Thema: 1004

Geschichte: Niemals aufgeben!

Es gibt Straßen, die sind viel mehr als Straßen, und Zahlen, die sind viel mehr als Zahlen. Sie rufen sofort Bilder hervor. Und Gefühle. Broadway ist so eine Straße, und 1001 so eine Zahl, aus der Märchen erblühen. Das gibt es auch im Wendland: unser Broadway heißt Mastenweg, unsere magische Zahl 1004. Helmut Koch auf den Spuren einer erfolgreichen Niederlage.

3. Mai 1980. Gegen Mittag stand ich am Mastenweg, meine Super-8-Kamera blickte dem führenden Trecker entgegen, der als Spitze des Demonstrationszugs aus Richtung Trebel kam. Ziel war die „Wendische Kultstätte 1004“ im Waldbrandgebiet, vor einiger Zeit von Atomkraftgegnern nordöstlich von Trebel errichtet. Ein kleines Rund mit Fahnenmast in der Mitte und einer Holztafel, die den Platz zur „Früh-wendländischen Kultur- und Arbeitsstätte“ erklärte, die auf das Jahr 1004 datiert werde.

Als ein Großteil der Demonstranten das vor allem aus Sand und Holzkohle bestehende Gelände erreicht hatte, rief eine „Frau Puvogel“ mit hoher Stimme die „Republik Freies Wend-land“ aus. Der Platz war, genau besehen, bedeutungsloses Gelände – aber Ort einer beabsichtigten Tiefbohrung zur Erkundung des Salzstockes Gorleben-Rambow, mit der Kennziffer 1004. Er wurde „besetzt“, und in Windeseile wurde mit dem Aufbau wichtiger Bestandteile einer Republik begonnen: Ein Schlagbaum wurde errichtet, eine Paßstelle, eine Küche und erste Unterkünfte. Die entstanden aus Holz – soweit es sich um Bretter handelte, waren es Materialspenden – meist aus dem Bruchholz des Waldbrandes, der fünf Jahre zuvor einen großen Teil des für den „Nuklearen Entsorgungspark“ vorgesehenen Geländes in Ruß und Asche gelegt und Ortschaften wie Trebel, Nemitz und Lanze bedroht hatte. Die Sonne schien, es wurde musiziert und vor allem: debattiert.

Spätestens bei der Anlieferung der Holzteile für den Bau des Freundschaftshauses, dem zentralen Versammlungsort, wurde auch dem Letzten klar: das ist keine rein spontane Aktion. Vom gedruckten Beschluß zur Grundabtretung (siehe Faksimile links), dem Wappen, den Wendenpässen und Stempeln, bis zur Organisation des warmen Essens – hier hatten viele Leute schon im Vorfeld sehr viel gearbeitet.

Ich konnte nicht lange bleiben und machte mich auf den Ritt zur Arbeit bei der EJZ. Extra-Urlaub war nicht möglich. Aber genug Zeit, um die Strecken Trebel-Lüchow-Schmarsau in allen Varianten genau kennenzulernen. Auf dem Mofa, mit dem Rad oder als Beifahrer anderer, die „zum Platz“ fuhren. Und überall die gleiche Diskussion: Gewalt? Gewaltfrei? Gewalt gegen Sachen? Was ist Gewalt? Was ist friedlicher Protest und was, wenn 1004 geräumt werden soll?

24. April 2010. Heute ist Menschenketten-Tag. Mit meinem Rücken geht das nicht. Draußen scheint die Sonne wie im Mai vor 30 Jahren. Also weg vom PC und auf Spurensuche nach Trebel, Richtung Gorleben. Der Kreis wirkt wie ausgestorben. Wo sind die Trecker? Alle in Krümmel? Vorbei an den „Bauernstuben“, dem Ort so vieler heftiger und frustrierender „Trebeler Treffen“, dem Ort der Pressekonferenzen nach den Castor-Festspielen und so manchen Festes. 1979 bot der Wirt Rudi Paschke einen Stützpunkt für die „Gruppe Platz“, die auf dem Waldbrand-Gelände, dem beabsichtigten „Nuklearen Entsorgungszentrum“ (NEZ), mit Hilfe von Künstlern einen Spielplatz aus Holz errichtet hatte und Baumpflanzungen organisierte: „Wiederaufforsten statt Wiederaufarbeiten“. Hunderte Umweltbewegte aus den Städten kamen, buddelten und pflanzten. 1 200 Meter hinterm Trebeler Ortsschild auf der linken Seite der B 493 Richtung Gartow ist die Zufahrt zu einem Weg und einem kleinen Platz. Vor 30 Jahren war hier ein Parkplatz. Gegenüber, Richtung Gartow, begann der Spielplatz. Heute: locker bewachsenes Gelände, ein sandiger Reitweg. Daneben ist noch das Fundament eines windradbe-triebenen Brunnens zu erkennen. Rostige Faßreste mit der Aufschrift „Wasser“. Davor der Erinne-rungsstein mit den Namen der am Beschluß für Gorleben beteiligten Politiker. Einmal aus Zement in Trebel aufgestellt, hat er, nun unleserlich und zerbrochen, eine letzte Ruhestätte gefunden – wie auch die meisten der genannten Politiker.

