Noch hat der Bundestagsausschuss zur Untersuchung der Umstände, wie es zum Endlager-Standort Gorleben kam, seine Arbeit nicht beendet. Sylvia Kotting-Uhl, Obfrau der Grünen im PUA, zog schon einmal eine Zwischenbilanz. Hier ihr Artikel:
Es mag viele Gründe geben, in Gorleben ein Atommülllager zu errichten. Die einen möchten endlich einen Ort haben, an dem das strahlende Erbe der Atomwirtschaft für einige Zeit aus dem Blickfeld gerät. Andere wollen vor allem, dass die Debatte über fehlende Endlager aus den Schlagzeilen kommt. Wieder andere brauchen das Lager im Wendland, damit niemand mehr auf die Idee kommt, nach Endlagerstandorten in Bayern oder Baden-Württemberg zu suchen. Und ganz aktuell mögen die AKW-Laufzeitverlängerer Gorleben unbedingt haben. Hierzu später.
Einen Grund, der für die Auswahl Gorlebens als deutsche Atommüllzentrale eine entscheidende Rolle hätte spielen können, kann man heute endgültig aus der Ideensammlung streichen. Den, dass Gorleben der beste Atommüllstandort in Deutschland ist. Wissenschaftler waren bei dieser Wahl allenfalls Statisten, deren Bedenken beiseite gewischt wurden. Die Akten aus dem Bundestags-Untersuchungsausschuss zu Gorleben und die bisherigen "Vernehmungen" von Zeitzeugen lassen für jede unvoreingenommene Beobachterin inzwischen keinen vernünftigen Zweifel: Gorleben wurde nicht deshalb zum designierten Atommüllendlager, weil der dortige Salzstock zur Aufnahme von Strahlenmüll besonders geeignet ist, sondern weil dieser Standort in der politischen Gemengelage Ende der siebziger/Anfang der achtziger Jahre am ehesten durchsetzbar schien. Und weil man auf die Schnelle nichts wirklich Gutes gefunden hat. Und weil man nehmen musste, was man kriegen konnte.
Eine wunderliche Geburt
Wenn man bedenkt, dass es sich bei dem gesuchten Atommüll-Endlager um die mit Abstand gefährlichste Ansammlung tödlicher Stoffe in Deutschland handeln wird, ist es schwer nachvollziehbar, mit welcher Leichtfertigkeit vor dreißig Jahren jeder seriöse Umgang mit diesem Problem beiseite gewischt wurde. Der vom Bundestag eingesetzte Untersuchungsausschuss und in den letzten Monaten an die Öffentlichkeit gelangte Dokumente offenbaren nun, dass die Gorleben-Findung mit einer wissenschaftlich abgesicherten Endlagersuche nichts, mit dem Bedienen wirtschaftlicher und politischer kurzfristiger Interessen viel zu tun hatte.
Die Lage Ende der siebziger Jahre: Müll verstopft die AKWs
Waren die Atomkonzerne und ihre politischen Repräsentanten Anfang der siebziger Jahre noch in voller Gründereuphorie, so standen sie am Ende dieses Jahrzehnts vor einer Mauer von Schwierigkeiten. Die öffentliche Meinung war in rasantem Tempo umgeschwungen. AKWs wurden zum Symbol einer verfehlten Energiepolitik. Und das schmutzige Ende dieser Technologie drohte nicht nur, den Mythos der sauberen Energie zu blamieren, der strahlende Atommüll wurde zum ganz realen Problem, weil der Lagerort fehlte, der ihn zumindest aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit verschwinden ließ.
Hinzu kam, das die Asse als Atomklo verlustig ging. Seit 1967 hatte man in dem "Versuchsendlager" schwach- und mittelaktiven Atommüll abgeladen, illegalerweise landeten auch mal ein paar Kilo Plutonium dort. 1978 war die Einlagerung in dem Skandallager beendet. Bis dahin war das marode Bergwerk ein eleganter Weg, Abfälle loszuwerden und in Dutzenden von AKW-Genehmigungen ein fingiertes Entsorgungsziel einzuschmuggeln.
