Thema: psychologie

Die geheimen Verträge

Verträge sind eine feine Sache. Sie regeln unsere Beziehungen, sie setzen Grenzen und schaffen Klarheit. Verträge sorgen für Sicherheit. Mit einem Vertrag in der Hand weiß ich, was geht und was nicht geht. Und auch: welche Sanktion mir droht, wenn ich den Vertrag breche. Basis jedes Vertrags ist jedoch, daß beide Seiten ihn wollen – freiwillig und ohne Zwang.Karl-Heinz Farni über unbewußte Abmachungen zwischen Eltern und Kind.

Genau dies gilt nicht, wenn es sich um „geheime Verträge“ handelt, um Verträge, an die sich zwar die Beteiligten penibel halten, deren Existenz jedoch niemandem bewußt ist. Denn geheime Verträge stehen auf keinem Papier, wurden nie offen geschlossen; sie sind eine Vereinbarung des Unbewußten der einen Person mit dem Unbewußten der anderen. Auch sind sie grundsätzlich einseitig, meist regelrechte Knebelverträge, die, überprüfte man sie juristisch, weder dem Grundsatz von Treu und Glauben noch der Billigkeit entsprechen. In dieser Einseitigkeit der geheimen Verträge ist indes auch die Chance vergraben: sie können ebenso einseitig gekündigt werden.

Mit geheimen Verträgen hat man im täglichen Beziehungsgeflecht dauernd zu tun. In unserer Psyche wimmelt es davon. Ein schönes Beispiel für einen geheimen Vertrag ist das „Schneewittchen-Syndrom“: § 1: Du darfst nicht schöner sein als deine Mutter, riskiere nie, daß sie in deinem Schatten stehen könnte. § 2: Dann und nur dann gibt dir deine Mutter Zuwendung. § 3: Bei Zuwiderhandlung wird dich deine Mutter umbringen. Wobei das „wirkliche“ Schneewittchen, das aus dem Märchen, noch gut abschneidet, denn sie bricht ja bekanntlich den Vertrag, indem sie einfach schöner ist als ihre Mutter. So ermöglicht sie sich die Erfahrung, daß sie auch dann überleben kann, wenn sie sich und ihre Schönheit nicht versteckt. Sie erlebt so, daß der Vertrag kündbar ist – wenn auch für den Preis existentieller Angst.

Die Welt aber ist voll von heimlichen Schneewittchen, die nichts von der Existenz des Vertrags mit ihrer Mutter wissen und ihn deshalb einhalten, indem sie furchtbar viel Mühe darauf verwenden, sich unattraktiv zu machen, um bloß nicht in Konkurrenz zur Mutter zu geraten – zu bedrohlich sind die Paragraphen 2 und 3. Übrigens sind durchaus auch Männer vom „Schneewittchen-Syndrom“ befallen, nur, daß es bei ihnen statt um Schönheit meist um Erfolg geht: Überhole nie deinen Vater, werde nie besser als er! Sonst beschämt ihn das so, daß er stirbt. Und du bist schuld!

Geschlossen werden die geheimen Verträge meist in frühester Kindheit, oftmals schon mit dem noch Ungeborenen. Und dahinter steckt so gut wie nie – nicht einmal im Unbewußten – böser Wille. Es passiert einfach: Eine Mutter, die in ihrer eigenen Kindheit von Gebrüll, Gezerre und Ag-gression umgeben war und darunter gelitten, sich dies aber nie bewußt gemacht hat, fürchtet sich bis heute vor allem Heftigen, Lauten und Zupackenden – egal, wie scheinbar souverän sie an der erwachsenen Oberfläche damit umgeht. Das strahlt sie ab – ob sie will oder nicht. Und als Säuglinge sind wir noch hochsensibel, merken wir noch alles, spüren also auch, was Mama nicht ertragen kann, was sie schmerzen würde, was sie als bedrohlich empfindet, was sie ängstigt oder ärgerlich macht.

