Am 29. Mai startet wieder die "Kulturelle Landpartie". Seit 25 Jahren zieht sie wie ein Magnet alljährliche Tausende Besucher in die Region zwischen Elbe und Drawehn. Dabei wandelte sie sich vom politischen Künstlerprotest in einen bunten Spaß für Groß und Klein.
Kurz vor Himmelfahrt 1989 im Rundlingsdorf Prießeck: Töpferin Annette Frank steht auf der Leiter in der "Groot Deel" und ist dabei, die letzten Gefache der bisher ungenutzten offenen Scheune zu verputzen. In der angrenzenden Töpferwerkstatt läuft unterdessen die Produktion auf Hochtouren. Es gilt, noch einige Dutzend der beliebten "Rundlingstassen" zu produzieren, bevor am Himmelfahrtstag die Töpferscheune erstmalig ihre Pforten für Gäste öffnet. Bis spät in die Nacht wird noch gedreht, glasiert und geputzt, was das Zeug hält.
Kai Brass, damals Inhaber der Keramikwerkstatt, hatte sich nur zögerlich darauf eingelassen, auf seine Präsentation während des "Pfingstmarktes" in Kukate zu verzichten und statt dessen in den eigenen Räumen auszustellen - so wie rund ein Dutzend andere KunsthandwerkerInnen und KünstlerInnen auch.
Der Überzeugungskraft von Michael Seelig, bis heute Inhaber und Betreiber des Werkhofes in Kukate konnten sie jedoch alle nicht widerstehen. Seelig und elf weitere kreative Köpfe aus der Region hatten nämlich ausgeheckt, dass sie der Welt einmal zeigen wollten, was die "Spinner" und "Chaoten", die seit zwölf Jahren gegen die atomaren Müllpläne für Gorleben kämpfen, sonst noch drauf haben.
DIE ANFÄNGE: intime Einblicke in kreative Lebensformen
"Zeigen, wie unsere Lebensrealität ist, jenseits vom Bespaßen durch Fernsehen und Medien" war die Parole der Stunde. Eine kulturelle Reise über die Dörfer sollte es werden, ein Besuchsprogramm der besonderen Art, bei dem die Gäste aus Nah und Fern Gelegenheit haben sollten, an Leben und Werk der Kreativen im Wendland teilzuhaben. Denn dass die wendländischen Freigeister Besonderes zu bieten haben, was Nicht-Wendländer anziehen würde, davon war die "Zwölferbande" fest überzeugt.
Sie sollten nicht enttäuscht werden: trotz aller Zögerlichkeit wurde überall in den Werkstätten und Scheunen bis in die Nacht gewerkelt, um Räume und Gärten ansehnlich zu machen. Freunde wurden eingeladen, die mit ihren Künsten die Ausstellungen bereicherten. Und kleine, intime Veranstaltungen, Lesungen im Wohnzimmer, Harfenspiel im Garten oder Theaterstücke auf der blühenden Wiese machten die ersten "wunde.r.punkte" zu faszinierenden kleinen Erlebnissen.
Doch damit nicht genug: die bildenden KünstlerInnen unter den InitiatorInnen, darunter Irmhild Schwarz, Uta Helene Götz und Astrid Clasen wollten vor allem die Landschaft einbeziehen in das Erlebnis. "Den Leuten da draußen zeigen, in welchem Konflikt die WendländerInnen seit der Benennung Gorlebens als Standort für atomare Müllentsorgung leben müssen," war die Motivation. Einerseits die faszinierend unberührte Natur mit ihren historisch gewachsenen Dörfern - andererseits der Plan in dieser idyllischen Gegend, ein atomares Entsorgungszentrum mit dem gefährlichsten Müll aller Zeiten einzurichten. Dieser Spagat war kaum auszuhalten.
In Bildern, Skulpturen oder Performances hatten sich die verschiedensten KünstlerInnen bereits mit diesem Spannungsfeld auseinandergesetzt. Nun galt es, die Menschen "da draußen" mitzunehmen auf eine Reise durch dieses zerrissene Land. Sie an die schönsten Orte bringen, sie an "Irritationen am Wegesrand" führen, die Menschen auf eine Fahrt "Hart an der Grenze" bringen oder sie in der Landschaft "Aus allen Wolken" fallen zu lassen, waren die Themen der legendären Landschaftskunst-Aktionen, die die ersten Jahre der "Wunde.r.punkte" zu künstlerischen Gesamterlebnissen machten.
