen – einem fast schon zynischen Gedanken folgend: wer sowieso zehn Jahre auf einen Deich oder ein Sperrwerk warten muss, kann ebenso gut auf die Fertigstellung von weiteren Flutpoldern oder Deichrückverlegungen warten. Der Leitsatz Mehr Raum für Flüsse verkommt so schnell zur Ausrede.
Alles nach einem dummschlauen Motto, das so oder ähnlich lauten könnte: Es kommt noch keine Flut, d´rum habt doch mal mehr Mut!
Keine von den drei großen Parteien SPD, CDU und Grüne in Niedersachsen haben ein überzeugendes Konzept gegen die Selbstblockade staatlicher Institutionen beim Hochwasserschutz. In ihren Programmen zur Landtagswahl im kommenden Oktober benennen sie das zugrunde liegende Problem nur sehr allgemein und verkürzt – ohne wenigstens beispielhafte Lösungswege in konkreten Einzelfällen aufzuzeigen. Das gleiche Bild wie schon bei den letzten Kommunalwahlen im Herbst ´21.
Der Problematik am nächsten kommt die CDU in ihrem Programmentwurf (auch wenn sie in ihrem Juristendeutsch nur schwer zu verstehen ist): sie wolle künftig „die Eingriffsregelung bei Deicherhaltung und Deichbau bezüglich der naturschutzfachlichen Kompensation neu bewerten und diesen Maßnahmen einen Sonderstatus einräumen, der sie aufgrund der Relevanz des Bevölkerungsschutzes von der Kompensationspflicht befreit….Durch gezielte Planung von Überschwemmungsgebieten können wir auftretende Hochwasser abmildern und einen bedeutenden Beitrag zum Bevölkerungsschutz leisten.“ (S. 56).
Es ist ja zu begrüßen, wenn die CDU die Kompensationspflicht (also z. B. die o.g. Vorschriften zur Bereitstellung von Ausgleichsflächen) „neu bewerten“ möchte. Doch was hilft das, wenn sie nicht gleichzeitig erklärt, wie sich eine Neubewertung mit geltendem EU- und Bundesrecht vereinbaren ließe, die eine solche bislang zwingend fordern. Und wie soll verhindert werden, dass gelockerte Ausnahmeregelungen bei bautechnischen Eingriffen in geschützten Gebieten als Freibrief missbraucht werden – z. B. für unsinnige und umweltschädliche Prestigeprojekte, die früher häufig ohne große Bedenken 'in die Landschaft gestellt' werden konnten.
Die SPD setzt beim Thema Hochwasserschutz im Binnenland ganz auf die bekannte Devise 'Den Flüssen mehr Raum geben' und lässt sich auf konkretere Probleme erst gar nicht ein: „Wir werden, wo möglich, über Deichrückverlegung oder die Renaturierung von Auenbereichen mehr Rückzugs- und Retentionsräume für Wasser schaffen. Für eine verbesserte Starkregenvorsorge werden wir den Kommunen ein Finanzierungsinstrument über eine Änderung des Niedersächsischen Wassergesetzes an die Hand geben.“ (S. 23)
Nach Bildung der Großen Koalition 2017 in Hannover hatte SPD-Umweltminster Lies noch sehr laut einen Regierungs-„Masterplan Hochwasserschutz“ für das ganze Land angekündigt (siehe auch den Beitrag Nr. 59 hier im Blog). Im damaligen Koalitionsvertrag war dazu zu lesen: „Wir wollen einen konkreten Zeitplan inkl. eines Finanzierungsplans für alle Projekte innerhalb dieser Legislaturperiode (bis 2022) erstellen und die Ziele in Naturschutz, Wasser- und Gewässerschutz sowie Hochwasserschutz harmonisieren“.
