Wahlbeobachtungen aus Armenien

Sechs Monate nach der Samtenen Revolution. Notiert und fotografiert von Rebecca Harms vom 6. bis 10.Dezember 2018 in Yerevan und Ashtarak in der Region Aragatsotn.

Die samtene Revolution in Armenien gehörte zu den großen positiven Ereignissen des Jahres 2018. Auslöser für die gewaltfreien Massenproteste war im Frühsommer die Entscheidung des langjährigen Präsidenten Sersch Sargsjan, das Amt des Ministerpräsidenten zu übernehmen. Die Armenier schienen genug zu haben von ihm, seinen gebrochenen Versprechen und dem Wunsch nach ewiger Regentschaft. Und sie haben genug vom Leben mit Vetternwirtschaft und Korruption. Mit ihren Protesten, die die stärksten seit dem Ende der Sowjetzeit waren, erreichten sie den Rücktritt Sargsjans. Im Mai wurde die Regierung neu gebildet. Ministerpräsident ist seither der Rechtsanwalt und Oppositionspolitiker Nikol Paschinjan, der die Proteste auch mit angeführt hatte. Ich war mit einer kleinen Gruppe von KollegInnen aus dem Europaparlament im Juli zu einem Besuch in Yerevan gewesen. Schon nach den Gesprächen im Sommer mit dem frisch gewählten Ministerpräsidenten, dem Außenminister, dem Präsidenten, Vertretern aller Parteien des Parlaments und auch der Zivilgesellschaft wurde klar, dass es zu Neuwahlen kommen müsste. Die Konstellation zwischen der neuen Regierung und dem alten  Parlament konnte, trotz geschmeidiger Wechsler aus dem alten in das neue Regierungslager, nicht das Fundament für erfolgreiches Arbeiten an den Zielen der samtenen Revolution bieten, für überfällige Reformen, für den Kampf gegen Korruption und die Veränderungen der politischen Kultur in Armenien. Es war nicht überraschend sondern konsequent, dass Paschinjan gegen die Opposition der Republikanischen Partei Neuwahlen durch seinen Rücktritt erzwang, nachdem ihm andere Wege dahin verbaut worden waren.


Wahlplakate in Yerevan 
Wahlplakate in Yerevan 
Ich war gespannt und neugierig, als wir uns mit der Wahlbeobachtergruppe des Europäischen Parlaments am 6. Dezember auf den Weg nach Yerevan machten. Auch wenn unsere Kurzzeit-Wahlbeobachtungen immer nur vier bis fünf Tage dauern, ist meine Erfahrung, dass ich in diesen Tagen einen anderen Einblick in die Verhältnisse in den Ländern bekomme. Es sind Tage voller Begegnungen mit sehr unterschiedlichen Leuten an Orten, an die wir selten kommen. Und für die Armenier ging es nicht um irgendeine Wahl. Die Armenier fühlten sich bei dieser Wahl erstmals frei. Und das sind nicht meine Worte. So beschrieben viele derjenigen, die wir trafen, den Unterschied zur alten Zeit.

Bevor die WahlbeobachterInnen am Wahltag losgeschickt wurden, versammelten sich die internationalen Teams, die unter dem Dach von OSZE/ODIHR arbeiten sollten, für zwei Tage in Yerevan, um sich mit den Ergebnissen der Langzeitbeobachtung und der politischen Lage im Land besser vertraut zu machen. Es waren Treffen mit Vertretern aller Parteien, der Wahlkommission, der Zivilgesellschaft, der Presse und er OSZE organisiert. Es ging schwerpunktmäßig um die Organisation der vorgezogenen Wahlen, um Fairness des Wahlkampfes aus der Perspektive der Beobachter von außen und von innen.


