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Gorleben ist überall...

Um den Herrn in legerem Zivil hat sich schnell ein diskutierender Pulk gebildet. Er könne sich vorstellen, demnächst mein Einsatzleiter zu werden, antwortet er auf die Frage, in welcher Funktion er denn auftrete, und läßt seine Dienstwaffe dezent unterm Blouson baumeln. Er kräuselt die Stirn. Vorm Bahnwärterhaus im Dragahner Forst kuscheln und drängen sich übernächtigte Gestalten; sie haben die leeren Räume besetzt, Fensterglas eingesetzt, gestrichen und Blumenkübel bepflanzt. Die Mainächte sind verdammt kühl. Sehen gar nicht wie Gewalttäter aus, entbieten ihm, dem Einsatzleiter, und seinen Begleitern in Uniform sogar ein „Guten Morgen“ und frische Brötchen. Wer soll das auch alles aufessen: 60 Brötchen und zehn Liter frisch gebrühter Kaffee wurden schon vor 6 Uhr früh gebracht, von Sympathisanten. Polizeilich präventiv wolle er vorgehen – die Platzbesetzung von 1004 war schließlich erst zwei Jahre her, verrät der Zivile. Könnte aus der Besetzung eines verlassenen Bahnwärterhäuschens durch eine Handvoll Entschlossener nicht schnell der Funken werden, der sich zum Steppenbrand ausweitet? Schön wär’s, denke ich. Wo denn unsere Sprecherin sei, fragt der Polizeichef und betont: Sprecherin.  Oha, der ist ja gut informiert, hat schon die Morgenzeitung gelesen; dort wurde tatsächlich eine Sprecherin zitiert. Wir, die WAA-GegnerInnen,  würden das Häuschen als Infostelle herrichten, die erste Filmnacht unter freiem Himmel lockte viele Ortsansässige an. Demnächst sollten im Wald Flachbohrungen stattfinden, um den Baugrund zu erkunden, und das wolle man verhindern! Es ist das Jahr 1983.

Und das war passiert:  Am 1. November 1982 rieb sich manch eine/r die Augen. Der CDU-Ministerpräsident unterrichtete die Spitzen der Kommunalpolitik, den Oberkreisdirektor und den Landrat von der Absicht der niedersächsischen Landesregierung, Dragahn als Standort für den Bau einer Plutoniumfabrik vorzuschlagen. Insider erinnern, daß dieses atemberaubende Unterfangen von den CDU-Leuten aus den Kommunen selbst ins Rollen gebracht wurde!

Am 3. November zog die DWK (Deutsche Gesellschaft zur Wiederaufbereitung von Kernbrennstoffen) nach. Sie erklärte, daß zwei Standorte für den Bau einer WAA parallel auf die Eignung untersucht würden: Wackersdorf in Bayern und Dragahn. Gerade mal zwei Jahre und sechs Mo-nate war es her, daß der Landesvater unter dem Eindruck des Hannover-Trecks („Albrecht, wir kommen!“) und dem Protest von hunderttausend Demonstranten erklärte, die WAA in Gorleben sei technisch zwar machbar, politisch aber nicht durchsetzbar. In einem Brief hatte er Gartows Bürgermeister Heinz Rathje am 21. Mai 1981 geschrieben: „Unter Bezug auf meine Regierungserklärung vom 16. Mai 1979 und die wiederholten Aussagen der Landesregierung darf ich Ihnen im Namen der Niedersächsischen Landesregierung noch einmal bestätigen, daß die Landesregierung einem etwaigen Antrag auf Errichtung einer Wiederaufbereitungsanlage im Landkreis Lüchow-Dannenberg auf keinen Fall zustimmen wird, von wem auch immer der Antrag gestellt werden mag.“

Glatter Wortbruch also. Die Halbwertzeit von Politikerversprechen verfiel immer rasanter. Was der CDU-Ministerpräsident, Strahlemann Albrecht, im Mai 1981 bewog, eine Erklärung abzugeben, von der er kurz darauf meinte, es sei nur ein Mißverständnis, ein „semantisches Problem“, denn mit Lüchow-Dannenberg habe er Gorleben gemeint, ist eine andere Geschichte – allerdings verwoben mit Dragahn. 1981 wurde der Flächennutzungsplan der Samtgemeinde Gartow-Gorleben geändert, damit ein atomares Zwischenlager errichtet werden kann. Um die Zustimmung im Rat kämpfte Bürgermeister Rathje mit Albrechts Brief in der Hand. Und mit der Zusicherung des Ministerpräsidenten gewann er Zauderer:  grünes Licht für die Castorhalle.

