Thema: geschichte

7. Mai 1945: am Höhbeck ist der Krieg zu Ende

Am 7. Mai 1945 konnten unzählige Flüchtlinge aus Gartow und den Höhbeck-Dörfern in ihr Zuhause zurückkehren. Zuvor hatten sie tagelang erbitterte Kämpfe aushalten müssen, die Hunderte Menschenleben kosteten.

Der 7. Mai 1945 war zwar für die Gartower und Höhbecker Bevölkerung der Tag, an dem für sie der Krieg zu Ende war: die Gefechte hatten aufgehört, die Amerikaner hatten das Kommando übernommen und sie durften in ihre Häuser zurückkehren. Doch eine fröhliche Rückkehr war das nicht. Zu schwer lasteten die fürchterlichen Kämpfe auf den Seelen, die noch in den letzten Kriegstagen viele Opfer gefordert hatten. Häuser und Wohnungen oder mindestens der Hausrat waren zerstört oder verschwunden, Familienmitglieder immer noch verschollen und Lebensmittel knapp.

Noch in den letzten Kriegstagen, als im Westen und Süden Deutschlands längst KZs befreit waren und die Allierten vieler Orts die Frontlinien eingenommen hatten, hatten in und um Gartow Wehrmacht und Amerikaner erbittert um den "Brückenkopf Lenzen" gekämpft. 

Von Südwesten hatten die Amerikaner sich inzwischen bis nach Salzwedel, Lüchow und Dannenberg vorgearbeitet. Prezelle, Lomitz oder Gedelitz hatten sie bereits erobert. Nun galt es noch, das Hauptziel zu erreichen: die Elbe. Es ging dabei vor allem um die Kontrolle über die "Höhe 75" - dem Höhbeck. Im Herbst 1937 hatten die Nationalsozialisten auf dem knapp 80 Meter hohen Hügel einen Holzturm errichtet, auf dem sie eine Funksendestation installiert hatten. Außerdem sollte verhindert werden, dass Wehrmachtsoldaten sich über die Elbe zurück in den Westen kämpften. Von Nordosten war die Sowjetarmee bereits bis Gardelegen vorgedrungen.

Der Höhbeck wurde also Ende April zu einem Brennpunkt der letzten Kriegstage. Um den 20. April begann in Pevestorf ein mörderischer Kampf um Meter, der auf beiden Seiten viele Verluste mit sich brachte. Zwei Tage und zwei Nächte hatten die Kämpfe um Pevestorf gedauert, an deren Ende allein hier 168 Tote gezählt wurden.

Grund für die heftigen Auseinandersetzungen war der Hauptgefechtsstand der deutschen Wehrmacht, der in Pevestorf angesiedelt war. Von hier aus kontrollierten sie die Zuwege über die Elbe Richtung Süden und Westen. Für die Pevestorfer Bevölkerung eine schreckliche Situation. Sie hatten kaum eine Chance, den wilden Kämpfen zwischen deutscher Wehrmacht und anrückenden Allierten zu entkommen.

Reiner Purwing, ehemaliger Leiter des Höhbeckmuseums in Vietze, beschrieb in seinem Tagebuch (kursiv gesetzt) die letzten Tage des Krieges am Höhbeck. Die Informationen darüber, was parallel dazu in der Umgebung passierte, stammen aus verschiedenen Quellen; Auflistung siehe am Ende des Textes.

Tagebuch Reiner Purwing / 10.04.1945

(Rückkehr von der Front)… Morgens traf ich H. Philippi, mit dem ich dann nach Lenzen fuhr und mit Ohnesorges Kahn über die Elbe setzte. Über den Berg ging ich nach Hause. Meine Habseligkeiten im Bündel auf dem Rücken. Die Freude war groß, doch rechnete man schon mit meiner baldigen Ankunft.

Tagebuch Reiner Purwing /   13.04.1945
Das Lazarett in Lenzen war verlegt worden. Ich hätte mich dort melden müssen, da ich noch verwundet war. Da ich nicht weit gehen oder fahren konnte und nicht einsatzfähig war, ging ich zum Bürgermeister Wilhelm Siems, der mir sagte, daß ich hier bleiben solle.

Tagebuch Reiner Purwing /   17.04.1945:
Die Gerüchte sind meistens kaum zu glauben und auf die Nachrichten ist auch nicht viel zu geben, da sie zumeist veraltet sind. Doch nun rücken die Amerikaner auch hier näher heran.

