Während in Berlin die Massen in Begeisterungstaumel verfielen, war das erste Wochenende nach der Maueröffnung in Lüchow-Dannenberg von gemischten Gefühlen geprägt. Noch im Wendejahr gründete sich aber auch der Verein "Aktion Musik", der bis heute den größten Ost-West-Jugend-Rock-Wettbewerb organisiert: Local Heroes.
Der Traum eines sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaates fand am 9. November 1989 sein längst überfälliges Ende. Ein Traum, der spätestens mit dem Mauerbau 1961 für die DDR-Bürger immer mehr zum Albtraum wurde. Zu sehr hatte sich die Staatsführung darauf konzentriert, ihre Bürger zu drangsalieren, ihnen Würde, Eigenständigkeit und Freiheit zu nehmen.
Der 9. November war somit Auftakt für die Verwirklichung anderer Träume: Während längs der innerdeutschen Grenze Trabis und Menschenmassen im Begeisterungstaumel der Maueröffnung die auf der Westseite liegenden Orte eroberten und die DDR zu einem Schnäppchen für gewiefte Geschäftemacher wurde, machte sich Dieter Herker auf, seine Freunde im Osten Deutschlands zu besuchen und mit ihnen einen lang gehegten Traum zu verwirklichen - die Gründung eines Ost und West verbindenden Wettbewerbs für jugendliche Rockmusiker.
Lange vor der Wende hatten Herker und seine Freunde vom Kulturverein Platenlaase freundschaftliche Bande zu Musikern der Ost-Rockszene aufgebaut. Wo es irgend ging, versuchten sie, den Ost-Musikern Auftrittsmöglichkeiten im Westen zu verschaffen oder sie anderweitig zu unterstützen.
Wie zum Beispiel Stephan Krawczyk: der 1988 aus der DDR "freiwillig" ausgereiste Liedermacher fand in Platenlaase seinen ersten Unterschlupf und gab hier auch eines seiner ersten Konzerte im Westen. Krawczyk war nach langen Observierungen, Verhaftung und Berufsverbot durch die DDR-Oberen dazu genötigt worden, "freiwillig" aus der DDR auszureisen.
Musik verbindet Ost und West
In den Novembermonaten des Jahres 1989 veränderte sich der Alltag hüben wie drüben: vor der Wende jahrzehntelang im Dornröschenschlaf versunkene Orte wie Bergen an der Dumme und Lübbow mussten damit leben, dass ihre Hauptstraßen plötzlich zu stark frequentierten Verbindungsstraßen wurden. Zahlreiche staunende Männer standen auf den Supermarkt-Parkplätzen in Lüchow oder Dannenberg herum und bewunderten selbst den ältesten Lada.
Im Begeisterungstaumel der ersten Wochen mochte auch so mancher nicht wahrhaben, dass die Alltagsrealitäten im Westen sich nicht nur rosarot darstellten. Jede Warnung, doch etwas vorsichtiger zu sein und das Land nicht einfach aufzugeben, wurde - teilweise auch aggressiv - beiseite gewischt. Dabei hatten die Geschäftemacher der Republik längst angefangen, den Kuchen unter sich aufzuteilen.
Jenseits dieser Wiedervereinigungs-Begrüßungsgeld-und-Bananen-Glückseligkeit verfolgte Dieter Herker konsequent seinen Traum. Jenseits von Mainstream und den knallharten Bedingungen des
Musikgeschäftes sollten junge Musikerinnen und Musiker aus der Region
die Möglichkeit erhalten, ein Jugendprojekt aufzubauen, sich
auszutauschen, voneinander zu lernen und sich in einem Wettbewerb mit
anderen zu messen. Dabei war ihm von Anfang an wichtig, dass sich Jugendliche aus dem Osten ebenso an dem Projekt beteiligen konnten, wie Kids aus dem Westen. Schnell waren Gleichgesinnte in Magdeburg gefunden und noch im Wendejahr der Verein "Aktion Musik" gegründet.
Die ersten "Local Heroes"-Wettbewerbe waren noch sehr kleine Regionalveranstaltungen. Natürlich war Platenlaase einer der ersten Austragungsorte. Orte im Osten kamen erst später dazu. Über 25 Jahre wurde aus dem kleinen Regionalwettbewerb dank des unermüdlichen Einsatzes von Dieter Herker einer der - wenn nicht überhaupt DER - größten Jugend-Rockmusik-Wettbewerbe Deutschlands. So bekannte Bands
wie Tokio Hotel oder Madsen machten in dem Projekt ihre ersten
Bühnenerfahrungen und legten hier den Grundstein für ihre Karriere. 2007 wurde ein Nahverkehrszug der Deutschen Bahn auf den Namen des Projekts „local heroes“ getauft und 2008 wurde das Projekt für den LEA / Live Entertainment Award nominiert. Und nicht zuletzt erhielt das Projekt 2003 für seine integrative Arbeit den Deutschen Einheitspreis verliehen.
Zu "Blühenden Landschaften" ist der größte Teil Ost-Deutschlands bis heute nicht geworden. Statt dessen tauchte das Wort "Wüstung" im Sprachgebrauch wieder auf: gemeint sind damit nicht nur die über ein Dutzend Orte, die längs der innerdeutschen Grenze vom DDR-Staat zwangsentsiedelt und später geschleift wurden, sondern all die Orte, die seit der Wende immer mehr veröden, weil ihre Bewohner weggezogen sind und niemand die maroden DDR-Bauten in monotonen Agrarwüsten übernehmen möchte.
"Local Heroes" dagegen blüht und gedeiht seit über 20 Jahren unaufhörlich. Inzwischen ist es gar zu einem europäischen Projekt geworden. In Ungarn und Österreich finden seit einigen Jahren auch "Local-Heroes"-Wettbewerbe statt. In Pecs (Ungarn), Wien und Salzwedel fanden bisher drei europäische Finalverstaltungen statt. Und auch in Italien, der Schweiz und Rumänien gibt es seit einigen Jahren "Local-Heroes"-Wettbewerbe.
Wie sang Rio Reiser ( Ton, Steine Scherben): "Der Traum ist aus, doch ich werde alles geben, dass er Wirklichkeit wird."
Foto: aus einem Film über Local Heroes im Jahre 1991