Als das Baby dieser Mutter stehen wir hier vor einem wahrhaft existentiellen Konflikt. Wir können nur wirklich ganz und glücklich sein, wenn auch unsere lauten, heftigen und zupackenden Seiten ihren Platz bekommen. Aber Mama erinnert unsere offensive Seite, unsere Lebendigkeit an ihre eigene Kindheit. Die alte Bedrohung steigt wieder auf, sie fühlt sich überfordert, überrollt, benutzt. Aber diesmal ist sie in der Lage, das zu tun, was sie als Kind schon wollte, was damals aber nicht ging: sie wehrt den ganzen Lärm und das dauernde Betatschtwerden ab. Und sie schreckt auch nicht vor der Höchststrafe zurück: sie läßt uns allein.

Das hält kein Baby aus. Dieser existentielle Konflikt – mein Leben oder Mamas Liebe – schreit wie das Baby selbst nach Änderung. Da aber Mama, weil ihr das alles unbewußt ist, nicht versteht und folglich auch nichts ändert, ist der einzige Akteur, der etwas ändern kann, das Baby. Um Mamas Zuwendung nicht zu verlieren, schneidet es alles Laute, das Heftige, das Zupackende, ab und vergräbt es in sich.

Dieser seelische Selbstmord ist nur mit einem Ersatz zu ertragen. Diesen liefert der geheime Vertrag: Er verspricht das Paradies – am Ende des Weges. Er vertagt das Leben, ist die Mohrrübe vorm Kopf des Esels, die Handvoll Glasperlen, mit denen dem Eingeborenen Amerika abgekauft wird: Nur, wenn Du Dich so verhältst, wie die Eltern es wünschen, bist Du liebenswert. An die Stelle der Ganzheit tritt ein neues Prinzip: Der Anspruch auf Liebe fürs Sein erlischt; als Gegenleistung gibt es etwas, das zwar Liebe genannt wird, aber nur Anerkennung, Aufmerksamkeit, Lob für erwünschtes Verhalten ist.

Vorgesetzten, der Trainerin, dem Ehemann, der Freundin gegenüber nicht laut, nicht aggressiv, nicht fordernd; man zieht nicht das tollste Kleid an, wenn man mit der besten Freundin Shopping geht; man nickt dem Ehemann während seines Vortrags am Frühstückstisch bestätigend zu, obwohl man eigentlich weiß, daß nicht stimmt, was er erzählt.
Wie kündigt man geheime Verträge? Der alles entscheidende Schritt ist ihre Entdeckung, das Aufspüren, daß da überhaupt ein Vertrag besteht, an den ich mich schon seit den Tagen meiner Kindheit halte, mich einschränke und beschneide, meine Lebendigkeit abtöte – um andere in ihren Schwächen zu schonen, nicht zu riskieren, daß sie sich verletzt fühlen. Wem diese seelische Selbstverstümmelung bewußt wird, dem sprudeln ganz von selbst ehedem verdrängte Gefühle hoch – und damit ist der Vertrag de facto bereits gekündigt.

Wobei man die Ängste, die dann ebenfalls an die Oberfläche drängen, nicht unterschätzen sollte. Sie können so heftig sein, daß der Gedanke sich aufdrängt, den Vertrag vielleicht doch lieber wieder einzuhalten. Und noch etwas ist unangenehm: die geheimen Verträge sollten ja die Schwächen der Eltern kaschieren. Nun treten diese offen zutage. Das ist befreiend – aber auch enttäuschend. Wer stets den Vater als Helden verehrt hat und die Mutter als Madonna, der setzt nicht gern die rosa Brille ab, der sieht die beiden majestätisch durch die Lüfte ziehenden Schwäne nicht gern auf dem Boden landen – und watscheln. Das Kündigen der Verträge hat den Preis, daß die Eltern von Heiligen zu Menschen mutieren, daß das oftmals überzogen hehre Bild von den Eltern den einen oder anderen unansehnlichen Fleck kriegt – und das Bild von einem selbst damit ganz automatisch auch. Das tut, bei allem herrlichem Freiheitsgefühl, auch weh, macht das Leben aber wirklicher.




2009-07-08 ; von Karl-Heinz Farni (autor),

psychologie  

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