In Gartow haben die Amerikaner an diesem Tag den Ort eingenommen und den Bürgermeister zur Aufgabe aufgefordert. Alle Bürger sollten weiße Fahnen aushängen, um ihre Friedensbereitschaft zu bekunden. Doch noch am gleichen Tage zogen sich die Amerikaner aus Gartow wieder zurück und die deutsche Wehrmacht übernahm wieder die Macht. Für Bürgermeister Beyer eine lebensgefährliche Angelegenheit. Da er den Aufforderungen der Amerikaner gefolgt war und eine "Aufgabeerklärung" unterschrieben hatte, suchte ihn die Wehrmacht. Ihm drohte der Tod durch Erschießen, dann das Hissen weißer Flaggen (oder die Aufforderung dazu) galten als Wehrkraftzersetzung. In seiner Not suchte er Hilfe bei einem Freund in Pevestorf und konnte sich mit dessen Hilfe so lange verstecken, bis die Allierten endgültig die Macht übernommen hatten.

Sein Kollege in Kapern hatte nicht so viel Glück: auch er hatte den Amerikanern gegenüber die Aufgabe erklärt. Tags zuvor hatte er sich allerdings den Hass eines nationalsozialistischen "Assis" zugezogen, der ihn daraufhin bei seinen Vorgesetzten anschwärzte. Die Folge: Bürgermeister Bäthke wurde nach kurzem Prozess standrechtlich erschossen. Der "Assi" durfte ihm dann noch in den Mund schiessen, nachdem Bäthke bereits tot war.

Tagebuch Reiner Purwing /   21.04.1945
Abends kamen die Familien Meyer-Seng-Schulte, um hier sicher zu sitzen, da es überall knallte und das Dorf (vmtl. ein Dorf auf der südöstlichen Seite des Höhbecks) einige Treffer erhalten hatte.

Tagebuch Reiner Purwing /   22.04.1945:
Heute waren sie wieder da. Der Ami kommt von Meetschow und von Restorf. Vom Rosensdorfer (?) Deich schießt die Vierlingsflack auf die Seege-Niederung und hindert den Anmarsch. Abends kamen die ersten Amis ins Dorf.

Auf der anderen Seite des Höhbecks, in Pevestorf, war zu diesem Zeitpunkt eine der fürchterlichsten Schlachten der Gartower Kriegsgeschichte im Gange. Rudolf Haberland* über die Kämpfe in Pevestorf an diesem Tage: "... eröffneten die Amerikaner, die auf alles vorbereitet waren und jedes Haus zu einem gut getarnten Widerstandsnest gemacht hatten, ein wildes Feuer auf die Angreifer. Furchtbare Nahkämpfe mit Handgranaten in Conradts Haus und in Roosts Wohnhaus. ... Explosionen dort gestapelter Handgranaten, das Brüllen des auf der Straße umherirrenden Viehes, wildes, angsterfülltes Schreien steigerten die Erregung und Unruhe der noch in den Kellern und Bunkern verbliebenen Einwohner Pevestorfs zu höchstem Entsetzen."

Noch in der Nacht nach diesen fürchterlichen Kämpfen hatte eine Gruppe Pevestorfer beschlossen, mit Hab und Gut, Kindern und Vieh Richtung Brünkendorf zu flüchten. Dafür wählten sie den Weg am Hang des Höhbecks entlang. Was sie nicht wussten: am Hang hatten sich deutsche Soldaten eingenistet, die von dort aus die anrückenden Amerikaner beschossen. Die Flüchtlingen gerieten am frühen Morgen mitten in die Gefechte. Haberland* beschrieb die Situation so: "Die währenddessen noch weiter Flüchtenden geraten aber plötzlich in das Feuer amerikanischer Panzer, die auf der Straße von Restorf nach Brünkendof im Anrollen sind. Man wirft sich in Gräben, Furchen oder andere Bodenvertiefungen. Man hört, man fühlt beinahe das Pfeifen der Tod bringenden Geschosse. Man presst sich in Todesangst in den  Boden hinein. Man zeigt weiße Tücher, doch es scheint nichts zu nützen. Endlich aber wird es doch still. Die Panzer sind in Brünkendorf eingerollt und die Flüchtenden hasten weiter." Ein 13-jähriger Junge war bei diesem Angriff in den Armen seiner Mutter gestorben. Erst in Prezelle, Lomitz oder Gedelitz sind die Flüchtenden vor den Gefechten sicher.

