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43.000 km längs der Flüsse

Seit zweieinhalb Jahren ist Tino Guse unterwegs. Rund 43.000 km ist er geradelt - ohne Geld, im Gepäck nur soviel, wie er auf Fahrrad und in einem Buggyanhänger tranportieren kann. Am Wochenende ging er auf Zwischenstation in Vietze.

Frühmorgens lehnt an einem Vietzer Gartenzaun ein übervoll bepacktes Fahrrad mit Buggyanhänger. Wie vom Himmel gefallen steht davor ein Mann, der etwas verloren wirkt. Ob er gestrandet sei? Nein, nein, ist die Antwort. Am Tag vorher war ihm der Anhänger kaputtgegangen. Doch das Problem war schnell gelöst - eine Vietzerin hatte ihm einen ausrangierten Buggy geschenkt.

"So geht das meistens," lacht Tino Guse, der Mann neben dem Fahrrad. Ein freundlicher Mann, offen und ohne Berührungsängste. Das ist schnell zu erkennen. Mit seiner wetterfesten Kleidung und seinem langen Vollbart mag er bei Manchem ein gewisses Misstrauen auslösen. Ein kurzes Gespräch löst aber jegliche Vorurteile auf. Seine offene Art, seine offensichtliche Gelassenheit und sein Witz beeindrucken schnell.

Seit zweieinhalb Jahren ist Tino Guse mit dem Fahrrad unterwegs, lediglich mit dem Notwendigsten ausgestattet. Dabei ist er durchaus kein realitätsferner Abenteurer: zu seiner Ausstattung gehören Handy und eine stabile Säge ebenso wie Pfefferspray.

Doch auf seiner gesamten Tour musste er letzteres nur einmal anwenden. In Magdeburg, wo sechs Rechtsradikale nachts mit "Sieg Heil"-Rufen sein Zelt belagerten. "Der Versuch eines Gespräches funktionierte nicht," so Tino Guse. "Als ich in Gelächter ausbrach, weil einer von ihnen auf meine Frage wovon er lebe, 'von Hartz IV' antwortete, wurde es gefährlich. Da musste ich mich dann doch mit Pfefferspray wehren."

Diese gefährliche Situation hielt den Radwanderer aber nicht davon ab, weiter seinen Plan zu verfolgen, 43.000 km mit dem Rad zu fahren. Immer längs von Flüssen. "43.000 km ist ungefähr die Länge des Erdumfangs. Das wollte ich unbedingt schaffen, aber eben nicht rund um die Welt, sondern entlang von Flüssen." so Guse. Warum Flüsse? "Ich bin ein Wasserkind. Wasser ist Leben.  Man findet wieder zu sich, wenn man am Wasser sitzt.  Und außerdem liebe ich Schiffe."

Am Wasser wieder zu sich finden

Sich wiederfinden war eine Hauptmotivation, die Reise zu starten. Sechs Monate hatte er vor vier Jahren nach einem schweren Unfall im Koma gelegen. "Als ich wieder wach wurde musste ich alles neu lernen, sprechen, laufen ... Da habe ich mir schon die Sinnfrage gestellt und mir ist klar geworden, dass das Leben kurz ist." Also begann er, seinen lang gehegten Traum, die lange Radtour, zu realisieren.

Agrarwissenschaften hat Tino Guse studiert, 18 Jahre lang einen landwirtschaftlichen Hof mit Rinderzucht geführt - bis zu seinem Unfall. Er übergab den Hof seiner (Ex-)Frau und machte sich auf seine Reise - ganz nach dem Motto 'ich bin dann mal weg'.

Von Cuxhaven aus ging die Reise los, längs der Elbe. Im Laufe der Zeit radelte er (nicht unbedingt in der Reihenfolge) längs von Weser, Aller, Havel, Mittellandkanal, Rhein, Ruhr, Erft, Urft, Sächsische Saale und viele andere Flüsse in Deutschland. Zuletzt längs der Elbe bis zur Quelle.

Dabei hatte er ausgiebig Gelegenheit, die Zustände deutscher Radwege kennenzulernen. "Am Mittellandkanal war das eine Katastrophe," berichtet Guse. "Schlechte Radwege und sehr sehr viele Brücken, die schwer zu überwinden waren." Bedeutet: zahlreiche Umwege.

Für das Wendland findet er aber nur gute Worte: "Das Wendland ist schöner als am Rhein, gut ausgebaute Radwege in einer faszinierenden Landschaft. Und die Leute hier sind cool drauf."

