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McDrive für die Seele

Auf der Bühne sitzt, gespannt beobachtet von über 1000 Menschen, die jeweils 100 Euro nur fürs Zuschauen bezahlt haben, ein alter Mann. Seine helle, gleichbleibend hohe Stimme weist jenen den Weg, die neben ihm sitzen und Hilfe bei ihm suchen. Bei ihm, weil er keiner ist, der lamentiert, abwägt, zaudert. Er weiß, wo’s langgeht. Und sagt das auch. Klipp und klar. Und egal, welches Leiden, welche Krankheit, welche Sorge auch immer: Beziehungsprobleme, Rückenschmerzen, Blasenentzündung, Krebs, Magersucht, Asthma, sexueller Mißbrauch, Herz-Kreislauf-Störungen, Aids, Multiple Sklerose, Depressionen – das Problem, für das Bert Hellinger nach 15, spätestens 30 Minuten keine definitive Lösung parat hätte, müßte erst noch entdeckt werden.

Das Familienstellen, nicht von Hellinger erfunden aber von ihm zur seit über zehn Jahren boomenden Therapiemethode gemacht, ist – rein technisch gesehen – eine einfache Sache. Hellinger läßt sich ein, zwei Sätze vom Probanden, den er nie zuvor gesehen hat, sagen, bevor dieser ohne viel Nachdenken Stellvertreter für die Mitglieder seiner Familie bestimmt und spontan auf der Bühne verteilt. Das Bild, das sich zeigt – wie die Figuren zueinander stehen, sind sie einander zugewandt oder weit voneinander entfernt, haben sie Blickkontakt oder kehren sie einander den Rücken zu, wer steht wo dazwischen – daran ist schon vieles ablesbar.

Was sich nach Hellinger nun aber vor allem aufbaut, ist „das wissende Feld“. Dieser affektive Strom, in dem sich eine Art familiärer Erinnerungspool öffnet und von dem Hellinger sagt, daß er ihn „nicht versteht, aber sieht, daß er wirkt“, macht, daß die Stellvertreter sich so fühlen wie jene, die sie darstellen – das Unbewußte eingeschlossen. Und tatsächlich klagt die Mutter-Darstellerin sogleich über Migräne, gleichzeitig krümmt sich der „Vater“, hat heftige Würgeimpulse, und die „Tochter“ bricht, von Weinkrämpfen geschüttelt, zwischen beiden zusammen.

Selbst – manchmal seit Jahrhunderten verschüttete – Familiengeheimnisse, etwa Totgeburten, Abtreibungen oder umgebrachte Verwandte, treten in Windeseile aus dem Nebel der Ahnen hervor. Und gerade diese Geheimnisse sorgen, laut Hellinger, für Verstrickungen. Das Verschwiegene, Vergrabene, Geleugnete holt sich sein Recht; es fällt über die Nachkommen her: die Großnichte will – als Wiedergutmachung – der abgetriebenen Großtante folgen, der Enkel setzt seinem Leben das Ziel, dem totgeschwiegenen, weil gewalttätigen Großvater  posthum Gerechtigkeit widerfahren zu lassen – alles unbewußt, versteht sich.

Das „wissende Feld“,

das die Leichen aus dem Familienschrank ans Tageslicht befördert, ist aber auch dazu da, damit sich Bert Hellinger an es „anschließen“ kann und „rein phänomenolo-gisch“ und intuitiv das familiäre Beziehungsgeflecht erst analysiert, um es sodann „in Ordnung“ zu bringen, das heißt so umzustellen, wie es sich – nach Hellinger – gehört. Und da wird nicht lange gefackelt oder nach schwierigen Kompromissen gefahndet. Da kommt „die Wahrheit“ auf den Tisch, auch wenn sie noch so hart ist. Es setzt Hauptsätze: „Hier sitzt das kalte Herz!“ oder „Du wirst ihn verlassen.“ oder „Wer seinen Mann nicht ehrt, kriegt Brustkrebs!“ Und Hellingers Urteile dulden keinen Widerspruch; es gibt weder Berufung noch Bewährung. „Kommt jemand zu mir“, sagt Hellinger, „will er die Hilfe, die ich anbiete. Lasse ich den Klienten reden, wird das, was sich zeigt, verfälscht.“

In aller Regel mündet die Aufstellung nach spätestens einer halben Stunde darin, daß das Kind seinen Eltern „die Ehre erweist“. Hier läßt Hellinger den Probanden selbst in die eigene Rolle schlüpfen und sich mit ausgebreiteten Armen vor „Vater“ und „Mutter“ verneigen. Wer das nicht sogleich übers Herz bringt, etwa, weil er von Vater oder Mutter oder beiden mißbraucht oder mißhandelt wurde, für den ist der Fall erledigt. „Wenn einer nicht mitmacht, sich weigert und lieber leidet als es zu lösen, breche ich sofort ab“, sagt Hellinger.

