Wie bezeichnet man eigentlich Personen, die auf einem Treck mitfahren? Treckler? Oder Trecker? Und wenn Letzteres: Wie unterscheidet man sie sprachlich von der Landmaschine? Man sieht: Die Mitfahrt beim Anti-Atom-Treck von Gorleben nach Berlin war auch eine geistig anregende Erfahrung. Körperlich anstrengend war sie – zumindest für Nicht-Bauern und Bürohengste wie mich – sowieso. Neben dem eigentlichen Protest war der Treck aber vor allem eins: ein Fest für die Sinne! Und das nicht zu knapp!
Ich habe den Treck gesehen! Die großen und kleinen Traktoren, die alten und neuen, über und über geschmückt mit bunten Fahnen, selbstgemalten Plakaten, professionellen Transparenten. Die Improvisation beim Festtüddeln irgendwelcher Banner und die Ästhetik der Wiederholung wenn sich Schlepper an Schlepper reihte und in langem Zug bergab fuhr. Die ordentlich abgestellten Maschinen abends im Camp und die ordentlich aufgereihten „Chaoten“ vorm Klo oder – wo es sie gab – vor der Dusche. Ich habe hastig unter den Arm geklemmte Kinder gesehen – noch mit blankem Popo – weil es nach einer Kundgebung hektisch weitergehen musste. Ich habe das gleißende Scheinwerferlicht in stockdunkler Nacht gesehen und davor die Schattenrisse von Menschen, die emsig über den Platz huschten. Ich habe die freundlichen Gesichter an den Straßenrändern gesehen, wenn unser Treck durch ihren Ort fuhr – in Braunschweig gesteigert zu einem Triumphzug, der alle veranlasste zu hupen, zu winken, ja, sogar „Helau“ zu rufen und den Hut zu schwenken. Ich habe gestaunt über die Ordnungsliebe der Bauern, deren Schönstes es war, ihre Traktoren in Reih‘ und Glied aufzustellen, und über das Ausbleiben chaotischer Zustände – bei so vielen „Chaoten“. Unsere Lagerplätze waren nach der morgendlichen Abreise sauberer als am Tag zuvor!
Ich habe den Treck gehört! Das Brummen, Tuckern, Klopfen, Nageln und Husten der Dieselmotoren – lautstark morgens beim Warmlaufen, gutmütig auf der Fahrt, heulend wenn’s bergan ging und seufzend wenn die Fendt, Deutz und John Deere am Abend in die wohlverdiente Ruhe entlassen wurden. Ich habe das Hochziehen der Maschinen unserer Motorradfahrer gehört, wenn sie in aller Eile den ganzen vier Kilometer langen Zug überholt haben, um die nächste Kreuzung oder Einfahrt für uns zu sichern, und das monotone Geräusch der Stromgeneratoren in der Nacht. Ich habe die quäkenden Megaphone gehört, die übersteuerte Anlage von Knut, wenn er vor seinem weißen Transporter „Die Tür ist kaputt“ sang, und den kristallklaren Ton der Reden von Bürgermeistern, Land- und Stadträten und unseren Leuten – und der verschlüsselten Botschaften … – vom MMKW1. Ich habe die Martinshörner der Polizei gehört und – vor allem – die Druckluftfanfare des Führungstreckers, das Signal zum Aufbruch gab, zur Versammlung im Plenum oder das Ende einer Aktion bekannt gab. Und das den Ortsbewohnern schon von weitem zurief: „Gebt acht, jetzt kommen die Wenden!“ Unvergessen, wie diese Fanfare zum Ende des Signals „ausblendete“, weil ihm die Luft ausging. Schöner war nur noch das Echo von der Stimme der Sängerin, dass der Bergrücken der Asse zurückwarf, als sie nachts um elf ihre traurigen Lieder auf dem MMKW sang.
Ich habe den Treck gespürt! Die Macht, die von so vielen Traktoren ausgeht, das Zittern der Luft, wenn sie in langer Reihe durch enge Dörfer fuhren und das Vibrieren, als ich selbst – auf der Ackerschiene stehend – durch Bleckenstedt fuhr. Ich habe die Ohnmacht gespürt, die viele Teilnehmer beim Polizeieinsatz in Morsleben erfahren mussten, aber auch die Zustimmung und Hilfsbereitschaft vieler Beamter, die auch Angst haben vorm strahlenden Müll, der Anwohnerin, die mir Milch schenkte, als ich sie brauchte und des Mechanikers der, ohne Geld annehmen zu wollen, meinen Motor wiederbelebte. Ich habe die Unterstützung der Geschäftsleute erfahren, die mir Strom gaben, wann immer ich mein Notebook laden musste. Ich habe mit den Tränen gekämpft bei den Worten des Pastors am Schacht Konrad – und später beim Stoßen des Kopfes beim Sprung von einem Anhänger. Ich war hundemüde bei der Ankunft an der Asse – und voller Adrenalin, als ein paar Stunden später und ein paar Meter den Berg hoch die Rangelei mit der Polizei begann. Ich habe die Zuneigung gespürt, die ein weiblicher Papa seinem Kind entgegenbrachte – und das Brennen des Pfeffersprays, als mich in Morsleben eine Wolke davon erwischte. Ich habe den Druck in der Blase gespürt – und das Schamgefühl, mein eigenes und das vieler anderer auch, immer mehr schwinden. Gestiegen ist dagegen die gegenseitige Rücksichtnahme: Die der bis zu 72 Jahre alten Radfahrer gegenüber den Treckerpiloten – vor allem aber andersherum!