Trotz der kurzen Vorbereitungszeit wurde die Organisation der Wahl als sehr gut bewertet. Die internationalen Beobachter kritisierten am meisten die ungenügende Berücksichtigung von Frauen auf den Listen aller Parteien. Außerdem wurde moniert, dass es oft keinen guten Zugang für Behinderte zu den Wahllokalen gäbe. Das alte Wahlregister und die Unmöglichkeit, im Ausland zu wählen, seien negative Punkte aus der Beobachtung. Insgesamt gab es viele Pluspunkte für die Vorbereitung. Tausende von Beobachtern seien registriert. Aktivitäten von Fakebeobachtern seien erkannt worden und die Wahlkomitees seien darauf vorbereitet. Parteien seien fair bei der Besetzung der Komitees in den Wahlllokalen berücksichtigt. Durch das Losverfahren bei der Bestimmung der Leitung vor Ort habe sogar die alte Regierungspartei die meisten Vorsitzenden in den 2010 Wahllokalen, für die 38 regionale und die Zentrale Wahlkommission zuständig seien.


Wahlplakate und konkurrierende Werbung 
Wahlplakate und konkurrierende Werbung 


Gegen Betrug, Zwang oder andere Probleme während der Wahl seien insgesamt 18.000 Wahlbeobachter aktiv, die für Parteien, für NGOs oder auch internationale Organisationen arbeiten. Die Polizei sei vor Ort präsent, um nötigenfalls die Komitees zu unterstützen, wenn es zu Verstößen gegen das Gesetz komme. In Armenien wird sehr stark auf Technik gesetzt, um Wahlbetrug zu verhindern. Alle WählerInnen müssen sich durch Fingerabdruck und durch Ausweis identifizieren. Ihre Daten werden mit dem Register abgeglichen, bevor sie die Wahlzettel bekommen. Die Ausgabe wird registriert. Nach der Wahl, die uneinsehbar stattfindet, werden die Umschläge mit dem Wahlschein mit einer Klebemarke versiegelt. Die Abgabe der Stimme wird registriert. Für jeden der Schritte sind die verschiedenen Mitglieder der Wahlkomites zuständig. In allen Wahllokalen, außer in den kleinen, wird der Wahlraum von Kameras überwacht. Diese Kameras sorgen dafür, dass schon am Tag vor der Wahl per Livestream jeder  in jedes Wahllokal schauen kann. Während wir in Yerevan informiert wurden, war schon eine Hotline für Beschwerden freigeschaltet. Es gab am ersten Tag 59 Beschwerden. Keine davon wurde als schwerwiegend angesehen. Alle wurden bearbeitet.