Ende der siebziger Jahre standen die Atomfreunde nun vor einem echten Entsorgungsnotstand. Die Masse des Atommülls wuchs und wuchs. Gleichzeitig wurde um die im Bau befindlichen AKW überall vor Gericht gestritten - mit ungewissem Ausgang. Das Parlament hatte bei der Novellierung im Jahr 1976 ins Atomgesetz eine Pflicht zur Verwertung und Beseitigung der Abfälle hineingeschrieben. Errichtung und Betrieb eines Endlagers ist seitdem als Aufgabe des Bundes definiert. Auch dass atomare Endlager ein Planfeststellungsverfahren durchlaufen müssen, wurde 1976 im Atomgesetz festgelegt.
Unter dem Druck der öffentlichen Meinung vertrat die Bundesregierung seit 1976 die Position, dass AKWs nur noch bei "hinreichender Entsorgungsvorsorge" genehmigt werden dürfen. In den "Grundsätzen zur Entsorgungsvorsorge für Kernkraftwerke" vom 6. Mai 1977 wird festgehalten, dass der Neubau von AKWs daran gekoppelt ist, dass es Fortschritte bei der Erkundung und Erschließung eines Endlagers gibt. Damit die "Entsorgungsvorsorgepflicht" des Bundes als erfüllt angesehen werden konnte, brauchte man zumindest Indizien dafür, dass ein Endlager für hochradioaktive Abfälle in absehbarer Zeit zur Verfügung stehen würde. Erst vor dem Hintergrund dieses Notstands wird der wenig seriöse, kopflose und kaum strukturierte Entscheidungsprozess für Gorleben verständlich.
Ganz erfolglos war die Atomlobby mit dieser Vorgehensweise nicht. Auf meine Frage, wie oft Gorleben in AKW-Genehmigungen als Entsorgungsnachweis angegeben wurde, hat mir die Bundesregierung gerade bestätigt, dass Gorleben allein zwischen 1977 und 2008 in insgesamt 90 Genehmigungsbescheiden benannt wurde. In einer Genehmigung wurde gar behauptet, "dass die Eignung des Salzstocks Gorleben als Endlager für alle Arten radioaktiven Abfalls bestätigt" sei. Und einmal heißt es sogar, man rechne mit der "Inbetriebnahme des Bundesendlagers Anfang des nächsten Jahrtausends". All dieser Unsinn wäre ohne die Trickserei mit Gorleben nicht möglich gewesen.
Endlagersuche unter dem Primat der Wahlaussichten
Durch die neu veröffentlichten Dokumente und die Anhörungen von Zeitzeugen im Untersuchungsausschuss läst sich der Entscheidungsprozess, der zur Festlegung auf Gorleben führte, inzwischen ziemlich klar nachvollziehen.
Bereits in der ersten Hälfte der siebziger Jahre hatte sich die damalige SPD-geführte niedersächsische Landesregierung gegenüber dem Bund bereit erklärt, einen Standort für ein atomares Entsorgungszentrum und ein Endlager in Niedersachsen bereit zu stellen. Obwohl in ihren Ländern der meiste Strahlenmüll produziert wurde, verweigerten Baden-Württemberg und Bayern von Anfang an jede Kooperation bei der Suche nach einem Endlager.
Im Auftrag der Bundesregierung untersuchte die Firma KEWA (Kernbrennstoff-Wiederaufarbeitungs-Gesellschaft) ab 1973 insgesamt 26 potentielle Atomlager. Tatsächlich fand man drei Standorte in Niedersachsen, die als grundsätzlich geeignet bewertet wurden. Genannt wurden Wahn, Lichtenhorst und Lutterloh, wobei das emsländische Wahn die Favoritenrolle bekam. Gorleben war nicht einmal erwähnt.
