Massenfluchten und Auswanderungen sind kein modernes Phänomen. Allein über die sogenannte "Amerikalinie" reisten unzählige Menschen zu den Schiffen Richtung Amerika.
Heutzutage ist eine Bahnfahrt von Stendal nach Bremerhaven eine gemütliche Angelegenheit. Ein Großteil dieser Strecke wird nur noch von Nahverkehrs- und Güterzügen befahren. Ende des 19. Jahrhunderts waren selbst die Bahnhöfe von Schnega (dam als Billerbck) und Bergen Station für Fernzüge, die unzählige Auswanderungswillige zum Hafen nach Bremerhaven brachten. Die Strecke zwischen Berlin und Bremerhaven wurde für Generationen zur „Amerikalinie“, die sie auf direktem Wege zum Überseehafen führte.
Durch Briefe von bereits Ausgewanderten aber auch Handbücher, wurde auch hierzulande bekannt, dass die USA es jedem erlaubten, ein bis zu 64
ha großes unbesiedeltes Stück Land zu bewirtschaften und Eigentümer
zu werden – eine Chance für arme Landwirte, sich aus der heimischen Perspektivlosigkeit zu befreien. Tickets (meist
für eine Überfahrt im tiefsten Unterdeck) konnten im Bahnhof
gekauft werden, wo die beiden Übersee-Reedereien HAPAG und Lloyd
eine Agentur betrieben. Oft wurde Hab und Gut verkauft, um die Passage bezahlen zu können.
Seitdem im Jahre 1873 das Teilstück zwischen Stendal und Uelzen eröffnet worden war, gab es auch Stationen in Schnega (damals Billerbeck) und Bergen. Wer sich eine Fahrt auf den regelmäßig fahrenden Linienzügen leisten konnte, hatte die Möglichkeit, hier einzusteigen. Wer mit den speziellen - und viel günstigeren - Sonderzügen für Auswanderer fahren wollte, musste zum Bahnhof nach Ebstorf fahren.
Ohne Desinfektion und Gesundheitscheck keine Weiterreise
Zweimal am Tag hielten in dem Heideort diese Spezialzüge mit jeweils rund 800 Passagieren, die zusammengepfercht in Güterwaggons ohne Sitzplätze und sanitären
Anlagen ausharren mussten. Die "Auswandererzüge" standen auf keinem Fahrplan und fuhren
ansonsten ohne Stopp nach Bremerhaven - zu groß war die Angst vor
Seuchen, allen voran Tuberkulose und Cholera.
In Berlin-Ruhleben, vor allem für Osteuropäer ein Startort für die Fahrt nach Bremerhaven, war eigenes ein Auswandererbahnhof gebaut worden, den die Reisenden nicht verlassen durften, um die Ausbreitung von Seuchen in der Stadt zu vermeiden. Hier wurden die Auswanderer auf verschiedenste Krankheiten untersucht. Nur wer gesund war (und genügend Geld für die gesamte Reise bei sich hatte) durfte weiterreisen.
Der Bahnhof Ebstorf war der einzige Stopp auf der Strecke, weil hier Kohle- und Wasservorräte aufgefüllt werden mussten. Für die Passagiere die Möglichkeit, dringende Bedürfnisse zu befriedigen und sich mit Lebensmitteln zu versorgen. Das brachte viel Umsatz für Betriebe in der Region.
Der Bahnhof wurde in dieser
Zeit zum internationalen Treffpunkt: Einheimische trafen hier auf
Emigranten aus allen Himmelsrichtungen: beispielsweise waren Russland, Polen, die heutige Ukraine aber auch Schweden, Norwegen oder Italien Herkunftsländer.
Armut, Landflucht und Verfolgung
Die Gründe für die
Emigration waren unterschiedlich. Bei Manchem war es wohl
Abenteuerlust, aber meist war es die schiere Not, die die Menschen
aus dem Land trieb – vor allem in der ersten großen
Auswandererwelle, die um 1890 begann. Später war es eine horrende
Inflation (1922/23) sowie die Verfolgung durch die
Nationalsozialisten.
Insgesamt sind im 19. Jahrhundert über 5 Millionen Menschen nach Amerika ausgewandert. Alleine 2 Millionen von ihnen waren Juden, die vor den Progromen in Polen und Russland flohen. Viele dieser Auswanderer kamen aus Wolhynien, Galizien und Bessarabien - alles drei Gebiete, die Regionen der heutigen Ukraine umfassten.
Andere sind aus persönlichen
Gründen ausgewandert. Wie die Vorfahrin einer Ebstorfer Familie, die
Anfang des 20. Jahrhunderts mit ihrer Tochter alleine nach
Pennsylvania auswanderte - vermutlich um Ausgrenzung zu entgehen. Überliefert ist, dass sie es in Übersee
zu etwas Wohlstand gebracht hatte. Nach einem
Besuch in Pennsylvania kam eine in Deutschland bisher unbekannte Neuheitnah Ebstorf: ein
elektrisch betriebener Toaster.
Neben New York war der Hafen von Baltimore ein Ziel vieler Auswanderer. Von hier aus waren die fruchtbaren Ländereien von Pennsylvania relativ schnell zu erreichen. Außerdem lebten dort schon zahlreiche Deutsche - bereits im 18. Jahrhundert bestand rund ein Drittel der dortigen Bevölkerung aus Deutschstämmigen.
Mindestens 40 Tage dauerte die Überfahrt - keine Luxus-Kreuzfahrt, sondern eine quälende Reise unter miesesten Bedingungen. Im Zwischendeck (dritte Klasse) untergebracht, mussten die Reisenden ohne Tageslicht, mit kaum ausreichenden sanitären Anlagen, auf engstem Raum ausharren.
Nach Col. Reb Custer, Betreiber des Americaline Depot Monument in Ebstorf, finanzierten die Reedereien mit den Reisegebühren der Auswanderer wohlhabenderen Reisenden Luxusreisen zu günstigen Preisen.
Ein Museum im Gedenken an die Amerikalinie
„Colonel reb. Custer“, bürgerlich Volker Custer, lebt seit 2014 im Bahnhof Ebstorf. Der Musiker hatte eigentlich gemeinsam mit seiner Freundin „nur“ einen Bahnhof gesucht, in dem sie wohnen, aber auch Veranstaltungen durchführen können.
Als Custer entdeckte, an welch historischer Strecke ihr neues Heim liegt, begann er, sich intensiv mit der Geschichte der „Amerikalinie“ zu beschäftigen. Inzwischen hat er viele Ausstellungsstücke und Informationen aus der Region zusammengetragen. Ein Besuch im Museum lohnt sich schon allein deswegen, weil „Colonel Custer“ unzählige Geschichten von Auswanderer-Nachfahren aus der Region zu erzählen weiß. Mehr Informationen – auch über aktuelle Veranstaltungen – gibt es auf americaline.org.