Auf der anderen Seite des Höhbecks, in Vietze, war es wesentlich ruhiger - aber auch hier war das Leben nicht problemlos.

Tagebuch Reiner Purwing /   23.04.1945 - Nachmittags kam die erste Streife zu uns. Ich war beim Garten Umgraben und wurde nach Soldaten befragt.

Tagebuch Reiner Purwing /   24.04.1945
Es war wieder eine Streife da. Die Fensterscheiben von Vaters (Schuhmacher)-Werkstatt mußten daran glauben, weil vorn zugeschlossen war.

Tagebuch Reiner Purwing /   25.4.1945
Trude war früh zum Milchbauern und traf dort keinen Zivilisten mehr an. Vietze ist gestern Nachmittag geräumt, doch uns hat niemand benachrichtigt!

Tagebuch Reiner Purwing /   26.04.1945
Um 17 Uhr kam eine Streife, die uns befahl, binnen einer halben Stunde das Haus zu räumen und abzuziehen. Wir packten unsere zum Teil bereitstehenden Sachen und zogen mit Schönsees und Kramers los. Die Nacht verbrachten wir in Berdiens Kartoffelkuhlen.

Nach ihrem Einrücken in den Gartower Raum hatten die Amerikaner die gesamte Zivilbevölkerung in Orte jenseits der Frontlinie geschickt. In Prezelle, Lomitz, Gedelitz oder Wirl fanden sie Zuflucht in Scheunen, Waschküchen und Schuppen. Dabei war der Weg über Gartow versperrt, denn die Seegebrücke beim Schloss und auch das Sielwerk bei Restorf waren von der deutschen Wehrmacht zu Beginn der Kämpfe in Gartow gesprengt worden. Es blieb also nur der Weg durch die Seege Richtung Laasche, auch wenn diese Brücke ebenfalls längst zerstört war.

Tagebuch Reiner Purwing /   27.4.1945
Nachdem wir unseren Troß über die zerstörte Meetschower Brücke gesetzt hatten, holte uns eine Patrouille zurück nach Vietze und schickte uns nach Gartow. Wir zogen über Laasche in Richtung Prezelle durch die Forst. Es regnete und wir machten im Walde Nachtquartier.

Tagebuch Reiner Purwing /   28.04.1945
Vormittags zogen wir in Prezelle ein. Es war überbelegt und wir mussten in der Kirche hausen. Durch Mutters wiederholtes Bemühen gelang es jedoch, noch ein Privatquartier zu finden.

Tagebuch Reiner Purwing /   29.4.1945
Wir haben Quartier auf dem Heuboden in Burmeisters Scheune gefunden. Da sind wir nun für uns und haben reichlich Platz.

Tagebuch Reiner Purwing /   5.5.1945
Überall waren Schilder angeschlagen, daß die Zone bis zur Elbe gesperrt sei. Den Ort durfte man nur mit Bescheinigung verlassen.

Tagebuch Reiner Purwing /   6.5.1945
Louise kam und sagte, daß wir zuürck nach Hause könnten. Sie wollte gleich los. So packten wir denn alles wieder zusammen.

Tagebuch Reiner Purwing /   7.5.1945
Früh packten wir den Rest unserer Habseligkeiten und zogen dann durch den Forst nach Hause. Die Sachen nahm Ad. Meyer auf dem Wagen mit. Wir bleiben bei Meyers, da die Lage noch nicht geklärt ist.

Noch immer haben sich die Alliierten nicht über den genauen Grenzverlauf geeinigt. Immer wieder dringen russische Soldaten über die Elbe in südelbisch gelegene Orte ein, plündern, vergewaltigen.

Tagebuch Reiner Purwing /   8.5.1945
Es ist alles sehr ungewohnt, die Elbe ist Grenze, drüben sitzt der Russe. Ab und zu kommen einige rüber zum Besuch und um Beute zu machen.

Tagebuch Reiner Purwing /   9.5.1945
In unserem Haus sieht es toll aus. Die Amis hatten dort Quartier. Alles ist durcheinander geraten. Es dauert einige Tag, um vorläufige Ordnung zu schaffen.

