Ein neues Buch des Gorleben-Archivs dokumentiert Gespräche mit Zeitzeugen des gesellschaftlichen Wandels. Menschen aus sehr unterschiedlichen Milieus berichten offen, wie die Protestbewegung ihr persönliches Leben - und auch den Landkreis - veränderte und ihre politische Haltung prägte.
„Mein lieber Herr Albrecht…!“ Mit
diesen Worten wandte sich im März 1979 in Hannover ein junger
Landwirt aus Lüchow-Dannenberg an seinen Ministerpräsidenten.
Heinrich Pothmer, der diese legendäre Rede damals gehalten hat, war
mit dem Trecker in die Landeshauptstadt gefahren, um dem
Regierungschef die Leviten zu lesen. Mit ihm kamen Hunderte seiner
Berufskollegen und viele tausend Menschen aus Lüchow-Dannenberg.
Hunderttausend aus der ganzen Republik demonstrierten damals gegen die Landesregierung, die in Gorleben ein Nukleares Entsorgungszentrum (NEZ) mit einer Wiederaufarbeitungsanlage bauen wollte. Geplant war auch ein Endlager für hochradioaktiven Müll im Salzstock Gorleben-Rambow.
Doch mit dem Treck der Lüchow-Dannenberger Bauern und Bürger nach Hannover begann sich das Blatt zu wenden. Ministerpräsident Ernst Albrecht nahm von Teilen dieser Planungen Abstand, weil er sie politisch nicht mehr für durchsetzbar hielt. Und in Lüchow-Dannenberg entwickelte sich im Zuge des Gorleben-Konflikts eine kritische Bürgergesellschaft, die die Region bis heute prägt – sozial, politisch und kulturell. Aus einem fast vergessenen, strukturschwachen und extrem konservativen Landstrich am äußersten Rande der Republik wurde das Wendland - eine lebendige und selbstbewusste Region mit einer ganz eigenen Identität.
Wie das „Erwachen aus einem Dornröschenschlaf“
Schon in seiner Ausstellung „Der Gorleben-Treck – 40 Jahre danach“ hat sich das Gorleben Archiv mit der Frage befasst, welche Spuren der Gorleben-Konflikt im Leben jener Menschen hinterlassen hat, die Teil der bunten Protestbewegung waren und sich noch immer so fühlen. Welche Erfahrungen haben sie gemacht? Was hat sich in ihrem Leben und in ihrem Lebensumfeld dadurch verändert? Wie haben sie selbst sich dadurch verändert? Mit dem neu erscheinenden Begleitband „Mein lieber Herr Albrecht ...!“ hat das Ausstellungsteam diese Arbeit nun fortgesetzt und vertieft.
Im Mittelpunkt des reich bebilderten
Buches stehen ausführliche Gespräche mit 34 Zeitzeuginnen und
Zeitzeugen. Sie alle haben in irgendeiner Weise eine Rolle bei diesem
gesellschaftlichen Wandel gespielt - in Dorfgemeinschaften oder der
Landwirtschaft, in Berufsverbänden, Parteien oder der Kirche, als
Kulturschaffende oder Beamte. Sie haben Auseinandersetzungen mit der
Obrigkeit nicht gescheut, harte Kontroversen mit politischen Freunden
ausgetragen und immer wieder neue Initiativen und Projekte ins Leben
gerufen.
So haben sie an einem Veränderungsprozess mitgewirkt, den die Betroffenen selbst im Buch mit Bildern wie dem „Aufblühen“ einer Region oder das „Erwachen“ aus einem „Dornröschenschlaf“ charakterisieren. Ein Prozess, der aber auch von schmerzhaften Erfahrungen begleitet wurde. Die Zeitzeugen erzählen sehr offen davon, wie das Thema Gorleben Familien spaltete, Freundschaften zerstörte, zum Verlust der politischen Heimat führte und nicht selten auch mit schwierigen inneren Konflikten verbunden war.
Protestbewegung als „permanente Volkshochschule“
Im Laufe der Zeit hat die
Protestbewegung nicht nur die deutsche Atompolitik beeinflusst, sie
hat sich auch zum Motor einer neuen selbstbewussten Zivilgesellschaft
entwickelt. Zwei Dinge zeichnen sie aus. Zum einen das beharrliche
Lernen. Einer der Gesprächspartner fasst das so zusammen: „Das
Wendland wurde zu einer permanenten Volkshochschule.“ Zum anderen
entwickelte und testete die Widerstandsbewegung kontinuierlich neue
Formen der Basisdemokratie.
Das macht das Wendland inzwischen zum Forschungsobjekt - beispielsweise für die Wissenschaftler vom Institut für Didaktik der Demokratie (IDD) an der Leibniz Universität Hannover. Das Buch ist wie die Ausstellung ein Ergebnis aus der Zusammenarbeit des Gorleben-Archivs mit dem Institut.
„Mein lieber Herr Albrecht“ beschreibt eine technikgläubige Ära aus der Sicht von Menschen, die gleichzeitig Betroffene und Akteure sind. Eine Ära, in der ein kleiner Landkreis an einem Kapitel der deutschen Demokratiegeschichte mitgeschrieben hat.
Finanzielle Hilfen haben einen
Kaufpreis von nur 20 Euro für den großformatigen Band möglich
gemacht: Das Gorleben Archiv dankt dem Landkreis Lüchow-Dannenberg
für die Förderung, der Bäuerlichen Notgemeinschaft für ihre
großzügige Spende. Dem Lüneburgischen Landschaftsverband danken
wir für die Unterstützung des Ausstellungs-Projektes „40 Jahre Gorleben-Treck“.
Foto: PAN Foto/Günter Zint
Wie der Gorleben-Konflikt eine Region veränderte.34 Gespräche mit Zeitzeugen.
192 Seiten, 20 Euro
Herausgeber: Gorleben Archiv e.V.
Verlag jeetzelbuch, Lüchow
ISBN 978-3-928117-90-6
Das Buch erscheint
am 10. DEZEMBER
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