Ich habe den Treck gerochen! Acht Tage lang durchgehend den Geruch von schlecht verbranntem Diesel und abends den Qualm von Lagerfeuern. Ich hatte den Duft der Bratwurst der Bauern in der Nase und den süßlichen Geruch selbstgedrehter Zigaretten. Auch den von Toiletten, die von hundert Menschen in kurzer Zeit benutzt werden – naja, das gehört auch dazu. Ich habe den Schweiß der Kletterer gerochen, nachdem sie wieder mal ein Transparent oben auf dem Rathaus entrollt hatten, und den Gestank heißer Bremsen und Kupplungen und schwer arbeitender Hydrauliken. Ich hatte den Geruch feuchter Klamotten in der Nase und den von Kleister und Lack. Und ich habe die Überlastung des Bordnetzes in unserem VW-Bus bei gleichzeitiger Benutzung von Spannungswandler und Fernlicht gerade noch vor dem Kabelbrand erschnuppert.
Ich habe den Treck sogar geschmeckt! All die fantastischen Gerichte, die die Volxküche so schnell und klaglos bereitet hat, egal was gerade anlag und wie hektisch es gerade sein mochte: Selbst während der Querelen in Morsleben tauchte der orangefarbene Wagen auf, und es gab Kaffee, Tee und Mohnschnecken! Schier un-glaub-lich! Ich aß Nudelsalat und Nudelpfanne, Wildgulasch und Bohnentopf, Haselnusscreme und Quittengelee. Ich habe Veganes gegessen, aber, ich gestehe, auch vom Quarantänetisch genascht. Ich habe Pflaumen direkt vom Baum genossen, und Birnen und Äpfel, wenn der Treck gerade mal wieder auf irgendeiner Landstraße stand und keiner wusste, was vorne los war. Und ich habe die dicke Bio-Bratwurst der Bauern geschmeckt, wenn’s sein musste auch noch nachts um eins. Bauern können halt mit veganem Essen so recht nichts anfangen. Aber Quittengelee mögen sie auch.
Und mit dem sechsten Sinn habe ich aufgenommen, was mich zum schallendem Gelächter angeregt hat. Wenn etwa ein Bauer sich echauffiert über die „ewige Viertelstunde“, die eine junge Frau im Bad braucht für Klo, Dusche und fürs Zähneputzen. Oder wenn ein AKW-Gegner mitten in der aufgeheizten Stimmung am Tor des Schacht Konrad plötzlich Monty Python zitiert und mit heller Stimmer die Weisung ausgibt: „Jeder nur ein Kreuz!“
Schön auch, wie Martin einen finster dreinblickenden Angler mit einem im Vorbeigehen gerufenen „Petri Heil!“ verwirrt, ein paar Meter weiter geht, um in aller Heimlichkeit doch noch ein eigentlich verbotenes Bad im See zu nehmen.
Gelacht habe ich auch über den Satz eines Lüchow-Dannenbergers vorm Brandenburger Tor: „Ich hab‘ hier heute mehr Leute aus’m Landkreis getroffen als zuhause das ganze Jahr.“ Aber der Spitzenreiter ist ein Spruch, über den man zuerst mal etwas beklommen lacht: Nach unbefriedigend verlaufenen Verhandlungen über die Herausgabe eines von der Polizei – angeblich wegen Trunkenheit – vorm Tor der Asse einkassierten Kollegen, baut sich ein Landwirt vor dem Gruppenführer der Beamten auf und spricht die folgenden denkwürdigen Worte: „Pass ma‘ auf! Wenn das hier nicht so läuft, wie wir das wollen, dann machen wir hier ‚Gorleben‘! Dann sind wir gleich mit 50 Treckern hier und mit 200 Leuten.“ Das saß! Fünf Minuten später war der Mann frei!
Man sieht: Ich habe gelacht und gelitten. Ich habe gefroren und geschwitzt. Ich war nass und dreckig, müde und zerlumpt. Man ahnt: Ich will wieder los!
Text: Andreas Conradt