Die prächtigen Kaskaden und das Kunstmuseum von vorn 
Die prächtigen Kaskaden und das Kunstmuseum von hinten 
Zu diesen eher technischen Informationen kamen die Berichte armenischer JournalistInnen und LeiterInnen von NGOs über ihre Erfahrungen und Erlebnisse  im Wahlkampf. Ich sammele hier Aussagen aus mehreren Berichten. Mancher wird sagen, dass ich übertreibe. Richtig ist, dass alle diese Berichte voller Begeisterung für die neue Chance waren, die die Armenier erkämpft haben und die sie jetzt auch nutzen wollen. Alle Parteien hätten frei agieren können. Neu sei gewesen, dass die Wähler direkt angesprochen wurden und selber Zugang zu den KandidatInnen  hatten. Erstmalig habe es viele Debatten mit allen Parteien gegeben, vor Ort und im Fernsehen. Die Freiheit der politischen Debatte sei beispiellos für Armenien gewesen. BürgerInnen hätten erstmalig erlebt, dass das Ergebnis nicht lange vor der Wahl entschieden worden sei. In keiner Wahl in Armenien habe die Opposition je eine Chance gehabt, gewählt zu werden und zu gewinnen. Armenien sei spätestens seit der letzten Wahl eine gefestigte Autokratie gewesen. Das Vertrauen in die politische Elite sei auf null gewesen und Wahlen hätten niemanden interessiert. Vor dieser Wahl sei dauernd über die Wahl geredet worden und darüber, wen man wählen könne, damit das Alte nicht zurückkehre. Die Vorwahlperiode sei das Beste, was man in Armenien gesellschaftlich erlebt habe. JournalistInnen, NGOs, Justizvertreter und Politiker zeigten sich uns gegenüber einig darin, dass dieser Wahlkampf frei gewesen sei. Und auch Belästigungen und Drohungen habe es kaum gegeben. Der Grund dafür sei, dass niemand mehr damit rechnen könne, dass Verstöße gegen das Wahl- oder Strafgesetz nicht geahndet würden, denn es sei vorbei mit der Straffreiheit.
JournalistInnen berichteten, dass sie nie zuvor so gute Bedingungen für die Wahlberichterstattung hatten. Kein Anrufe. Keine Drohungen. Keine Schikanen. Es sei einfach eine andere Zeit. Sie baten uns, uns mal eine TV-Debatte mit allen Spitzenkandidaten über 3,5 Stunden mit Rekordeinschaltquoten und aufmerksamen Zuschauern vorzustellen. Das habe es in Armenien noch nie gegeben. Und im öffentlichen Kanal sei doch tatsächlich noch eine Debatte nur mit Frauen, mit Kandidatinnen aller Parteien ausgestrahlt worden. Was sehr umstritten gewesen sei. Aber nach der Debatte waren sich alle einig, das war eine große Sache für Frauen in der Politik und nicht, wie Frauenrechtlerinnen befürchteten, ein Feigenblatt.  Die Chefin des öffentlichen Fernsehens H1 sagte, sie sei selber sehr verunsichert gewesen, ob es eine gute Idee sei. Aber der Mut habe sich ausgezahlt auch für die Politikerinnen, die mitgemacht hätten. Nie seien Frauen in der Politik so sichtbar gewesen in Armenien. Der Chefredakteur von Radio Free Europe (RFE) nickte während sie sprach und machte ihr Komplimente. Früher, in der anderen Zeit, wäre es unmöglich gewesen, dass H1 und RFE überhaupt nebeneinander säßen. Auch die Medienaufsicht kam in unserer Vorbereitung zu Wort. Die Erfolge und Entwicklungen der letzten Wochen seien kein himmlisches Wunder. Armenien habe ein tatsächlich recht gutes Rundfunkgesetz, das früher ignoriert wurde, jetzt aber endlich eingehalten werde.

Ich hatte darum gebeten, als Beobachterin der Wahlen in eine ländlichen Region geschickt zu werden. Jedes unserer Teams bestand aus fünf Leuten. Zwei Abgeordnete, eine MitarbeiterIn aus Brüssel, Fahrer und Dolmetscherin. Bei allen meinen Wahlbeobachtungen war es ein Mann, der fuhr und eine Frau die übersetzte. Eingeteilt wurde unser Team für die Stadt Ashtarak und umliegende Dörfer in der Provinz Aragatsotn. Wir hatten zwar Mühe am frühen Sonntagmorgen noch im Dunkeln das Wahllokal zu finden, in dem wir während der Öffnung sein wollten. Aber schließlich entdeckten wir das ehemalige Universitätsgebäude.


In der ehemaligen Universität von Ashtarak beobachten wir die Eröffnung des Wahllokals 
In der ehemaligen Universität von Ashtarak beobachten wir die Eröffnung des Wahllokals 
In dem großen und ungeheizten Raum war das Komitee vollzählig und schon 30 Minuten vor der Öffnung funktionierte alles. Aber es war kalt. Draußen nasskalt und ungemütlich, drinnen richtig kalt und feucht, so dass die Mitglieder des Wahlkomitees nicht nur in Mänteln arbeiteten, sondern sich gegen kalte Füße Pappen unter ihre Tische und Stühle gelegt hatten. Wir waren nicht nur hier die Überraschung des Tages. Aber bevor uns die Leiterin alles erklärte, bat sie uns um unsere Ausweise und Akkreditierungen. Der erste Wähler war ein Polizist.


Die Wähler und Wählerinnen können kommen. 
Alles ist an seinem Platz 
Das nächste Wahllokal war eine Schule. Erleichtert stellten wir fest, dass es Heizung gab und dass nicht alle Wahlhelfer frieren mussten. Der Leiter hier war der Direktor der Schule. Wie bei der ersten Station war auch hier alles perfekt organisiert, die Kamera an ihrem Platz und die Wahlurnen uneinsehbar. Während die alte Universität eher einer Ruine glich, beeindruckte mich an der Schule die Farbigkeit. Gegen den äußeren grauen Beton wurde von innen mit viel Farbe angearbeitet.