Als an den drei favorisierten Standorten bekannt wurde, was man dort vorhatte, gab es ziemlich einhellige Ablehnung aus der Bevölkerung. Örtliche Mandatsträger - meistens der CDU angehörig - signalisieren ihrer Parteiführung die Ablehnung des Projekts. Der Osnabrücker Bundestagsabgeordnete Rudolf Seiters, der es später bis zum Chef des Bundeskanzleramts und Bundesinnenminister brachte, warnte eindringlich davor, das Emsland als möglichen Standort der "zentralen Atommülldeponie" ins Auge zu fassen.
Dass Widerstand hier ein regelrechtes Wunder bewirkte, und die als Favoriten gehandelten Standorte so schnell und sang- und klanglos fallengelassen wurden verdankten die Anwohner vor allem der bald bevorstehenden Landtagswahl im Juni 1978. Der neue CDU-Ministerpräsident Ernst Albrecht führte seit 1976 eine Minderheitsregierung. Das Emsland mit seinem beträchtlichen CDU-Wählerpotential in ein Widerstandsnest zu verwandeln kam in dieser Situation nicht in Frage.
Ernst Albrechts Zufallsjoker
Auch die beiden anderen favorisierten Standorte wollte Albrecht nicht in die engere Auswahl nehmen. Stattdessen brachte er im November 1976 für die Fachwelt völlig überraschend den Salzstock Gorleben ins Spiel. Als besonders geeigneter Lagerort für Atommüll war Gorleben bis dahin von niemandem betrachtet worden. Anfang 2010 veröffentlichte Greenpeace die Kabinettsvorlage des niedersächsischen Wirtschaftsministerium für die interne Debatte im Landeskabinett am 14. Dezember 1976. Darin wird festgehalten, dass alle strukturellen Indikatoren im Gorleben-Standort Lüchow-Dannenberg "mit stark negativer Tendenz vom Landesdurchschnitt" abweichen. Allerdings: Proteste und damit die Gefahr gefährlicher Stimmenverluste für die CDU wurden dort nicht vermutet.
Was die Niedersachsen-CDU als großen Vorteil von Gorleben ansah - die Lage im "Zonenrandgebiet" in unmittelbarer Nähe zur DDR - betrachtete die Bundesregierung unter Helmut Schmidt als Nachteil dieses Standorts. Heute wissen wir, dass die Schmidt-Genscher-Regierung hinter den Kulissen zunächst versuchte, den Ministerpräsidenten Albrecht von Gorleben abzubringen.
Fehlender Entsorgungsvorsorgeausweis hält Bundesregierung unter Druck
Dass sich die Bundesregierung trotzdem schließlich für Gorleben stark machte, hat nichts mit Begeisterung für den niedersächsischen Vorschlag zu tun. Offensichtlich hielt die Regierung Schmidt aber ein Atom-Endlager mit Ach und Krach und mit Mängeln für besser als gar kein Endlager. Es musste alles dafür getan werden, wenigstens den Anschein zu erwecken, dass für Errichtung und Betrieb eines Atommüllendlagers nur noch ein überschaubarer Zeitraum benötigt werde.
Etliche Zeugen haben inzwischen im Gorleben-Untersuchungsausschuss klar gemacht, dass der fehlende Entsorgungsnachweis die Bundesregierung unter gewaltigen Druck setzte. Und da nach der wahltaktischen Festlegung Albrechts und der Weigerung der Südländer, überhaupt Alternativen zu benennen nur Gorleben übrig blieb, stürzte man sich nun eben auf dieses Abenteuer.
Am 22.2.1977 konnte Albrecht bekannt geben, dass Gorleben als Standort für die Entsorgungsanlage vorgesehen sei.