Zur Therapie gekommen ist Hellinger erst spät

– wenn überhaupt, denn zum einen ist er (im juristischen Sinne) kein Therapeut, und zum anderen ist der aus katholischem Elternhaus Stammende stets der missionierende Priester geblieben, der er mit 20 Jahren wurde. 1925 als Anton Hellinger in Leimen bei Heidelberg geboren, trat er direkt nach der Kriegsgefangenschaft dem Mariannhiller Missionarsorden bei. Als Bruder Suitbert predigt er in Südafrika und führt Zulus zum rechten Glauben. Dabei schult er sich in Gruppendynamik. 1968 holt ihn der Orden zurück nach Deutschland. Drei Jahre drauf verläßt Hellinger den Orden, heiratet und entscheidet sich, Psychoanalytiker zu werden. Er riecht überall ein bißchen rein: ins Rollenspiel des Psychodramas, in Fritz Pearls’ Gestalttherapie, in die Familienskulptur nach Satir.

Aber der Missionar und Prediger lehrt lieber als daß er lernt. Bereits in den Siebzigern leitet er, ohne abgeschlossene Ausbildung, Therapiegruppen. Als die Psychoanalytische Gesellschaft in Wien seine Eskapaden abmahnt, kehrt er sich von ihr ab und beschreitet endgültig den eigenen Weg. Daß er rein rechtlich keine Berufsbasis hat, stört ihn ebensowenig wie wenn ihm Kritiker in die Parade fahren wollen, indem sie eine wissenschaft-liche Überprüfung seiner Methode von ihm fordern. Auf derlei Angriffe legt Hellinger den weißhaarigen Kopf schief, lächelt und sagt: „Man kann sofort sehen, welche Wirkung meine Arbeit hat. Wenn ich jemandem einen Beweis erbrächte, setzte ich ihn über mich und machte mich selbst klein.“

für seine seit den 90er Jahren kontinuierlich gewaltiger werdende Fan-Gemeinde ist Bert Hellinger der Übervater

Das aber ist nicht Hellingers Sache. Denn so unscheinbar und fast gebeugt der Mann äußerlich wirkt – für seine seit den 90er Jahren kontinuierlich gewaltiger werdende Fan-Gemeinde ist Bert Hellinger der Übervater, der 30 Jahre nach Alexander Mitscherlichs „Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft“ die Psycho-Bühne betrat und die Therapieszene aufmischte wie keiner zuvor. Der Vater kehrt zurück: frei jeden Zweifels gibt er die einzig wahren Antworten, bezieht unerschütterliche Standpunkte und stellt die „gestörte Ordnung“ im Handumdrehen wieder her. Seine einfache Botschaft: Eltern sind zu ehren und zu lieben. Kinder haben kein Recht, gegen den Stachel zu löcken oder gar Fehler und Versäumnisse der Eltern anzumahnen. Die überkommenen Hierarchien sind anzuerkennen! Frauen haben dem Mann zu folgen, jüngere Kinder sich den älteren unterzuordnen. Wer diese Gesetze nicht achtet, wird krank oder stirbt. Wer sie einhält, sie – mit Hellingers Hilfe – wieder ins Lot bringt, der löst sich aus den oft jahrhundertealten familiären Verstrickungen und wird gesund und frei – in kürzester Zeit.


Solch krasse Klarheit und Glücksverheißung

– noch dazu in werbespotreifer Verknüpfung alttestamentarischer Werte mit einer Art McDrive-Heilung – hat natürlich ihren Reiz in einer ungeduldigen Zeit, die ebenso windschnittig wie haltlos ist, die auch die letzten Krümel von Werten noch atomisiert, die keinen Ruhepunkt, kein Tabu, keine Grenze akzeptiert, die außer Rand und Band keine Familie mehr kennt und ohne Bindung nichts unantastbar und keine heilige Kuh ungeschlachtet läßt!