Viel versprochen, wenig realisiert, zumindest bei uns im Landkreis – das muss man heute leider feststellen. Und das gilt für beide Noch-Koalitionspartner, SPD wie CDU. Schon gar nicht kam man in den entscheidenden Punkten voran, nämlich „die Ziele in Naturschutz, Wasser- und Gewässerschutz sowie Hochwasserschutz (zu) harmonisieren“. Die SPD hat daraus offenbar den Schluss gezogen, sich dieser Aufgabe in ihrem Programmentwurf gar nicht mehr zu stellen. Auch hier lautet unterschwellig die heimliche Botschaft: Es kommt noch keine Flut, d´rum habt doch mal mehr Mut!
Die Grünen beschränken sich im Wesentlichen ebenfalls auf das vermeintliche Patentrezept, „mehr Raum“ für Flüsse und Auen zu schaffen:
„Ökologischer Hochwasserschutz dient gleichzeitig der öffentlichen Sicherheit und dem Naturschutz. Flüssen und Auen geben wir wieder mehr Raum und schaffen Durchlässigkeit. Hierzu werden wir gemeinsam mit anderen Bundesländern an Flüssen wie der Elbe Gesamtkonzepte im Laufe der Legislaturperiode umsetzen und hierfür die notwendigen Ressourcen bereitstellen. Moore vernässen und restaurieren wir und geben ihnen ihre Funktion als natürliche Schwammflächen zurück (vgl. Moorschutz ist Klimaschutz)“ (Kap.2, Zeile 100 ff.).
Der dritte, hier in Kursivschrift gesetzte Satz des Zitats ist übrigens ein vom Kreisverband Lüchow-Dannenberg eingebrachter Ergänzungsantrag zum Entwurf des Landesvorstands. Das darin angesprochene Thema der Koordination mit anderen Bundesländern ist gewiss wichtig und erwähnenswert, hilft jedoch in den aktuellen Problemfällen kurz- und mittelfristig auch nicht weiter. Und offenbar möchten sich die Grünen noch immer nicht konkreter zu Problemfällen und Planungsalternativen im Landkreis äußern, wie bereits schon anlässlich der Kommunalwahl 2021.
Viel mehr als die unausgesprochene Beschwichtigungsformel 'Es kommt noch keine Flut...' bleibt also nicht haften bei der Lektüre der drei Wahlprogramm-Entwürfe. Bei den Diskussionen und der endgültigen Beschlussfassung auf den anstehenden Parteitagen werden die Aussagen zum Hochwasserschutz hoffentlich noch deutlich nachgebessert. –
Mitte Juli jährt sich die Flutkatastrophe im Ahrtal; gut neun Jahre davor fand die bislang höchste Elbeflut in unserer Region statt – mit einigen Überschwemmungsschäden in Vietze und bedrohlich hohen Wasserständen an vielen Deichabschnitten entlang von Elbe und Seege (siehe obiges Bild). Beide Flutereignisse sind sehr verschieden in ihren geografischen Randbedingungen, in den jeweiligen Ursachen, Abläufen und Auswirkungen. Insbesondere die vielen menschlichen Tragödien, die im Ahrtal passierten, sind schockierend und müssen nachdenklich machen.
Denn was die Flutereignisse an der Ahr und an der Elbe gemeinsam haben, ist dieses: zu viele Verantwortliche in Fachbehörden, Verwaltungen und Politik haben nicht rechtzeitig auf bekannte und dokumentierte Flutgefahren reagiert, haben notwendige Schutzvorkehrungen und -maßnahmen versäumt.
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Links zu Programmentwürfen für die Landtagswahl im Oktober >>
>CDU
https://cdu-niedersachsen.de/wp-content/uploads/2021/04/CDU-RegierungsprogrammEntwurf_web_220421a.pdf
>SPD
https://www.spdnds.de/wp-content/uploads/sites/77/2022/04/Entwurf_Regierungsprogramm_LTW22.pdf
>Grüne
https://ldk-wolfenbuettel-2022.antragsgruen.de/ldk-wolfenbuettel-2022/niedersachsens-okologischen-schatz-bewahren-6037
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--> Die vorigen Beiträge hier im Blog:
94. Begrenzte Solidarität
93. Conni, Corona und die 'freien Bürger'
92. VerQUERte Corona-Welt im Wendland