Am Rande des Untersuchungsausschusses werden nun auch einige Details über das Innenleben der SPD in der Gorleben - Frage bekannt. Die SPD-Landtagsfraktion in Niedersachsen war von dem Endlagerprojekt im Lande nämlich überhaupt nicht begeistert. Sie war der Auffassung, dass ein Moratorium zum Bau weiterer AKWs notwendig sei, bis alle mit der Errichtung eines Entsorgungszentrums nötigen Fragen geklärt seien. Bundeskanzler Schmidt sandte daher einen Brief an den Fraktionschef und den Landesvorsitzenden Peter von Oertzen und forderte seine Landespartei auf, Ministerpräsident Albrecht nicht zu kritisieren, wenn er sich zu einer konstruktiven Haltung zum Entsorgungszentrum in seinem Bundesland entschlösse. Die Landes-SPD hielt fortan still.
Der Atomstaat frisst demokratische Gepflogenheiten
Der wachsende Entsorgungsdruck lässt die Bundesregierung auch noch weitere rechtstaatliche Prinzipien über Bord werfen. Eine entscheidende Frage war dabei, ob das Genehmigungsverfahren für Gorleben nach dem Atomrecht oder nach dem Bergrecht durchgeführt werden musste. Obwohl eigentlich allen Beteiligten klar sein musste, dass ein diffiziles Gebilde wie ein Lager für jahrtausendelang tödlich strahlenden Atommüll nach den hohen Anforderungen des Atomrechts beurteilt werden musste, war die Verlockung groß, lieber auf das minderstrenge und industriefreundliche Bergrecht zurückzugreifen.
Wäre das Planfeststellungsverfahren nämlich nach Atomrecht durchgeführt worden, hätte zwingend die Öffentlichkeit beteiligt werden müssen. Es lag auf der Hand, dass die kritische Bevölkerung nicht nur die Legitimität des Standorts Gorleben heftig hinterfragen würde. Vor allem würde ein atomrechtliches Verfahren viel länger dauern als ein einfaches bergrechtliches Planfeststellungsverfahren, bei dem nach damaliger Rechtslage keine Öffentlichkeitsbeteiligung nötig war. Und das schlimmste: Im Rahmen eines atomrechtlichen Planfeststellungsverfahrens wäre die Frage nach alternativen Standorten zu prüfen gewesen. All diese Unwägbarkeiten hätten für die niedersächsische Landesregierung angesichts der bevorstehenden Landtagswahl ein unüberschaubares Risiko dargestellt.
Wieder setzte sich die niedersächsische Landesregierung gegen die Bundesregierung durch. In der Schmidt-Genscher-Regierung gab es eine breite Auffassung, dass das Atomrecht unabdingbar war. Niedersachsen sandte unverhohlene Drohungen an die Adresse der Bundesregierung, das Angebot eines Endlagers in Gorleben zurückzuziehen, falls der Bund auf einem atomrechtlichen Verfahren bestehen würde. Falls sich die Bundesregierung für ein atomrechtliches Verfahren entscheide, werde sich das Endlagerprojekt um einen nicht kalkulierbaren Zeitraum verzögern, schrieb die niedersächsische Wirtschaftsministerin Birgit Breuel am 23. Juni 1981 an Bundesinnenminister Gerhard Baum, dann werde das "ggf. auch die Beschlusslage zwischen Bund und Ländern berühren".
Auf die unverhüllte Drohung aus Niedersachsen hin stellte der Bundesinnenminister seine rechtlichen Bedenken hintan : "Ich bin bereit, mich Ihrer Auffassung anzuschließen", ließ Gerhard Baum mitteilen.
+++ Fotsetzung folgt +++
Im zweiten Teil: Die Regierungen Schmidt und Kohl streichen ihre Bedenken wegen der Entsorgungsnot ...
Foto: Andreas Conradt / publixviewing.de / Sylvia Kotting-Uhl beim Besuch des PUA in Gorleben und Dannenberg.