Besser überlebt hat daneben ein Denkstein der Grünen. 1983 hatte der Kreisverband den Findling beschriften und antransportieren lassen. Auf Kosten der Wahlkampfkasse – man hielt das für sinniger als Wahlprospekte. Die Inschrift läßt sich noch gut entziffern: „Nur eine Gesellschaft, die im Einklang mit der Natur ist, kann eine menschliche sein. Die Grünen 1983“. Und heute, 27 Jahre später, kann man es wohl verraten: es ist ein Zitat von Friedrich Engels. Das wäre 1983 nicht stubenrein gewesen.

Von hier ist es keinen Kilometer mehr bis zur Senke der Tiefbohrstelle 1004, bekannt geworden als „Republik Freies Wendland“. Von hier konnte man die Masten und Türme über dem Bruchholz sehen. Jetzt steht auch das große Windrad nicht mehr. Es war ein von Ingenieurstudenten und Mitarbeitern der TU Berlin entwickelter, auf einer alten Lastwagenfelge aufgebauter Langsamläufer.

Gegenüber, auf der anderen Seite der B 493, dröhnen nicht mehr die Monstermaschinen, mit denen 1978/79 die verkohlten Fichten zerkleinert wurden, statt dessen parken dort Touristen, die in die Nemitzer Heide wollen, die mittlerweile hier entstanden ist.

24. April 2010. Mastenweg, 1004. Wenn man in Trebel Richtung Marleben fährt, geht am Ortsrand in einer Kurve der Mastenweg ab. Heute führt er zu den Gorlebener Anlagen. Vor 30 Jahren führte er einfach nur nach Gorleben. Heute ist er asphaltiert, jedenfalls am Anfang. Nach anderthalb Kilometern biegt der Asphalt nach rechts ab, zu einer kleinen Fläche im Wald, auf der zwei Löschbrunnen und ein vergammelnder fahrbarer Jagdstand darauf warten, überwuchert zu werden. Es ist die Tiefbohrstelle 1004. Sie ist nicht direkt auf dem ehemaligen Dorfplatz der Republik, das Dorf war auch viel größer. Ein paar Meter weiter weicht der Wald einer Lichtung, einer Heidefläche. In diesen Senken hatte sich vor drei Jahrzehnten der Skandal der Räumung abgespielt.

Juni 1980. Dienstag. Republik Freies Wendland. Seit dem Wochenende wissen wir: die Räumung steht bevor. Sie wird mit Waldbrandge-fahr begründet. Alle in dieser Sand- und Dreck-kuhle 1004 fühlen sich verhöhnt. Ob Klaus Poggendorf, der damalige Oberkreisdirektor, je die Ironie dieser Begründung genossen hat? In Polizeikreisen wird das Märchen der „Molotow-Cocktails“ kolportiert. Den jungen Beamten wird Angst gemacht, Angst vor dieser tausend-köpfigen Schar von „Terroristen“. Ich darf bei den Bauern im „Rehwinkel-Haus“ schlafen, oder besser: auf die Räumung im Morgengrauen warten. Die kommt aber nicht.

Juni 1980. Mittwoch. Republik Freies Wendland. Die Sonne geht auf und scheint auf Tausende von Polizisten und Bundesgrenzschützer, die zusammengezogen werden. Hunderte Atomkraftgegner strömen am frühen Morgen zum Platz. Nur ich fahre in die entgegengesetzte Richtung – zur Arbeit. Als ich verspätet gegen 9 Uhr erscheine, sehen mich die Kollegen an wie ein Gespenst. „Was willst du denn hier? Mit dir hat heute keiner gerechnet.“ Eine Ansicht, die auch mein Abteilungsleiter teilt, und während die Kollegen den „Sender Freies Wendland“ hören, der heute direkt von der Räumung berichtet, rufe ich mir eine Taxe, um nach Trebel zurückzufahren. Zu spät. Als ich wieder am Mastenweg bin, hat die Polizei bereits die Republik eingekreist und läßt niemanden mehr hinein. So muß ich zusehen, wie Polizei-Bulldozer die Häuser zusammenschieben, höre den Gesang vom Dorfplatz. Über allem dröhnen die Rotoren von Hubschraubern. Neben mir weint eine Bäuerin, und ich versuche, mit dem größten Zoom meiner Super-8 einige Bilder einzufangen. Es fehlt nur der „Ritt der Walküren“, und fertig wäre die Miniaturausgabe von „Apocalypse Now“: die Hubschrauberstaffeln des BGS dröhnen als Tiefflieger in Keilformation über den Waldrand auf uns zu. Sie kreisen über den eingekesselten Demonstranten und verwandeln den Ort in eine undurchdringliche Staubwolke. Einer der Kommandeure scheint zu kapieren, daß das auch die Turbinen der Maschinen gefährdet. Die großen Hubschrauber landen und spucken ihre Truppen in den wendländischen Sand. Die Räumung hat begonnen. Unsere Freunde werden einzeln herausgezerrt, getragen und geschlagen. Die untergehakten Reihen werden brutal aufgebrochen, es wird an Haaren gezerrt, Gliedmaßen werden verdreht. Stockschläge. Besonders beliebte Zielobjekte sind Fotografen.