Jede Aula, jede Schule, jeder Kindergarten hat eine eigene Deko 




Bei der dritten Station wurden wir von der armenischen Armee  überrascht. Wir waren darauf vorbereitet worden, dass die Soldaten nicht in getrennten Wahllokalen wählen würden, aber dass es für die Armee getrennte Listen in diesen Wahllokalen gäbe. Angesichts des sehr kleinen Raumes in dieser Schule, erschien es uns fraglich, ob das Wahllokal nicht durch die Armee überlastet werde. Tatsächlich dauerte der komplette Wahlvorgang mit Identifizierung, Aushändigung der vielen Wahlzettel, Abstimmung, Versiegelung und Einwurf im Schnitt drei Minuten. Verzögerungen gab es, wenn Leute von der Arbeit Hornhaut auf den Fingern haben. Arbeiterhände passen nicht ins digitale Zeitalter.



Überraschender Auftritt der Armee 
Aber auch die Soldaten respektierten das Matriarchat im Wahllokal 
Frauen waren in Armenien auf den Listen aller Parteien nicht ausreichend repräsentiert. In Yerevan hatten sich alle internationalen Beobachter dazu kritisch geäußert. In den Komitees in den Wahllokalen waren allerdings die Frauen eindeutig in der Mehrheit. Warum das so sei, wollten wir wissen und bekamen mehrfach die Antwort, dass Frauen zuverlässiger seien und mehr Vertrauen bekämen weil sie nicht trinken. In Yerevan wurde die schwache Repräsentanz der Frauen mit der sehr konservativen und traditionellen Gesellschaftsordnung erklärt. Mir fiel immer wieder auf, dass Männer und Frauen meist unter sich blieben. Im Laufe des Wahltages entdeckten wir die Wahllokale, weil vor der Tür auf der Strasse etwas los war. Aber meist waren es nur Männer, die dort länger zusammen standen, rauchten und diskutierten.

Wir trafen viele junge Leute in den Wahllokalen und konnten mit ihnen oft ohne Dolmetscherin reden, weil viele englisch sprechen. Sie waren Mitglieder der Komitees oder auch WahlbeobachterInnen. Viele hatten zum ersten Mal selber gewählt. Die Regierung hatte eine Motivationskampagne gemacht, die sich ganz besonders an diese Gruppe der BügerInnen richtete. Ich traf eine junge Frau, deren gespannte Aufmerksamkeit ins Auge stach. Sie gehörte zu einer der unabhängigen Wahlbeachtungsgruppen, hatte gerade selber das erste Mal gewählt und war extra nach Ashtarak zurückgekehrt. Woher sie angereist sei, wollte ich wissen. Aus der Türkei. Und was studieren sie dort, fragte ich neugierig weiter. Turkologie, antwortete sie. Auf der anderen Seite des Berges Ararat. Sie würde wahnsinnig gern in Deutschland weiter studieren, erzählte sie mir. Sie entschuldigte sich für ihre Fehler in der englischen Sprache. Sie spreche im Studium türkisch und vergesse deshalb viel. Sie wird ihren Weg gehen, denke ich. So wie viele andere junge ArmenierInnen.

Die jungen Wahlbeobachterinnen waren besonders stolze Wählerinnen 
Frauen regieren in Armenien zwar noch nicht das Land aber die Wahllokale schon 
Manches erinnert mich an die Ukraine. Die Jungen hier wollen ein anderes Lebens als das unter den korrupten Eliten, deren Reichtum wächst und die Armenien gesellschaftlich und ökonomisch nicht entwickeln wollen, weil es nicht in ihrem Interesse ist. Ob sie es könnten, wenn sie es wollten, ist eine hier oft gestellte Frage. Und hinter den Jungen stehen ihre Eltern und am Ende auch die Großeltern. Von den ganz Alten hören wir immer, dass sie hoffen, für die Großkinder werde es besser werden. Wie bei euch, sagen sie, wenn sie hören, dass ich aus Deutschland komme. Und deshalb seien sie für die Samtene Revolution.