Und dies ist tatsächlich die historische Leistung Bert Hellingers: In einer Anything-goes-Zeit, in der die Psychoszene nur noch mit „Elternaustreibung“ beschäftigt war, in der Therapie zur kindlichen Opfersuhle zu verkommen drohte, in der eine ganze Generation sich weigerte, erwachsen zu werden, und mit einer unerfreulichen Kindheit jede eigene Schandtat entschuldbar wurde, stellte sich Hellinger wie ein Fels in die Brandung und sagte: Wer die Eltern verteufelt, sägt sich die eigenen Wurzeln ab.

Anstatt nun aber diesen selbstbewußt „väterlichen“ Ansatz mit der bis dahin immer „mütterlicher“ arbeitenden Therapieszene zu vereinigen, anstatt den damals herrschenden Anspruch, die Welt hätte gefälligst ein permanentes Paradies für Kinder zu sein, zu relativieren, polarisierte Hellinger lieber, drehte den Spieß einfach um und produzierte lediglich ein Gegenbild, indem er nun seinerseits die Eltern und Ahnen verheiligte und unangreifbar machte, egal, was sie ihren Kindern auch angetan hatten. Doch Hellinger begann nun auch noch, seine archaische Individualpsychologie 1:1 zu einer Sozialpsychologie auszuweiten: Wie Hellinger dem Kind jedes Recht absprach, die Eltern zu kritisieren, so hatte auch kein Nachkomme das Recht, die Taten von Naziverbrechern aufs Korn zu nehmen.

Unter www.hellinger.com verbreitete Hellinger eine Familienaufstellung, in der ein hyperaktiver Junge, dessen Großvater Mitglied der Waffen-SS war, blitzschnell von Hellinger geheilt wurde, indem er den Jungen samt Vater dem Großvater ihre Liebe erklären ließ. Aber dabei beließ es Hellinger nicht; er zimmerte weiter an seinem Weltbild: NS-Täter seien für ihre Handlungen nicht persönlich verantwortlich, „sie waren in Besitz genommen von einer gewaltigen Bewegung, gegen die die Einzelnen sich nicht wehren konnten, die meisten nicht.“

Mengele, Eichmann, Himmler und auch jene, die ein paar Stufen darunter ihr Unwesen trieben – alles nur Marionetten,

arme Opfer einer „höheren Macht“? Das klingt nach Adolf Hitlers „Vorsehung“. Und die Assoziation liegt nahe, denn nach Hellinger müßten wir mit den Nazi-Tätern vor allem Mitleid haben: „Die Täter sind nämlich die ärmsten Opfer. Sie haben es am Ende am schwersten.“ Auch den „Führer“ selbst trifft keine Schuld. Er handelte nur „im Auftrag einer Macht, die größer ist als das Ich“. In seinen „Gottesgedanken“ hält Hellinger Zwiesprache mit Adolf Hitler: „Ich schaue auf dich als einen Menschen wie mich: mit Vater und Mutter und einem besonderen Schicksal. Wenn ich dich achte, achte ich auch mich. Wenn ich dich verabscheue, verabscheue ich auch mich.“

Der Gedanke dahinter ist ja so mutig wie richtig: Es würde besonders den Deutschen guttun, „den Hitler in sich“ zu entdecken – ihm dann aber lediglich auf die Schulter zu klopfen und nach Kumpelei riechende Freundschaft mit dem Entdeckten zu schließen, das ist mal wieder so eine typische Hellinger-McDrive-Lösung. Nur folgerichtig ist denn auch die Wahl seines Domizils: Seit ein paar Jahren lebt der heute 82jährige samt neuer Frau und riesigem hölzernen Reichsadler vor der Tür in Hitlers „Alpenfestung“, der ehemaligen „kleinen Reichskanzlei“ auf dem Obersalzberg.
Viel interessanter als ein an eigener Genialität und Popularität besoffen gewordener alter Mann ist jedoch die Frage: Wie geht Hellingers Anhängerschaft mit den Eskapaden des Meisters um, welche Konsequenzen ziehen die bundesweit über 2000 Anbieter der „systemischen Familienaufstellung nach Bert Hellinger“, und inwieweit steckt die Wurzel des totalitär-rigiden Weltbilds schon in der Methode selbst?


