Am Samstag ist Marie Luise Scherer gestorben. Der Tod der vielfach preisgekrönten Journalistin und Schriftstellerin ist nicht nur für die Kulturszene Lüchow-Dannenbergs ein großer Verlust. Einige persönliche Erinnerungen von Björn Vogt.
„Ihre Texte sind von beispielloser Eleganz. Ihr Talent bleibt ohne Nachfolge“, schrieb die Frankfurter Allgemeine zum Tod von Marie-Luise Scherer. Sie war die Beste ihrer Zunft, aber sie war auch Mensch.
Ich habe beides geliebt – ihre Texte und ihre eigenwillige Art. Statt eines Nachrufs ein paar persönliche Erinnerungen an die coolste Reporterin der Welt.
Kennengelernt habe ich Marie-Luise Scherer bei Aldi in Dannenberg, es muss 1990 gewesen sein. Damals habe ich noch in Bremen studiert - ohne Abschluss, aber mit Leidenschaft.
In einem Journalismus-Seminar besprachen wir „Die Bestie von Paris“, eine ihrer legendären 50-seitigen Reportagen, die gerade im Spiegel erschienen war. Für das damals wichtigste deutsche Nachrichten-Magazin arbeitete sie von 1974 bis 1998, mit einem Vertrag, der ihr ermöglichte, nur alle paar Jahre eine Geschichte abzuliefern.
„Zwei gute Sätze an einem Tag sind ein Glück“
Sie brauchte - und nutzte - diese Zeit. Ihre Geschichten waren so gut, dass sie regelmäßig mit Preisen ausgezeichnet wurden. Es gibt ein berühmtes Zitat über ihre Textproduktion, die sie als „Silbenarbeit“ charakterisierte. „Zwei gute Sätze an einem Tag sind ein Glück“, sagte sie selber. Mein Professor fand die spektakuläre Geschichte über zwei Massenmörder, die wohlhabende Pariser Rentnerinnen umbrachten, schlicht sensationell. Es sei „das Beste“, was er je gelesen habe.
Entsprechend nervös war ich, als ich an der Kasse bei Aldi hinter ihr stand. Ich hatte schon viel von ihr gehört, sie aber noch nie persönlich getroffen. Sie erstand zwei Dosen Katzenfutter und eine Flasche Champagner – das war alles. Da wusste ich: Das muss sie sein. Ich fasste mir ein Herz und sprach sie an: „Entschuldigung, sind Sie Frau Scherer?“ Sie fragte sofort zurück: „Sind sie Handwerker?“ Antwort: „Leider nein, aber ich möchte Journalist werden.“
Die Enttäuschung war ihr anzusehen, aber ich versprach ihr, bei der Suche nach einem Handwerker zu helfen. Sie hatte sich nämlich gerade ein Häuschen in Damnatz gekauft und wollte es renovieren. Später erzählte sie mir, dass sie für einen guten Satz tatsächlich eine Flasche Champagner brauche. Es war ein Witz, und es war die Wahrheit.
Einige Jahre später bat ich sie, eine Reportage, mit der ich mich bei der Journalistenschule in Berlin bewerben wollte, gegenzulesen. Was sie tat. Ich hatte nur einen Tag Zeit für den Text, da ich zu spät von der Deadline erfuhr.
Die Meisterin der Worte
Es ging um die Wifo in Hitzacker, den gigantischen Benzinbunker der Nazis, damals noch weitgehend unbekannt. Gleich der erste Satz missfiel ihr. „Der Pfiff der ,Wildsau’ gellt durch die Kiefernschonung“ oder so ähnlich.
Wildsau war der Spitzname des Schienenbusses auf der Bahnstrecke von Dannenberg nach Lüneburg - was gar nicht stimmte, wie ich später erfuhr. „Wildsau“ hieß der Schienenbus im Südkreis.
Der Satz war ihr zu wenig subtil, zu sehr mit der Tür ins Haus gefallen. Ich ließ ihn trotzdem stehen – und wurde zum Eignungstest eingeladen, immerhin (durch den ich gnadenlos durchfiel).
Was blieb, war eine Art Freundschaft mit Marie-Luise. Und sie, die berühmteste Reporterin Deutschlands, las tatsächlich das Anzeigenblatt, für das ich damals arbeitete.
Das „Du“ bot sie mir, der ich damals alles und jeden ungefragt duzte, erst spät an. Aber es kam aus dem Herzen. Sie wusste, dass ich sie bedingungslos verehrte. Was eine gute Grundlage für eine Beziehung mit ihr war.
Denn so legendär ihr Witz und ihre Schlagfertigkeit waren, so gefürchtet waren ihre nicht minder legendären Wutanfälle.