Am Nachmittag stehen nur noch die Türme. Von einem sendet noch immer das „Radio Freies Wendland“. Gegen Abend geben die Türmer auf, um sich und die Polizisten, die sich an den Türmen versuchen, nicht in weitere Gefahr zu bringen. 6 000 Polizisten – der bis dahin größte Polizeieinsatz der BRD – haben 2 000 gewaltfreie Atomkraftgegner besiegt. Alle sind fertig. Deprimiert. Ohnmächtig. Wütend. Viele fragen sich, ob das gewaltfreie Demonstrieren ein Fehler war. „Die hätten das nicht geschafft, wenn wir uns gewehrt hätten...“. Naja.

„Es gibt Siege, schlimmer als Niederlagen, und Niederlagen, die können Siege sein“, wußten schon die deutschen Revolutionäre 1919. Es war, glaube ich, die erfolgreichste Niederlage der deutschen Umweltbewegung.

Mai 1980. Wendland. War schon die Debatte unter den vielen Gruppen im Wendland nicht einfach, so war dies nichts im Vergleich zu den Debatten mit „zugereisten“ Städtern, die alle Facetten der Bewegung repräsentierten: von Blumenkindern bis zum RAF-Sympathiesanten. Letztlich setzte sich die Haltung durch, gewaltfrei zu bleiben. Auch wenn das mit der Gewalt gegen Sachen nie so detailliert ausdiskutiert wurde. Viele der jungen Bauern, die das Rückgrat der Platzbesetzer bildeten, nahmen an derartigen Debatten relativ selten, und wenn, dann nur kurz und mit einem leichten Grinsen, teil. Für sie war so ein kleiner Schubser oder mit dem Trecker durch eine Sperre zu fahren ohnehin keine Gewalt. Aber sie hatten nicht die geringste Lust, sich ihren Widerstand von „linken Chaoten“ aus der Hand nehmen zu lassen. Was denen kaum klar war: nötigenfalls hätte man für ein paar Leute eine frühzeitige „Ausreise“ aus der wendländischen Republik organisiert.

Es wurden lange Wochen zwischen Trebel und Gorleben. Das Wetter: sonnig und trocken, der Platz: staubig und warm. Und an den Wochenenden flossen Besucherströme nach Trebel und in die „Republik Freies Wendland“. Das Presse-Echo war gewaltig. Nach den „Schlachten“ von Brokdorf und Grohnde, mitten in der Friedensbewegung, nun diese Platzbesetzung. Wie lange? Wer war verantwortlich? Wie sollte das enden? Sollte das die „Schlacht um Gorleben“ werden. Das hätten viele gern gehabt, um die Anti-Atom-Bewegung endgültig zu kriminalisieren und zu diskreditieren. Hatten Poli-zeidienste doch bereits in Göttingen und Hannover versucht, Atomkraftgegnern RAF-Waffen unterzuschieben.

Politik und Polizei taten sich schwer damit, sich auf die „Republik Freies Wendland“ einzustellen. Da der Eigentümer des Geländes keine Räumung verlangte, suchte die Verwaltung verzweifelt nach Gründen, um einschreiten zu können. Aber schon bei der Frage, an wen denn eine Ver-waltungsverfügung zu richten sei, wer deren Em-pfänger wäre, scheiterte die Bürokratie. Die Post war da flexibler: unglaublich, was da alles ankam! Natürlich hatte die Republik auch bald eine eigene Poststelle. Auch das illegale „Radio Freies Wendland“ nahm seinen unregelmäßigen, von Meßwagen verfolgten Sendebetrieb auf.