In diesem Theater sind die Stars, die hier spielten, nicht vergessen
 


Nach der Fahrt durch die Stadt Ashtarak und einige Dörfer, nach den Besuchen in Schulen, Kindergärten und der verlassenen Universität ist noch sichtbarer als im Zentrum Yerevans, was die ArmenierInnen in den Tagen der Samtenen Revolution auf die Straßen getrieben hat. Ein charismatischer Politiker wie Paschinjan ist wohl nur Teil dessen, was sich Bahn gebrochen hat. Immer fühlbarer werden im Laufe des Tages die riesengroßen Hoffnungen, die auf den Regierungschef gerichtet sind. Denn das wird im Laufe des Wahltages klar, auch wenn nicht alle uns freimütig sagen, warum sie wen und welche Partei wählen: Paschinjan wird von den Armeniern ins Amt gewählt werden. Und auch wenn alle wissen, dass sie viel von ihm erwarten: Wunder wird er nicht vollbringen können.

Eines der Wahllokale auf unserer Liste lag abgelegen am Hang des Berges Aragats. Ich hatte es auch deshalb ausgesucht, weil ich diesem Berg näher kommen wollte, der der guten Stimmung in den Wahllokalen trotzte und sich in düstere Nebel hüllte.  Am Wahllokal fuhren wir fast vorbei. In Europa wäre es wahrscheinlich verboten, ein solches Gebäude überhaupt zu betreten. Nach vielen Telefonaten entdeckten wir schließlich die Polizei vor einem Haus, das nur verlassen wirkte. Nirgends war das Willkommen so herzlich, nirgends waren die Farben und die Süßigkeiten bunter als hier, in einem Wahllokal, in dem so wenige Wähler registriert waren, dass es von der Kamerapflicht ausgenommen war. 

Im kleinsten Wahllokal werden wir am wenigsten erwartet ...
...und am herzlichsten begrüßt 
Bevor wir uns zurück auf den Weg nach Yerevan machten, besuchten wir eine der ältesten Kirchen der Region. Auch als Ungläubige habe ich nie bezweifelt, dass es magische Orte gibt. Die Leute im Dorf hatten recht damit, uns zu dem Besuch zu drängen, uns den Weg an diesen Ort zu weisen. Selbst der große Aragats spielte mit und zeigte zumindest einige Augenblicke seine mächtigen schneebedeckten Hänge. Zwei magische Orte : Der Keller im Dorf, die Schönheit der Menschen die hier ihre erste freie Wahl organisierten. Die Kirche am Berg, die Erhabenheit in der Begegnung zwischen Kultur und Natur in diesem Kaukasusdorf. Ich will nicht abschweifen. Ich habe mir aber fest vorgenommen, an diesen Ort und zu diesen Leuten zurückzukehren.

Magischer Ort an den Hängen des Aragats
Der Berg Aragats

In Yerevan wollten wir in dem Wahllokal die letzte Station machen, in dem unsere Dolmetscherin registriert war, damit sie wählen konnte. Dort wollten wir auch Schließung und die erste Auszählung verfolgen. Vorher suchten wir ein Cafe, um mit Tee und Kaffee die Müdigkeit zu vertreiben und fanden es unterhalb der Villa von Charles Aznavour. Im Fernsehen liefen Berichte über die gelben Westen und Frankreich. Unsere Dolmetscherin wollte von uns wissen, warum in Frankreich ein Revolution stattfinden würde. Sie habe bisher geglaubt, Frankreich sei eine Demokratie. Frankreich sei schon immer ein Land der Sehnsucht für viele Armenier. Was konnten wir darauf antworten? Ich versuchte zu erklären, dass Frankreich keine Revolution brauche und dass die Gelbwesten auch keine Revolution machten. Überzeugt habe ich sie nicht. Sie fragte mich auch, warum die Europäer alle so einen Hass auf Kanzlerin Merkel haben. Ich sagte ihr, dass stimme nicht.Im Gegenteil würden die allermeisten Europäer Angela Merkel schätzen und vertrauen. Ihre Quelle für Information war in erster Linie russisches Fernsehen. Gerade für Auslandsberichterstattung fehle es in der armenischen Presse an Mitteln. Und da die russischen Medien besser gemacht und attraktiver seien, würden die meisten Armenier immer noch sehr viel russisches Fernsehen nutzen. Gespräche wie dieses sollten eigentlich nicht überraschen. Sie zeigen aber immer wieder, dass der Kreml mit seinen Medienstrategien erfolgreich ist, während in der EU zwischen Ost und West und Politik und Medien weiter reflektiert wird, wie demokratische Staaten auf Propaganda und Lügen reagieren sollen, die sich gegen sie und gegen die Demokratie an und für sich richten.


