Der Grimme-Preis ist der wichtigste Preis, den (Fernseh)Regisseure für ihre Filme einheimsen können. Dieses Jahr hat ihn Rosa Hannah Ziegler aus Dickfeitzen für ihre Dokumentation "Du warst mein Leben" bekommen.
Der Deutsche Kurzfilmpreis für "A Girl's Day", eine Berlinale-Premiere mit "Familienleben" - und jetzt der Grimme-Preis. Mit 35 Jahren hat die Filmemacherin Rosa Hannah Ziegler aus Dickfeitzen schon viel erreicht, was eine Filmemacherin erreichen kann.
Der Grimme-Preis ist für die Filmemacherin aus Dickfeitzen natürlich ein Grund für Stolz und Freude. Viel wichtiger ist Rosa Hannah Ziegler allerdings, dass damit auch eine Erzählweise anerkannt wird, die nichts mit den gängigen Fernsehformaten zu tun hat. "Das ist eine Ermutigung für andere Filmemacher, ihre eigene Erzählweise und Methode weiter zu verfolgen," so Ziegler. An den nicht gerade quotenträchtigen Sendezeiten für anspruchsvolle Dokumentationen ändert sich damit allerdings nichts.
"Du warst mein Leben" ist eine Herausforderung. An die Protagonisten, an das Filmteam aber auch an das Publikum. Nüchtern und schonungslos wird die komplizierte Beziehung zwischen der inzwischen 24-jährigen Yasmin und ihrer ehemals drogenabhängigen Mutter Eleonore erzählt.
Vierhundert Kilometer ist Yasmin angereist, um nach Jahren des Kontaktabbruchs ihre Mutter Eleonore wiederzutreffen. Mit acht Jahren hat das Jugendamt Yasmin aus der Familie geholt. Aufgewachsen ist sie danach in Heimen. Familie, das waren „wir drei Musketiere“ im Kampf gegen das Leben, sagt Yasmin. Eine heroinabhängige Mutter, selbst durch jahrelangen Missbrauch des Vaters schwer traumatisiert, die die Kinder manchmal tagelang alleine ließ, weder für Essen noch Trinken sorgte und Spielzeug vom Sperrmüll organisierte.
Die sich an Yasmin und ihren älteren Bruder Matthias klammerte wie an Emotionskrücken, aber nicht in der Lage war, für sie zu sorgen. Eine Mutter, die regelmäßig ausrastete, wenn sie auf Entzug war. Vernachlässigung, Gewalt und Isolation bestimmten den Alltag der Kinder, bevor das Amt sie wegholte. Anders als ihr Bruder ging Yasmin radikal auf Abstand, schrieb viel über ihre Gefühle. Rosa Hannah Ziegler hat den Versuch der jungen Frau, sich aus einem beschädigten Leben herauszuwinden, schon einmal in einem Film porträtiert. Roh und ungefiltert ging es da um Yasmins Selbstgefühl, ihre Verlorenheit und ihren Versuch, sich schreibend zu bestimmen, allein.
Begründung der Grimme-Jury für die Preisvergabe
Der Film „Du warst mein Leben“ aus der Reihe „Ab 18!“ ist die Versuchsanordnung einer Annäherung auf scheinbar neutralem Boden. Auf der Insel Borkum treffen sich Mutter und Tochter in einem grauen Ferienappartmentblock mit Blick aufs Meer. Die architektonisch brutalistische Architektur mit ihren Klötzen und streng vertikalen und horizontalen Linien stellt eine Art Bühnenkomplex ohne jeden Kulissenzauber dar. Sie reden. Sie versuchen zu reden.
Über die Vergangenheit, über den Versuch, eine Dialogbrücke zu bauen. Meistens stellt Yasmin die Fragen. Der Versuch eines Gesprächs scheitert immer wieder schmerzhaft. Nicht nur Tochter, Mutter und die Kamera suchen eine Balance von Nähe und Distanz, auch der Betrachter spürt Unbehagen. Eine Gratwanderung. Ein Therapiegespräch ohne Therapeut,
kann das gut gehen? Darf man das so ungeschützt gestalten, als Filmemacher(in)?
„Ab 18! Du warst mein Leben“ ist ein bedrückendes Kammerspiel ohne Komfortzone. Ein Film,
der beim Sehen wehtut.
Trotz des künstlichen Settings, das an eine Laborsituation erinnert und
das Gezeigte scheinbar abstrahiert. Hergestellt wird von der Filmemacherin aber keine
Verfremdung im Brechtschen Sinne, sondern „bloß“ eine schmerzhaft ablenkungsfreie
Situation. Der schmale Beton-Balkon, auf dem sich Mutter und Tochter meistens aufhalten, wird
wie ein Guckkasten von der Seite in den Blick genommen. Zieglers Bildsprache ist bewusst
formal streng und direkt. Reduziert, fast minimalistisch. Und stimmig.
Einmal ist der Bildschirm
durch die Hauskante in der Mitte geteilt, horizontal die Balkons in der Wohnmaschine, links das
Meer, ein Schiff schwimmt anscheinend auf die Fassade zu, es ist bloß eine optische
Täuschung. Vor der grauen Weite des Meeres bremst das Wohnungsungetüm den Blick.
Erzählt wird hier eine exemplarisch schreckliche Familien- und Beziehungsgeschichte – in
Bildern, die Raum geben, nicht aufdringlich, trotz der Nähe, die paradoxerweise zu den
Protagonisten entsteht. Schon bald scheinen Tochter und Mutter außer sich nichts mehr
wahrzunehmen, mehr allein mit sich als miteinander zu sein. Und doch sprechen beide in dieser
dokumentarischen Inszenierung auch und vor allem für die Kamera.
Es geht um Rechtfertigung für die Mutter und Verständnis für die Tochter. Oder ist es genau umgekehrt? Die Situation der beiden hat, wie in der antiken Tragödie, etwas Unentrinnbares. Das archaische Drama findet vor nüchterner Kulisse statt. Wörter, Blicke, Gesten, Rauchen, Weiterleben. In seiner Nüchternheit ist Rosa Hannah Ziegler ein großartiges dokumentarisches Protokoll gelungen, das von Beziehungsverlust, Einsamkeit, Überlebenswillen, persönlichem Mut und biografisch vorgezeichnetem Scheitern mit unglaublich starker Kraft erzählt.
Verliehen wird der Preis am 13. April in Marl.
Demnächst auch in regionalem Kino
"Du warst mein Leben" ist noch in der Mediathek von 3sat anzuschauen. Noch steht kein Termin fest, aber in nächster Zeit wird die 45-minütige Dokumentation auch in einem regionalen Kino gezeigt.