Kultur, Konzerte, Theater gehörten ebenso zur Republik wie die Diskussion um die Zukunft der Welt, der Menschheit und der eigenen Person. Meist in dieser Reihenfolge. Konnte nach 1004 das Leben so weitergehen wie bisher? Wie praktiziert man Umweltschutz konkret?

Das Wasser für 1004 wurde mit dem Windrad gefördert und über improvisierte Leitungen durch die Brandheide geleitet. Studenten und Ingenieure machten Pläne für Solar- und Wind-kraftanlagen, derweil andere Löcher gruben, Stämme schleppten und die Türme aufrichteten. Alle waren im Ausnahmezustand und in der dritten Woche am Ende ihrer Kräfte. Marianne, Rebecca, die „Emis“ (Emigrantengruppe aus Hamburg), die BI, Pressearbeiter, Interview- und Gesprächspartner liefen auf Reserve. Alle fürchteten eine Regenzeit, die die Republik in ein Schlammbad verwandelt hätte – und stöhnten über die Trockenheit. Und alle fürchteten (oder erhofften) den Ausbruch von Gewalttätigkeiten.

Mit großem Trara kam der Juso-Vorsitzende Gerhard Schröder zu Besuch, damals noch als Anwalt Vertreter vieler Bauern in Gorlebenprozessen. Jahrzehnte später erteilten ihm dieselben Bauern ein Betretungsverbot fürs Wendland, und der Ministerpräsident Schröder reagierte stocksauer.

24. April 2010. Mastenweg, 1004. Es ist ruhig und sonnig. Nichts mehr von der Republik Freies Wendland zu sehen. Was ist mit dem „Traum von einer Sache“? Ausgeträumt?

Heute ist Krieg in Afghanistan. Gegen den Terrorismus. Heute stehen überall Windräder und Solarkollektoren. Und im Radio spricht der Moderator von 120 000 Menschen, die gegen Atomkraft demonstrieren. Ist es vermessen, darüber nachzudenken, daß es diese Menschenkette ohne 1004 nicht geben würde? War das nicht ein Wendepunkt in der Auseinandersetzung zwischen Außerparlamentarischer Opposition und Staatsmacht?

Wer’s etwas kleiner mag: Eine direkte Folge der Republiktage war die Selbstververpflichtung des Widerstands, gewaltfrei und phantasievoll zu agieren. Der Treck nach Hannover 1979 und 1004 ein Jahr später waren nicht zu überbieten. Daraus folgte, daß man andere Aktionen und Formen finden mußte, um die Aufmerksamkeit für diesen Konflikt aufrechtzuerhalten. Eine Weile wurden die Grünen der parlamentarische Arm der Bewegung. Dann wurden die Grünen parlamentarisch und die Bewegung im-mer bewegungsloser. Nur eine kleine Region im äußersten Osten der BRD... Zehn Jahre nach 1004 gründeten sich die „1004 wunde.r.punkte im wendland“, in deren Rahmen sich fünf Jahre lang die Künstler und Widerständler ihren Freunden und Besuchern präsentierten – mit dem, was sie machten, wenn sie nicht demonstrieren. Dann wuchs die Veranstaltung und wandelte sich zur „Kulturellen Landpartie“. Und auch dort gibt es bis heute Leute, die den „Traum von einer Sache“ noch nicht ausgeträumt haben. Die immer noch nach einem selbstbestimmten Leben abseits der wirtschaftlichen Zwänge suchen. Leute, denen Leben wichtiger ist als Haben. Menschen, die sich um mehr sorgen als um das momentane Auskommen mit dem Einkommen. Das hat etwas mit den Tagen im Mai 1980 zu tun.

Etwas anderes, nicht ganz Unwichtiges ist ganz nebenbei geschehen: die erfolgreiche Niederlage von 1004 hat dem Landkreis Lüchow-Dannenberg eine neue politische (nicht geogra-fische) Identität gegeben: das Wendland – ein Begriff, der Bilder entstehen läßt und ein Gefühl. Und auch, wenn sich die Landesregierungen bemühen, den Kreis Lüchow-Dannenberg irgendwie loszuwerden, aufzuteilen, anzuschließen – diese Identität ist nicht mehr zu knacken. Und sie steht nicht nur für Landschaftsidylle, sondern für die Verpflichtung, sich weiter gegen Atomwahn und vergleichbare Entwicklungen zu stemmen, getreu dem Motto der Bäuerlichen Notgemeinschaft: „Niemals aufgeben!“

 

Ein Fotorückblick auf die Republik Freies Wendland ist zu finden unter:
http://www.umbruch-bildarchiv.de/bildarchiv/ereignis/republik_freies_wendland.html





2010-05-31 ; von Helmut Koch/zero (autor),

1004   freie republik wendland   geschichte  

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