DER BRUCH: die künstlerischen Köpfe gehen
Fünf Jahre lang war die Kunst bzw. waren die Aktionen in der Landschaft tragendes Element der alljährlich zu Himmelfahrt startenden Veranstaltungsreihe. Fünf Jahre voller Diskussionen über neue Themen, über den Zwang zur Wiederholung und die Angst vor der Verselbständigung.
Die KunsthandwerkerInnen hatten inzwischen Gefallen gefunden an der Idee, sich einmal im Jahr in und mit den eigenen Werkstätten zu präsentieren. Im fünften Jahr waren es bereits rund fünf Dutzend Aussteller, die sich an den Wunde.r.punkten beteiligten. Und die Gäste kamen tatsächlich - von Jahr zu Jahr wurden es mehr, die den Weg ins Wendland fanden, um an diesem wundersamen Ereignis teilzunehmen.
Bei den Kommunalpolitikern war die Veranstaltung immer noch verfemt. Der damalige Oberkreisdirektor Klaus Poggendorf (CDU), laut SPIEGEL einer der wichtigsten "Helfer der Atomlobby" hatte im Hause strikte Anweisung gegeben, nicht mit den wunde.r.punkten zusammenzuarbeiten. Sein Tourismuschef hatte allerdings längst erkannt, welch Potenzial in der Veranstaltung lag, heimlich traf er sich mit den Organisatoren und verabredete wenigstens eine minimale Zusammenarbeit. Auf Messen und überregionalen Veranstaltungen sorgte er dafür, dass die "wunde.r.punkte" bekannt wurden.
1993 dann war die "Zwölferbande" der Ansicht, dass die kreativen Entwicklungsmöglichkeiten erschöpft waren. "Alles Weitere würde Wiederholung und Beliebigkeit zur Folge haben," war die allgemeine Einschätzung. Außerdem befürchtete man, dass Wildwuchs in der Qualität der Ausstellungen nicht mehr einzudämmen sein würden. Also wurde beschlossen, den Fisch, das Symbol der bisherigen "wunde.r.punkte" zu begraben und die Veranstaltung sterben zu lassen.
Für die KunsthandwerkerInnen und einen Teil der KünstlerInnen war die Veranstaltungsreihe jedoch inzwischen zu einem wichtigen Teil ihres Jahresumsatzes geworden. Viele AusstellerInnen wollten auf die "Wunde.r.punkte" nicht mehr verzichten.
1994 stand die Veranstaltungsreihe dann als "Wendepunkte" wieder auf, auch wenn Vielen "Wendepunkte" als zu nah an der "Wendezeit" der DDR-Auflösung lag. "Wunde.r.punkte" durfte wegen des Vetos der "Zwölferbande" nicht mehr benutzt werden. Und ein Name, der deutlicher an die Wurzeln erinnerte, nämlich an den Protest gegen die Atomanlagen in Gorleben, ward nicht gefunden. So einigte man sich schließlich nach Jahren auf "Kulturelle Landpartie". Auch dieser Name war zunächst nur als Übergangslösung gedacht - er erwies sich aber im Laufe der Zeit als so gängig, dass es bis heute dabei blieb.
Nomen est Omen - lag es am völlig unpolitischen Namen oder an der immer größer werdenden Teilnehmerschar - der politische Anspruch wurde im Laufe der Zeit immer weniger sichtbar. Dafür wurden die Ausstellungen und Veranstaltungen immer größer, bunter und professioneller.
Beispiel "Lachparade": Begonnen hatte sie in einem kleinen, intimen Zelt von Kerstin und Willem Wittstamm, in dem kaum 200 Leute Platz hatten. Das Programm wurde hauptsächlich von den beiden Besitzern selber sowie einigen Freunden bestritten, atmete den Charme des Unprofessionellen - und war dabei ungemein lebendig und spritzig.
Doch Erfolg muss wachsen. Schon mit dem Umzug in den Saal des "Rebstocks" in Waddeweitz mussten andere Zwangsläufigkeiten berücksichtigt werden: die Saalmiete und die Gagen der Künstler mussten bezahlt, die Bestuhlung organisiert und die Werbung intensiviert werden. Angesichts 400 Besuchern wurden auch Parkplätze und Straßensicherheit zum Thema. Es galt, die Gemeinde zu beteiligen und Verkehrsabsprachen zu treffen.
