Hitzacker. "Wie viele Menschen haben noch nie von mir gehört?",
fragt Wilhelmine. Ungefähr ein Drittel der Anwesenden in
Hitzackers Kulturbahnhof hebt am Freitagabend die Hand - was die
Popsängerin aus Berlin freut. Und nur mit ihrer Stimme, begleitet
an der einer Gitarre von ihrem langjährigen musikalischen Partner
Dave, verzaubert sie den voll besetzten Saal in eine Konzertarena.
Nach wenigen Liedern jubeln die Zuschauer begeistert. Aber dann
ist es schon wieder vorbei.
Denn den Großteil der Lesung, veranstaltet von NDR Kultur und "Der
Norden liest", bestreitet Jan Peter Bremer. Der Berliner Autor
stellte seinen viel gelobten Roman "Nachhausekommen" über seine
Kindheit in Gümse vor. "Restlos ausverkauft" hieß es am Eingang –
der Andrang war so groß, dass ein zweiter Raum mit Hörplätzen
geöffnet wurde. Eine Premiere im KuBa. Was nicht weiter wundernimmt, wenn zwei der angesagtesten Kulturexporte des Wendlands
rufen.
Die Idylle war brüchig
Zuvor verriet NDR-Kulturmoderatorin Julia Westlake den
Zuhörenden, dass es sich bei dem Abend auch für sie um eine Art
Heimspiel handele – sie stamme aus der Nähe von Bad Bevensen und
sei als Kind oft in Hitzacker gewesen. Bereits am Einlass umarmte
der im Wendland aufgewachsene Autor alte Bekannte – für ihn war es
tatsächlich eine Art "Nachhausekommen", so der Titel seines Romans
über seine Kindheit im Wendland, obwohl er seit fast 40 Jahren in
Berlin lebt.
Sein Vater, der bekannte Grafiker Uwe Bremer, wollte 1970 von Berlin aufs Land ziehen, eine Künstlerkolonie gründen. "Worpswede war geplant, aber im Wendland waren die Häuser billiger", so Bremer lakonisch. Das Setting: Idylle pur. In einem Raubritterschlösschen aufzuwachsen, direkt am Gümser See, mit Schafen, die auf einer Streuobstwiese grasen, umgeben von kreativen, wohlmeinenden Menschen – kann es etwas Schöneres für ein Kind geben?
Was aber, wenn sich in diesem Idyll auf den zweiten Blick Risse
auftun? Denn der Autor erlebt sich in Gümse als Aussätzigen,
trotzt des paradiesischen Umfelds. Die Dorfkinder akzeptieren den
Exoten nicht. Zu ungebunden und wild ist das Leben, welches die
Eltern und der Freundeskreis aus Journalisten, Schriftstellern und
Künstlern führen.
Sporen der Erinnerung
Die oft demütigenden Erinnerungen an vier Jahre seiner Jugend gibt Bremer derart detailliert wieder, dass Moderatorin Westlake nachhakt, ob sich das alles so zugetragen habe. "Ich wollte diese Kindheit noch einmal nachkonstruieren, weil bestimmte Erfahrungen einem doch hängen bleiben", so der heute 58-Jährige.
Der Roman sei eine Mischung aus Fiktion und autobiografisch Erlebtem, erläutert Bremer. In einer durchaus schmerzhaften Erinnerungsarbeit, die ihn schichtweise immer tiefer geführt habe, habe er alles noch mal hervorgekramt. Es sei, als ob man im Wald auf einen Bovisten träte und die Sporen der Erinnerung sich wie eine Wolke verbreiten. Dann habe er Ereignis für Ereignis genommen, "viele tausend Erinnerungen", und habe diese "neu zusammengesetzt". Einiges sei erfunden, aber das meiste könne sich genau so zugetragen haben. "Wenn man bemerkt, dass einen etwas berührt, dann steckt beim Schreiben ein Kern tatsächlicher Wahrheit drin". Vier Jahre habe er – außerhalb der kleinen Familie – "im Grunde einsam und von den Mitschülern nicht gemocht" zugebracht, erinnert sich Bremer – "eine lange Zeit für ein Kind".
Das Buch zu schreiben habe tatsächlich befreiende Momente gehabt
– und gleichzeitig "auch unglaublichen Spaß" gemacht. Da es ihm
viel über das Wesen von Kindheit erklärt habe. Und noch etwas habe
er verstanden: Er schreibe zwar schon seit 40 Jahren, habe aber
erst jetzt begriffen, dass, "wenn man den Anfang hat, eigentlich
schon das Ende schon wissen muss". Sein Buch - es ist auf
einzigartige Art berührend und dabei ausgesprochen unterhaltsam -
funktioniere auf zwei Ebenen: Zum einen sei es Sittengemälde der
70er-Jahre. "Und es ist eine Geschichte darüber, wie Bewusstsein
bei einem Kind entsteht – wie die Welt langsam reift und größer
wird."
Wilhelmine: "Nie wieder wegrennen"
Und Wilhelmine? Am Ende ihres zweiten knappen Sets wurde die Wahl-Berlinerin frenetisch gefeiert, wenigstens eine Zugabe konnte sich das Publikum erklatschen. Wilhelmine, Jahrgang 1990, berichtete zuvor im Gespräch mit Julia Westlake von ihrer Jugend im Wendland. Ähnlich wie Bremer zog sie mit ihren Eltern aus Berlin nach Schweskau.
In ihren Songs singt sie poetisch, dabei
kraftvoll und mutig über die Herausforderungen, denen sie sich
damals stellen musste. Umbrüche, ihr Coming-out, wechselnde
Bezugspersonen, unzählige Umzüge – immer wieder fühlte sich
Wilhelmine entwurzelt. „Nie wieder wegrennen“ heißt so auch ihre
aktuelle Single, die sie in Hitzacker vorstellte.
Inzwischen ist Wilhelmine sehr erfolgreich, ist bei einem Majorlabel unter Vertrag und auch ihre Konzerte in größeren Hallen sind ausverkauft. Mit ihren Songs, die teils über zehn Millionen Aufrufe auf aktuellen Musikplattformen verzeichnen, trifft die Berlinerin ganz offensichtlich einen Nerv. Sie kombiniert poetische Texte mit lyrischen Ohrwurmmelodien. Wilhelmine gelingt ganz leichtfüßig ein besonderer Spagat: Ihre Musik berührt, versteht, umarmt – und weckt gleichsam auf.
Foto | Björn Vogt: Wie war es, im Wendland aufzuwachsen? Sorgten für ein
volles Haus und einen unterhaltsamen Abend: Sängerin Wilhelmine,
Moderatorin Julia Westlake und Autor Jan Peter Bremer.