Spontane Hilfsbereitschaft allerorten

Kein Wunder, dass er zu dieser Erfahrung kommt, denn nicht nur in Vietze waren die Wendländer außerordentlich hilfsbereit. Ob Sprengring, Brennholz oder - siehe oben - Ersatz für einen kaputten Buggyanhänger. Das bloße Erkennen des Problems reichte, um die benötigten Dinge zu erhalten. In Vietze wurden ihm spontan sogar 20 Euro geschenkt. Und alles völlig ohne Betteln. "Einfach spontane Hilfsbereitschaft", so Guse.

Auch die Landschaft am Höhbeck findet Guse so faszinierend, dass er wohl noch einige Tage bleiben wird, um die Besonderheiten zu erkunden. Auch ein Abstecher zu den Rundlingsdörfern ist für ihn denkbar.

Überhaupt machte Tino Guse auf seiner Tour immer wieder die Erfahrung, dass die Menschen, denen er begegnete, außerordentlich hilfsbereit waren. Wie in der Lutherstadt Wittenberg. "Das Schönste war, dass am Heilig Abend, als ich mich in eine Bushaltestelle zum Umziehen zurückgezogen hatte, eine Familie mich spontan zum Weihnachtessen eingeladen hat."

Und auch mit der Polizei machte er - fast - nur positive Erfahrungen. "Nur in Mecklenburg-Vorpommern gab es Probleme, weil die Corona-Beschränkungen einen Aufenthalt von Nicht-Mecklenburgern im Land nicht erlaubten. Innerhalb von 48 Stunden sollte ich ausreisen, sonst würde ich zur Fahndung ausgeschrieben."

Doch meistens gab es freundliche Kontakte zu den Ordnungshütern. Wie in Glückstadt: "Da bin ich in einen starken Sturm geraten. Das war schon schlimm. Da zeigten mir Polizisten aber eine Hütte, so dass ich geschützt war. Solange ich da war, kamen sie dann jeden Morgen und brachten mir Brötchen und eine Thermoskanne Tee." 

Überleben aus eigener Kraft

Zweieinhalb Jahre auf der Straße. Dazu gehören auch Hygiene, Körperpflege und Geld verdienen. Hier wird deutlich, wie gut seine Reise vorbereitet ist: auf guten Karten sind die Autohöfe eingezeichnet (dort ist für 2,50 Euro Duschen möglich), sie zeigen, wo E-Bikestationen sind (hier wird alle drei Wochen das Handy aufgeladen). Und wo die Karten nicht reichen, hilft dann doch einmal eine Internetrecherche.

Und das Geld verdienen? "Wo sich die Gelegenheit bietet, arbeite ich als Tagelöhner. Für drei Tage lang ist das ohne Formalien erlaubt." Bei der Aussicht, womöglich auch in Vietze etwas Arbeit zu finden, ist die Freude über diese Möglichkeit deutlich sichtbar. Gartenarbeit, Hausmeisterdienste, kleine Reparaturen oder Erntehelfer - als Landwirt kann der Wanderer viele Aufgaben übernehmen. "Und das klappt," erzählt er. "Ich habe immer genügend verdient, um weiterzukommen."

Auch viele Begegnungen auf der Reise verschönten die Reise und brachten neue Erkenntnisse. "Dass hier in Vietze direkt an der Elbe eine gut überdachte Grillhütte mit einem Feuerplatz ist - den Tipp haben mir andere Radreisende gegeben." So ist Tino Guse in Vietze gelandet. Diese Übernachtungsmöglichkeit wollte er sich nicht entgehen lassen - mit dem großen Luxus, Feuer machen und auf dem Rost etwas zubereiten zu können. Das nötige Brennholz war ihm von verschiedenen Leuten geschenkt worden.

Was ist nun der weitere Plan? Hier im Wendland, rund 240 km von seinem Endziel  Cuxhaven entfernt, weiß der Flusswanderer nicht, ob er aufhören kann. "Ich habe ein Problem damit, aufzuhören. Bei Wind und Wetter draußen zu sein, soviele Leute zu treffen, so vielfältige Erfahrungen zu machen. Das macht Megalaune."

Wieder dauerhaft in einem Haus zu wohnen, ist im Moment für ihn nicht vorstellbar. Ein Buch will Tino Gause schreiben - über die Tour und seine Erfahrungen. 

Wer weiß, was er tatsächlich macht. Tino Guse wäre nicht der erste, der vom Wendland so fasziniert war, dass er geblieben ist.

Foto | Angelika Blank: Mit Sack und Pack ist Tino Guse seit über zwei Jahren unterwegs - mittlerweile hat 43000 km längs vieler deutscher Flüsse zurückgelegt.




2021-01-09 ; von Angelika Blank (text),

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