Dem gigantischen Unterfangen, in Gorleben ein „Nukleares Entsorgungszentrum“ (WAA, Endlager, Brennelementefabrik, Zwischenlager) zu bauen, folgte nach dem vielzitierten Rückzieher 1979 scheibchenweises Vorgehen: Vor allem sollte die Endlagererkundung im Salzstock nicht in Frage stehen, dann sollte in „nationaler Verantwortung“, versilbert durch die Gorlebengelder, das atomare Zwischenlager gebaut werden. Jahre später wurde der Bauantrag für eine Konditionierungsanlage zur Verpackung und Behandlung des Atommülls für die Endlagerung nachgeschoben. Dragahn, der neue Standort für die WAA, war nur 35 Kilometer Luftlinie von Gorleben entfernt, ganz Lüchow-Dannenberg würde infrastrukturell ein einziges Atommüllgebiet.
Dragahn. Der Dragon fauchte. Zuerst brach man zu Fuß nach Hannover auf. In der Landeshauptstadt wurde die Arche Wendland errichtet, mit Federvieh und Schafen. Im Februar 1983 rollten rund 300 Trecker, und mehr als 2500 Menschen demonstrierten in Dannenberg.

Gut getarnt im Wald wurde im Zweiten Weltkrieg in Dragahn Munition hergestellt. In Nachbarschaft zu dem ausgeguckten WAA-Gelände gingen in den 80er Jahren Pyrotechniker zu Werke: Munition aus Bundeswehr- und Nato-Beständen wurde unter offenem Himmel abgefackelt. Das Gelände war militärische Altlast. Ein Bahndamm als Zubringer von Karwitz zeugte von diesen Zeiten. Die Gleise waren demontiert, aber das Bahnwärterhäuschen existierte noch und wurde schnell Anlaufpunkt für Debatten bei Kaffee und Kuchen, Treffpunkt für Aktionen.

Mein persönlicher Einsatzleiter erspäht nun zwei Zelte im Wald. „Verstoß gegen die Campingordnung“, entfährt es ihm. Inzwischen wurde im Haus Feuer gemacht, der Schornstein raucht. Ob wir den hätten abnehmen lassen…? Eine Woche brauchen sie immerhin, um uns auf vier Seiten auf Umweltschutzpapier nachzuweisen, gegen welche Rechtsvorschriften wir verstoßen. Der Grundstückseigner, die bundeseigene Industrieverwaltungsgesellschaft (IVG), die auch die militärischen Altlasten verwaltete, beantragt schließlich die Räumung und den Abriß. Am Morgen des  Räumungsausverkaufs unserer Träume präsentieren wir dem Einsatzleiter die Abnahme des Schornsteins durch den Bezirksschornsteinfegermeister. Er reagiert unwirsch, wir sollten ihn nicht verarschen.

Das Haus ward zerstört, der Treffpunkt blieb.  Am Hiroshima-Tag, dem 6. August 1983, demonstrierten 2000 Menschen in Dragahn gegen zivile und militärische Atomenergie-Nutzung.

Dann ging’s Schlag auf Schlag.

24. März 1984: In Hitzacker fand der Erörterungstermin zur Errichtung der WAA in Dragahn statt. 12 000 Atom-kraftgegner bildeten eine Menschenkette von rund 26 km im Landkreis Lüchow-Dannenberg.

30. April 1984: Wendlandblockade. Zwölf Stunden sperrten über 6 000 Atomkraftgegner die Zufahrtsstraßen nach Lüchow-Dannenberg.

Am 4. Februar 1985 entschied die DWK, die WAA solle nicht in Dragahn, sondern in Wackersdorf gebaut werden – in der irrigen Hoffnung, daß die CSU-Landesregierung in Bayern den Protest besser in den Griff bekäme.

Schon zwei Wochen später, am 16. Februar 1985, demonstrierten 40 000 Menschen in Wackersdorf. Sonderbusse aus Lüchow-Dannenberg fuhren zur Großdemo in die Oberpfalz: wir wurden „Reisechaoten.“ Gorleben ist halt überall. 

Übrigens taten sich auch dort Parteipolitiker hervor, wie etwa CSU-Generalsekretär Tandler, der 1984 der DWK signalisierte, der Bau der WAA sei rechtlich und politisch durchsetzbar. Doch der Entschluß der DWK war Anfang vom Ende größenWAAhnsinniger Atompläne in Deutschland. Nun gab es zwei Brennpunkte der Anti-AKW-Bewegung: Gorleben und Wackersdorf. Fünf Jahre später zog die DWK die Pläne endgültig zurück. Abgebrannte Brennelemente deutscher Atomkraftwerke wurden nach Cap de la Hague in Frankreich gekarrt. Der Müll kommt nach der chemischen Bearbeitung dennoch zurück – wie ein Bumerang nach Gorleben.

Im Rahmen der Reihe „Wir machen Geschichte“ präsentieren sich „Gorleben-Archiv“ und Bürgerinitiative Umweltschutz mit der Fotoausstellung „WAAhn Dragahn“ vom 1. bis 12. Mai auf der „Mützingenta“ und am 3. Mai um 15 Uhr ebenda mit „Zeitzeugen berichten“.




2008-03-29 ; von Wolfgang Ehmke (autor),

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