Neu erschienen: "Geschichtensammelstelle" von Irmhild Schwarz
Im Sommer 2018 installierte die Künstlerin Irmhild Schwarz in Dannenberg anlässlich eines stadtumgreifenden Kunstprojekts, der ‚Stadtvermessung Dannenberg‘, eine Geschichten-Sammelstelle. Aus den dort gehörten Erzählungen wurde ein Bilderbuch, welches jetzt erschien. Am Sonntag signiert die Autorin in der Alte-Jeetzel-Buchhandlung in Lüchow.
Im Sommer 2018 fand in Dannenberg, auf Initiative der Gruppe KX07, das Projekt ‚Stadtvermessung Dannenberg‘ statt, an dem sich über zwanzig Künstlerinnen und Künstler aus der Region beteiligten. Irmhild Schwarz richtete im Projektbüro eine Geschichten-Sammelstelle ein, in der Hoffnung, die Leute kämen vorbei und würden kleine Alltagsgeschichten erzählen, die die Künstlerin dann unmittelbar zeichnerisch umsetzen wollte.
"Zu meiner großen Freude wurde die Sammelstelle tatsächlich bemerkt und wahrgenommen," erzählt Irmhild Schwarz. "Die Geschichten gingen quer durch die Zeiten, und ich kam aus dem Staunen nicht heraus, was in einer kleinen Stadt so alles passiert."
Allerdings gestalteten die Begegnungen sich sehr unterschiedlich. Das reichte vom Mithören von Gesprächen über Erzählungen zwischen Tür und Angel bis hin zu regelmäßigen Besuchen.
"Etliche Male wurde ich auch zu Personen mitgenommen, die zu dieser oder jener Geschichte noch etwas hinzufügen konnten," so die Künstlerin. "Ich hörte begeistert zu und versuchte, das Gehörte zu protokollieren – Skizzen entstanden erst später."
Der Rausch der Begeisterung machte ersten Bedenken Platz, ob sich auch Andere für diese Geschichten begeistern würden. Irmhild Schwarz fragte sich, ob sie überhaupt autorisiert wäre, Geschichten und Personen öffentlich zu machen, über die ihr teilweise von Dritten berichtet worden war. Sie beschloss, ins kalte Wasser zu springen und im Waldemarturm eine Auswahl der Geschichten-Sammlung zu präsentieren, die sie nun in diesem Buch zusammengefasst hat.
Es geht dabei um Personen und Schauplätze hier vor Ort – um originär Dannenberger Geschichten also. Gleichzeitig sind diese Geschichten aber auch typisch für eine bestimmte Stimmung oder Zeit und auf andere Orte übertragbar. Sie handeln von besonderen Menschen, von der Enge einer kleinen Stadt in den 50er Jahren, von Kindheitserlebnissen, tragischen Ereignissen, komischen oder spektakulären Begebenheiten, und trotz ihrer Privatheit spielt auch das ‚großen Zeitgeschehen‘ immer wieder eine tragende Rolle.
Obwohl sie kaum je in die offiziellen Annalen der Stadt aufgenommen werden, bilden sie das Netz der Alltags-Identität, in dem verschieden erlebte Wahrheiten, Begebenheiten, Personen und Orte miteinander verknüpft und lebendig gehalten werden.
Am verkaufsoffenen Sonntag, dem 11. Oktober, wird Irmhild Schwarz von 14 Uhr bis 17 Uhr ihre Bücher in der Alte-Jeetzel-Buchhandlung (Lange Straße 47, Lüchow) signieren.
Begleitend finden wird dort rund ein Dutzend Bilder aus dem Buch im Cafebereich sowie im Schaufenster ausgestellt.
Hier schon mal eine kleine Geschichte zum Einlesen:
KUDDI-LERCHE
... war ein ehemaliger Offizier, der im 2. Weltkrieg ein Bein und wohl auch einen Teil seiner geistigen Gesundheit zurückgelassen hatte. Kuddi fuhr einbeinig Fahrrad und bewegte sich behände mit seinen Krücken – vier Meter weit soll er mit ihnen gesprungen sein.
Kuddi war ein notorischer Hitzkopf – der alle und alles beschimpfte, was ihm in den Weg kam, schnell in Zorn geriet und seiner Wut mit den Krücken Nachdruck verlieh, indem er sie den Unmutsverursachern entgegen oder hinterher schleuderte.
Die Kinder fürchteten ihn. Manchmal drohte er ihnen mit seinem Messer, das er an seinem einen Bein befestigt hatte. Kuddi war verheiratet mit Else, einer Pastorentochter. Die beiden stritten, beschimpften und schlugen sich – mit und ohne Publikum. Eine Frau erinnerte sich, wie Kuddi sich, nahe der ‚Essowiese‘ mit Else prügelnd auf dem Boden wälzte. Wollte aber jemand eingreifen und die Streithähne auseinanderbringen, gingen sie gemeinsam gegen den Schlichter vor.
Manchmal blockierte Kuddi mit seinen Krücken und dem Fahrrad die Straße und ließ niemanden durch, es sei denn, er/sie bezahlten Wegezoll. Aber er konnte aber auch charmant sein. Dann hielt er Autos an, um einer Frau mit Kinderwagen über die Straße zu helfen.
Als Else gestorben war, ging Kuddi jeden Donnerstag auf den Markt, um Blumen zu kaufen. Die brachte er zu Elses Grab und köpfte eine Flasche Schnaps – der erste Schluck war für Else. „Schau an“, sagte B., „wer erinnert sich noch daran, was der eine oder der andere ehemalige Ratsherr getan hat ? Aber an Kuddi erinnern sich alle.“
Zeichnung | Irmhild Schwarz: "Da hilft nur üben"
2020-10-07 ;
von
asb/pm (text),
in Lange Str. 47, 29439 Lüchow, Deutschland
literatur
geschichte
Kommentare
Sie müssen registriert und angemeldet sein um einen Kommentar schreiben zu können