Die Beobachterinnen sollten nicht im Wege stehen 
Alles hatte seine Ordnung als hier in Yerevan die Urne  verschlossen wurde 
Zurück zur Wahl und dem Schließen der Lokale. Auch an unserer letzten Station war alles gut organisiert. Auch hier hatte eine Frau das Zepter in der Hand. Nachdem wir unsere Fragen gefragt hatten und ankündigten, dass wir bis zum Schluss bleiben würden, wollte sie, dass wir es etwas gemütlicher hätten. Es kann auch sein, dass sie fand, wir sollten nicht im Weg rumstehen. Anders als in anderen Wahllokalen während des Tages war die Beteiligung hier nach 19.00, also eine Stunde vor Schluss, noch ziemlich niedrig bei etwas über 50 Prozent. Es wurde auch in der letzten Stunde nicht viel mehr. Mit der Uhr in der Hand und einem Polizisten vor der Tür stand die Leiterin am Eingang  des Wahlraumes und schloss auf die Minute genau eigenhändig ab. Auf die Minute genau wurde die Urne geschlossen und alle relevanten Unterlagen sicher verwahrt. Wir verfolgten die erste Zählung und Gegenzählung. Nach zwei Überprüfungen stimmten die Ergebnisse überein.


In einem letzten Austausch mit KollegInnen aus dem Europäischen Parlament in der Nacht verglichen wir unsere Ergebnisse und Eindrücke. Tatsächlich war die größte Überraschung die relativ geringe Wahlbeteiligung. Schon am nächsten Tag wurde der erwartete Erfolg für Nikol Paschinjan  bestätigt, der mit über 70 Prozent nun gewählter Ministerpräsident ist. Eine der Aufgaben der neuen Regierung wird sein, sich mit der Wählerregistrierung zu befassen. Von vielen armenischen Beobachtern wurde gesagt, dass viele der registrierten Wähler nicht in Armenien lebten. Der letzte Zensus müsse überprüft und die Wahlen auch für die armenischen Bürger außerhalb des Landes möglich sein. Wahrscheinlich ist das eine der kleineren Aufgaben. Aus den großen Hoffnungen, die die samtene Revolution beflügelt haben,  sind jetzt die Aufgaben für Nicol Paschinjan, seine Regierung und seine Fraktion geworden.

Während ich in den Weihnachsferien meine Notizen durchsah, gab es zwei Nachrichten zu Armenien. Die britische Wochenzeitung "The Economist" machte Armenien zum Land des Jahres. In der Begründung heißt es, dass eine alte und oft schlecht regierte Nation in einer turbulenten Region nun die Chance auf Demokratie und Neuanfang habe. Eine gute Wahl, finde ich. Die zweite Nachricht zum Jahreswechsel lautete, dass Russland die Gaspreise für Armenien angehoben hat.

So sehr sich Paschinjan bemüht, seinen Kurs nicht mit geostrategische Interessen in Konflikt zu bringen, so sicher ist, dass Wladimir Putin ihm die demokratische Erneuerung nicht einfach gönnen wird. Für die EU gilt es, einen guten Weg der Bestärkung zu finden, auch wenn Armenien einen schwierigen Spagat versucht. Möglichkeiten bei der wirtschaftlichen Entwicklung zu helfen und für mehr Nähe zu sorgen, gibt es viele. Die Verhandlungen für Visafreiheit würde ich nach vorn stellen.


In allen Schulen wird mit Farbe gegen Beton angegangen 

Fotos+Text: Rebecca Harms
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autor(en): Rebecca Harms


Jerewan, Armenien

 

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