Thema: theater

... auch wenn ich auf meinem Herzen laufen muss

Von den unzähligen im Mittelmeer Ertrunkenen, ihren Geschichten, Träumen und Sehnsüchten erzählt die szenische Collage "Die Stadt unter dem Meer". Am Freitag war in Marlin Premiere.

Schon beim Betreten des Theaterhofs in Marlin werden die Zuschauer mit der Realität zigtausender über das Mittelmeer Geflüchteter konfrontiert: das Boot, welches dort den Innenhof füllt, ist baugleich mit den Booten, die für die Überfahrt genutzt werden. Beim Anblick des gerade einmal 15 m langen und rund 4 m breiten Schlauchbootes beginnt das Grübeln: wie kann es sein, dass auf diesem kleinen Schiff ohne festen Boden bis zu 300 Menschen transportiert worden sind? Unglaubliches Glück scheint es zu sein, dass es überhaupt Geflüchtete geschafft haben, mit einer derartigen Wackelunterlage raue See zu überwinden.

Das Schicksal der unzähligen Geflüchteten, deren Weg auf dem Grunde des Mittelmeeres endete, motivierte Mitglieder der Freien Bühne Wendland, Thea tanzt und dem Kuba e.V. die szenische Collage "Die Stadt unter dem Meer" zu inszenieren.

Vier junge Männer aus Syrien und Afghanistan ließen sich für das Projekt begeistern, brachten ihre persönlichen Erfahrungen und Geschichten in das Stück ein. Texte und Szenenfolgen entstanden in Gemeinschaftsarbeit - ergänzt durch Gedichte von Nazim Hikmet, Christian Saak,  Monzer Masri sowie weiteren arabischen und europäischen Dichtern.

Vom Leben unter dem Meer

Eine Handlung hat das Stück nicht. Durch die Aneinanderreihung einzelner Szenen entsteht ein Kaleidoskop über Träume, Traumate und Sehnsüchte Geflüchteter. Träume von Freiheit, Liebe und einer friedlichen, gemeinsamen Zukunft.

Mit einfachsten Mitteln (Plastikfolie, alte Hölzer, grobe Stricke ...) werden Gefühle und Träume in Szene gesetzt. Videoprojektionen verfremden die Scheune, machen sie zu einem schwankenden Raum, in dem sich auch die Zuschauer nicht auf festen Halt verlassen können. Sie sitzen auf Bretterflössen, die auf Luftreifen montiert sind. Jede Bewegung des Einzelnen bringt die Anderen ins Schwanken. Was vor der Aufführung noch ein lustiges Spiel war, wird während des Stücks zunehmend zu einer bedrückenden, anstrengenden Erfahrung. Ständig gilt es, das Gleichgewicht zu halten, denn jede Bewegung bringt das ganze Boot ins Schwanken. Wir sind auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen, bis wir das rettende Ufer erreicht haben. Gleichzeitig geht es darum, mich selber zu schützen. Was tun, wenn ich die Entscheidung treffen muss, ob ich überlebe oder mein Nachbar? mein Kind? meine Frau? mein Mann? ...

Allein diese Erfahrung macht schon vieles von den traumatischen Erlebnissen spürbar, die unzählige Geflüchtete auszuhalten hatten. Die minimalistische musikalische Begleitung mit Klavier, Klangblech oder Cello, gespielt und komponiert von Achim Oerter und Johannes Ammon, tut ihr Übriges, die fragile Sicherheit einer Reise auf dem Meer spürbar werden zu lassen.

Raffiniert die optische Gestaltung. Ständig durchdringen sich Videoprojektionen von Unterwasser-Läufern oder verschwommenen Strukturen mit Schattenwesen hinter der Leinwand und den Spielern vor der Leinwand. Körper pressen sich von hinten gegen die Plastik-Leinwand, werden so zu abstrakten Wesen, die den Kontakt zum Leben nicht mehr finden können.

Texte von arabischen Dichtern geben einen tiefen Einblick in die bilderreiche Sprache des Orients, der Qual eines geschundenen Landes und der tiefen Sehnsucht nach Freiheit. ("Mit geschlossenen Augen sehe ich Blumen, die ich aus meinem Herzen pflücke. Alle sagen mir: Guten Morgen Freiheit.")

Sie erzählen von Gewalt, Verhaftungen, einer nicht vorhandenen Privatsphäre ("Wir lebten in einer Sicherheit von Pferchen und Käfigen, denn unsere Wohnungen entbehrten jeglicher Unantastbarkeit. zu jeder Tages- und Nachtzeit kann eine ... Patrouille an deine Tür klopfen oder sie eintreten und in dein Leben eindringen" - Monzer Masri).

Bei aller Qualität und Eindringlichkeit der einzelnen Texte beweist sich aber wieder das alte Prinzip "Weniger wäre mehr gewesen". Die Inszenierung lässt den Zuschauern kaum eine Besinnungspause, auch wenn musikalische Passagen die Textflut unterbrechen. So hat kaum ein tragischer Erfahrungsbericht oder ein intensives Gedicht die Chance auf tief eindringende Wirkung.

Wem erzählen wir unsere Geschichte?

Bei den über fünfhundert Geflüchteten im Landkreis hatte sich die Premiere offenbar kaum herumgesprochen. Fast keiner von ihnen befand sich im Publikum. Hatten sie kein Interesse? Warum brachte keiner der zahlreichen HelferInnen seine "Schützlinge" mit zur Premiere? Diese Fragen blieben am Freitag unbeantwortet. Aus dem Team war allerdings zu hören, dass "wir da noch etwas unternehmen wollen".

Auch Einheimische, die sich mit dem Schicksal der Geflüchteten bisher nicht auseinandergesetzt haben oder ihnen kritisch gegenüber stehen, konnten bei der Premiere nicht geortet werden. So bot die "Stadt unter dem Meer" lediglich all denjenigen, die eh schon viel Verständnis für die Schicksale Geflüchteter haben, zusätzliche tiefe Einblicke in das Seelenleben der hier Gestrandeten aus Syrien oder Afghanistan. Schade. Es bleibt zu hoffen, dass das Stück auch in anderen Zusammenhängen, deren Publikum sich gemischter zusammensetzt, gezeigt werden kann.

Immerhin: Schon vor der Premiere ist das Stück vom Fonds Soziokultur für den Innovationspreis Soziokultur nominiert worden.    

PS: das köstliche Buffett wurde von syrischen Köchen und Konditoren im Integrationshaus Lüchow vorbereitet.

Die nächsten Aufführungstermine (alle in Marlin Nr. 9):

Samstag, 17.9.16 - 20.00 Uhr
Sonntag, 18.9.16 - 19:00 Uhr
Freitag, 23.9.16 - 20.00 Uhr
Samstag 24.9.16 - 20.00 Uhr
Sonntag, 25.9.16 - 19:00 Uhr
Freitag 30.9.16 - 20.00 Uhr
Samstag 1.10.16 - 20.00 Uhr
Sonntag 2.10.16 - 19:00 Uhr
Montag 3.10.16 - 19.00 Uhr


Kartenvorbestellung
unter: karten@freiebuehnewendland.de  

Fotos / Kina Becker / pictonet







Fotos

2016-09-17 ; von Angelika Blank (autor),
in Marlin, 29496 Waddeweitz, Deutschland

theater   kultur  

Kommentare

    Sie müssen registriert und angemeldet sein um einen Kommentar schreiben zu können