Diese Probleme verschärften sich dann mit dem weiteren Umzug nach Salderatzen. Hier waren es dann zuletzt 600 BesucherInnen, die die "Lachparade" nicht verpassen wollten. Das Programm wurde noch bunter, noch professioneller, wartete mit großen Namen wie Eckart von Hirschhausen auf. Von Jahr zu Jahr stieg die Erwartungshaltung - und der Druck auf die Organisation. 2013 war dann das letzte Mal, dass es die Lachparade gab. Nachdem der Saal in Salderatzen dieses Jahr nicht mehr zur Verfügung stand, sagte Lachparaden-Organisator Willem Wittstamm die Veranstaltung vor einigen Wochen endgültig ab.
Die "Lachparade" ist nur ein Beispiel für etwas, was an vielen Orten beobachtet werden kann: der Charme der Intimität ist an vielen Ausstellungsorten verschwunden. Auto- und Fahrradkolonnen verstopfen die Straßen im Südkreis. Parkplätze werden rar und liegen oft beinahe einen Kilometer vom Ausstellungsort entfernt.
Und: Viele der aktuell rund 1000 AusstellerInnen leben gar nicht im Wendland - sie reisen extra für die Zeit zwischen Himmelfahrt und Pfingsten an, sind Freunde von hier Lebenden oder bewerben sich schlichtweg um die Teilnahme. Das Ursprungs-Motto "zeigen, wie WIR hier leben", stimmt nur noch für einen Bruchteil der Ausstellenden.
Die Organisation muss seit Jahren gegensteuern: Bus-Shuttles werden organisiert, um den Autoverkehr im Südkreis zu minimieren, Aufrufe gestartet, möglichst viele "Landpartie"-Touren mit dem Fahrrad zu absolvieren.
Und doch: die "Kulturelle Landpartie" lebt. Und wie!
Waren es in den Anfangszeiten niedliche 5000 Programmheftchen, die unters Volk zu bringen waren, so wurden in den letzten Jahren jeweils ein Vielfaches der "Reisebegleiter" gedruckt, die regelmäßig kurz vor Himmelfahrt ausverkauft sind. Besucherzahlen? Unbekannt, da niemand zählen kann, wieviel Gäste tatsächlich anreisen. Doch anhand der verkauften Programmhefte werden die "KLP"-Gäste auf 60 - 80 000 geschätzt.
Die meisten AusstellerInnen haben durch die "KLP" einen Großteil ihres Jahreseinkommens gesichert, zumindest die Übernachtungsbetriebe im Südkreis können wenigstens zehn Tage lang "ausgebucht" an ihre Häuser schreiben und auch andere Unternehmen in der Region freuen sich zwischen Himmelfahrt und Pfingsten über mehr Zulauf.
Und der Boom reist nicht ab. Alljährlich machen sich selbst an trüben Regentagen Heerscharen an radfahrenden Familien und Gruppen auf, die bunte Vielfalt der "KLP"-Orte zu besuchen. So wohl auch dieses Jahr wieder.
Zwischen "Erdrauchabenden" am offenen Feuer, Harfenspiel im Garten und wundersamen Objekten in Werkstätten und Gärten werden sich wieder Tausende am bunten Treiben erfreuen - Einheimische wohl weniger als Besucher. Doch das ist das Schicksal einer jeden touristisch erfolgreichen Region. In St. Moritz dauert dieser Zustand jeweils einen Winter lang - im Wendland ganze zehn Tage.
Und die Ursprungsidee? "Den Menschen da draußen zeigen, was die Chaoten und Spinner auf die Reihe bringen?" - und dabei gleichzeitig gegen den Wahnsinn einer Technologie demonstrieren, die nicht weiß, wohin mit ihrem gefährlichen Müll? Hier und da blitzt sie in all dem Getümmel immer noch auf. Bei den Unentwegten, die ihre Wurzeln nicht vergessen haben.
Oder bei den Designern der Grünen Werkstatt Wendland, die mit "SuperGAUdi" Protest und Kreativität unter einen Hut oder besser in ein Spiel brachten.
Fotos / Angelika Blank: Impressionen von der Kulturellen Landpartie aus verschiedenen Jahren. Titelfoto / Angelika Blank: Die Kabarettistin Uta Rotermund in Salderatzen