Einmal rief sie mich an, weil sie ein Foto, was ich von ihr machen durfte, aus der Welt schaffen wollte (obwohl sie es freigegeben hatte). Auf Umwegen hatte dieses Foto, nicht abgesprochen mit mir, Eingang in eine Vorankündigungs-Broschüre vom Dannenberger Kulturring gefunden. Da rief sie mich an und sagte, „sie sei nicht auf 180, sondern auf tausend.“ Ich konnte mich gar nicht einkriegen ob der sprachlichen Schönheit ihres Wutanfalls, und nach 30 Sekunden hatte sie mir vergeben, weil ich so lachen musste. Während ich versprechen musste, das Bild physisch zu vernichten.
Wild - und doch kunstvoll gestaltet
Kurz vor dem Ludwig-Börne-Preis im Jahre 1994 erzählte Marie-Luise mir, dass eine Reporterin bei ihr in Damnatz zu Besuch war, um im Vorfeld der Preisverleihung über sie zu berichten. Und dass die Nachwuchs-Journalistin über die Scherer als ersten Satz schrieb: "Ihr Haar sieht aus, als hätte ein Kobold darin gezaust". Dass fand sie ebenso entsetzlich wie empörend. Ich fand es durchaus gut beobachtet, behielt das aber wohlweislich für mich.
Ihr Haar trug sie tatsächlich so, und es war pure, kunstvoll zurechtgemachte Absicht. Ihre Scheu vor Fotos war legendär. Sie hatte ein ganz bestimmtes Bild von sich selber – und wehe dem, der sie ungefragt fotografierte.
Im Deutschlandfunk lief Anfang der 2000er Jahre eine Literatursendung, die ich beim Autofahren hörte. Marie-Luise Scherer wurde von einer Kritikerin als die bedeutendste lebende deutsche Schriftstellerin bezeichnet. Ich habe ihr das später mal beim Bier erzählt. Auch dieses Urteil fand sie vermessen, entrüstete sich. Obwohl ich ihrem Blick ansah, dass sie es auch ein wenig zutreffend fand.
Auch im Mikrokosmos Wendland wachte sie über ihr Vermächtnis. Eine Buchhändlerin in Dannenberg berichtete mir, dass „La Scherer“, wenn ein neues Buch von ihr erschien, mehrmals pro Woche in den Buchladen kam, um die Platzierung ihres Werks zu prüfen. Mitarbeiterinnen hatten Anweisung, ihre Bücher, wenn Marie-Luise Scherer auf der Langen Straße gesichtet wurde, schnellstmöglich neben der Kasse aufzustellen.
"Eine der besten Beobachterinnen"
In den letzten Jahren wurde es ruhiger um sie. Ein Bekannter aus dem Dorf, in dem sie lebte, erzählte mir vor einiger Zeit, dass er eine geheime Absprache mit ihr, der langjährigen Kettenraucherin, die unter chronisch obstruktiver Lungenerkrankung litt, getroffen habe. Wenn sie ihn anrief, hinterließ er ihr einige Zigaretten auf dem Gartentisch, die sie sich spät abends klandestin abholte.
Ich erinnere mich noch genau, wie ich ihre Erzählung vom „Akkordeonspieler“ las, Jahre nachdem das Buch erstmals in der von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen „Anderen Bibliothek“ erschienen war. Und dass ich immer trauriger wurde, je weiter ich mich dem Ende näherte, weil die Geschichte so unglaublich gut erzählt ist. Ich habe ihr gesteckt, dass ich durchaus sauer auf sie bin, weil sie so langsam schreibt - weil das die Chancen der Leser auf Neues mindert. Da berichtete sie mir, ganz unironisch, dass sie gar nicht mehr schreiben mochte.
„Ihre Texte sind von beispielloser Eleganz“, schrieb die FAZ in ihrem eingangs erwähnten Nachruf auf Marie-Luise Scherer, die am 16. Dezember dieses Jahres mit 84 Jahren starb. "Von Beruf war sie eine Reporterin, aber sie ging nicht in den Nachrichten, sondern in der Sprache auf. Mit ihrer Flaubert’schen Hingabe an Satz und Wort und jede einzelne Silbe übertraf sie alle - und zwar wirklich alle - zeitgenössischen Autoren", schrieb die Süddeutsche Zeitung.
Ihre langjährige Weggefährtin Rebecca Harms schrieb auf Twitter: "Im Wendland haben wir eine unserer großen Frauen verloren. Sie war eine der besten Beobachterinnen, die ich kannte. Und nie zu müde, um zu fragen. Es ist ein trauriger Tag.“
Foto | Björn Vogt