Fest steht: Das Familienstellen ist ein äußerst effizientes Instrument, um Unbewußtes ins Bewußtseins zu holen.

Diese (oft sehr heftigen) Themen sind aber nicht mit einer Verbeugung, und sei sie noch so tief, zu erledigen; da geht es ums Nachbearbeiten, ums Integrieren, auch ums Aufgehobensein in einer Gruppe, mindestens in einer Einzeltherapie. Das von selbsternannten „Therapeuten“ ohne jeden Gruppenzusammenhang praktizierte „Familienstellen nach Hellinger“ ist in vielen Fällen nichts anderes als eine Mischung aus Geldschneiderei und Scharlatanerie. 

Doch die Sehnsucht, besonders im esoterischen Umfeld, nach einfachen Lösungen, nach Totalität und Totalitarismus, nach dem, der sagt, wo’s langgeht, nach einem, dem man sich hingibt und dessen Befehlen man folgt, ist gewaltig; die Branche boomt weiter. Und selbst jene, die dem immer selbstherrlicher denkenden Meister nicht mehr folgen mögen, verzichten nur ungern auf seinen werbeträchtigen Namen. Zur Zeit tobt ein Kampf um die wahre Wahrheit; die Aufsteller-Szene spaltet sich. Während sich die einen um wissenschaftliche Anerkennung bemühen, radikalisieren sich die Orthodoxen und der Meister selbst: Er hat seine Methode inzwischen zum „geistigen Familienstellen“ fortentwickelt. Ein einziger Satz des „Klienten“ reicht Hellinger nun, um damit „in tiefe Sammlung“ zu gehen und bald die eine Antwort zu geben. Das Ganze erinnert sehr an das in esoterischen Kreisen seit Jahrzehnten praktizierte „Channeling“.

Dies Abdriften in den esoterischen Sumpf ist eigentlich schade
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Denn Bert Hellinger hat wertvolle Gedanken entwickelt. Neben der Wiederentdeckung des Prinzips „Vater“, sind, zum Beispiel, seine Ideen zum Thema „Beziehung“ außerordentlich lehrreich. So gehört ein Satz wie dieser in Granit gemeißelt: „Wer sich zu gut ist, böse zu sein, zerstört die Beziehung.“ Wer allzu schnell vergibt, wer niemals mies ist, keine Rache übt und nie Fehler macht, der läßt dem anderen in seinerabgrundtiefen Güte keine Chance.

Nur leider hielt Hellinger selbst sich nie an seine Lehrsätze. Da es für ihn undenkbar ist, Fehler zu machen, ist eine Beziehung von vornherein ausgeschlossen. Therapie kann aber nur heilsam sein, wenn da Kontakt ist. Genau der findet bei Hellinger jedoch nicht statt. Hier liegt auch der Systemfehler, die Wurzel für den zwangsläufigen Wuchs ins Totalitäre: ohne Kontakt, ohne Mitgefühl und Demut, wird auch die klarste Klarheit wertlos und kalt. Unterstellt, das wäre wirklich alles Wahrheit, was da aus dem weißhaarigen alten Mann herauskommt: mir wäre eine warmherzige Lüge bisweilen lieber. Ein ehemaliger Wegbegleiter Hellingers, Arist von Schlippe, Therapeut in Osnabrück, distanzierte sich bereits vor Jahren von ihm: „Seinen heutigen Anspruch, stets die Wahrheit zu verkünden, halte ich für bedenklich bis gefährlich.“ Im Abschiedsbrief an den Ex-Meister schrieb er: „Ich denke, daß du durch den ungeheuren Zulauf den Sinn für Maßstäbe verloren hast.“


Wie bei alternden Heilern und Therapeuten nicht unüblich, erwählte auch Hellinger aus dem Fundus seiner Fans eine um zwanzig Jahre Jüngere, Maria Sophie Erdödy, zur neuen Frau. Und die ist so begeistert von Hellinger und seiner Methode, daß sie überhaupt „nicht versteht, daß es eine Beziehung gibt, die ohne Familienaufstellung funktioniert.“ Kein gutes Zeichen für die beiden. Denn Bert Hellinger selbst zählt zu der allmählich aussterbenden Spezies in Deutschland, die nie eine Familienaufstellung gemacht haben.




2008-04-29 ; von Karl-Heinz Farni (autor),

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