Nach ihrem Einrücken hatten die Amerikaner sich sowohl im Gartower Schloss als auch in diversen Privatwohnungen eingerichtet. Saufgelage waren an der Tagesordnung, wenn auch die Gartower dafür gesorgt hatten, dass nicht allzu viel Trinkbares in die Hände der Soldaten fallen konnte: im Schützenhaus lagerten zehntausende Flaschen an Likören, von denen niemand mehr zu sagen wusste, wem sie gehörten.

Am 12. April wurde diese unglaubliche Schnapssammlung an die Bevölkerung verteilt. Es gab ein wüstes Gedränge, teilweise auch Prügeleien, bis ein Hauptmann befahl, das Gebäude mit Handgranaten in Brand zu setzen. Es brannte bis auf die Grundmauern nieder. Haberland*: "In den noch rauchenden Trümmern des Schützenhauses wühlen Männer, Frauen, selbst Kinder nach heilgebliebenen Flaschen mit 'Genever' und anderen Likören. Daneben steht weinend der 70jährige Schlossermeister Schubart aus Hamburg, der in einem Nebenraum des Schützenhauses eine Notwohnung erhalten hatte und der nun wieder alles verloren hat, da man ihm keine Zeit ließ, noch vor der Sprengung die wenigen, mühsam zusammengebrachten Möbelstücke aus seiner Wohnung zu holen."

Am 7. Mai durften alle Zwangsevakuierten in ihre Dörfer und Häuser wieder zurückkehren. Haberland*: "Aber wie fanden sie die verlassenen Häuser vor. In Gartow und verschiedenen anderen Orten herrschten geradezu chaotische Zustände. Möbel, sogar Klaviere, eiserne Öfen, Bettstücke, Matratzen waren in andere Häuser oder andere Orte verschleppt worden und vielfach nicht mehr auffindbar. Kleider- und Wäscheschränke waren ausgeplündert, Tassen , Teller, Töpfe, Flaschen, Einmachgäser, Bilder zerschlagen, Bücher, Photographien, Briefe zerrissen, Werkzeuge verschwunden, Gärten und Höfe auf der Suche nach Wertsachen durchwühlt worden. Kein Huhn war auf dem Hofe, keine Kuh im Stall. Pferde, Kühe, Schweine, Federvieh irrten herrenlos auf Weiden, Wiesen und Feldern umher."

Tagebuch Reiner Purwing /   13.5.1945
Zum ersten Mal im Jahre 1945 in der Elbe gebadet. Die Russen trocknen ihr Gewaschenes im Weidenbusch. Als wir rüberschwimmen, werfen sie nur mit Steinen und machen launige russische Sprüche.

Noch bis Juli 1945 sollte die Unsicherheit anhalten, ob die Region um Gartow nicht doch noch den Russen zugeschlagen würde. Immer wieder tauchten Gerüchte um neue angebliche Grenzziehungen auf, bis endlich Klarheit herrschte.

Im September standen wieder (überprüfte) Lehrer zur Verfügung, so dass im Oktober die Schule wieder anfangen konnte. Knappe Rationen für Fett, Brot, Mehl und Tabakwaren sollten aber noch länger anhalten. Die Landbevölkerung musste sich noch lange mit dem selbst Angebauten und Produzierten begnügen.

Quellen:
*Rudolf Haberland "Geschichte des Grenzgebiets Gartow-Schnackenburg"
"Kriegsende im Wendland"  / Brückenkopf Lenzen - von Karl-Heinz Schwerdtfeger (entstanden unter Nutzung diverser Tagebuchaufzeichnugnen amerikanischer Soldaten)

Foto / vermutlich von amerikanischen Soldaten aufgenommen: im provisorisch eingerichteten Kriegsgefangenenlager Gorleben wurden bis zum 3./4. Mai über 30 000 Kriegsgefangene festgehalten. Alleine 10 000 davon stammten aus einer Division sowie versprengten Soldaten, die sich ihnen angeschlossen hatten. Alle ergaben sich den Amerikanern, um nicht in russische Kriegsgefangenschaft zu gerate. Unter ihnen auch Soldaten, die mit der Bedienung der V2- und V1-Raketen vertraut waren. Für die Amerikaner eine "wertvolle Beute". Einige dieser Spezialisten arbeiteten später in Amerika weiter an der Entwicklung der V2/V1-Raketen.





2015-05-06 ; von Angelika Blank (autor),
in Gartow, Deutschland

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