Thema: ostpreußen

Klug und packend

Am 20. August 1934 stirbt in Berlin der greise Reichspräsident Hindenburg, der zwei Mal Geschichte geschrieben hatte: als General und „Held von Tannenberg“ im Ersten Weltkrieg, dann, als er – hoch betagt und schwer senil – im Januar 1933 dem Gefreiten Adolf Hitler die Macht übergab. An eben diesem historischen Augusttag bringt Martha Steputat, Frau vom Bürger- und Schneidermeister des Dorfs Jokehnen, Karl Steputat, einen „strammen Lorbaß“, also einen Jungen zur Welt.

Und wie soll das Kind heißen? Die Hebamme schlägt „Adolf“ vor, von dem hängt immerhin ein Bild in der guten Stube, aber Vater Karl entscheidet sich für die Kultur und nennt seinen ersten und einzigen Sohn Hermann, nach Hermann Sudermann, dem ostpreußischen Dichter.
Ostpreußen, das ist die ferne Gegend, nach der hierzulande so viele Straßen benannt sind. Ostpreußen, das ist die Gegend, aus der Maria Furtwängler, die „Tatort“-Kommissarin, so adrett frisiert und gekleidet zu Pferde flüchtete.


Was wissen wir eigentlich über Ostpreußen, diesen Landstrich, der heute zu Polen gehört und bei dessen Erwähnung manch ein älterer Mensch wütend wird, oder heimlich eine Träne verdrückt? Man kann sich diesem Land mit historischer Genauigkeit nähern, oder mit Trauer und Zorn, man kann auf Fernsehschmonzetten vertrauen – oder man kann Arno Surminski lesen: „Jokehnen oder: Wie lange fährt man von Ostpreußen nach Deutschland?
Surminski, 1934 in Jokehnen geboren (das Hermännche trägt autobiographische Züge), hat mit diesem Buch seine Heimat und Kindheit beschrieben:

Jokehnen, ein Dorf mit 200 Seelen und immerhin drei Telefonanschlüssen. „Kinder bekam man in Jokehnen zur Vesperpause hinter der Haferhocke oder beim Kühemelken.“ Dort verlebt er eine typische Dorfjugend mit Fröschekillen und Vogelnesterplündern. Die Zeiten sind schwer, doch Bauern haben immer noch eine Speckseite in der Kammer, und der Gutsherr und Major reitet durchs Land, um seine Arbeiter zu beaufsichtigen. Manchmal steigt er den Mägden nach, schwängert sie und sucht ihnen hinterher einen Mann für ihren unehelichen Nachwuchs. Es geht feudalistisch, aber auch menschlich zu in Jokehnen. Die Leute arbeiten hart, manche, wie Karl Steputat, leben in bescheidenem Wohlstand, und bei den anderen reicht es immer gerade so – nur der Major ist wirklich reich.

Onkel Franz ahnt schon früh, daß die Zeiten wohl nicht ganz so rosig werden, wie es das ferne „Adolfche“ verspricht – der Dorfkommunist Seidler weiß es schon genauer, aber es wird ihm nichts helfen. Samuel Matern, der einzige Jude weit und breit und geachteter Tuchhändler, denkt wie alle hier, daß es schon nicht so schlimm werden wird und versucht, sich mit den neuen Herren zu arrangieren. Melker August schlüpft gleich in die schicke schwarze SS-Uniform, was ihm letztlich auch nicht bekommt.


Arno Surminski erzählt diese seine Geschichte aus dem Blickwinkel des Kindes Hermann. Der Ton ist distanziert – lakonisch, so wie Kinder reden, die vieles sehen und wenig davon verstehen. Und zu sehen gibt es einiges in diesen Zeiten, in dieser idyllischen Gegend, die erst Anfang 1944 tatsächlich vom Krieg heimgesucht wird. Da erreicht das Dorf die Anweisung, daß – kriegsbedingt – der Führergeburtstag im April nicht gefeiert werden soll. Bis dahin leben die Leute so wie immer. Manche ziehen in den fernen Krieg, manche kommen nicht zurück.

Man steckt bunte Nadeln in Landkarten, um Frontverlauf und Siege zu markieren, und hört Hitlerreden und Sondermeldungen des Großdeutschen Rundfunks im Volksempfänger. Die Frauen daheim behelfen sich für die Arbeit mit Kriegsgefangenen aus Polen oder Rußland, die auch, besonders bei den Jüngeren, für andere Bereiche des Lebens zuständig werden. Ältere Männer werden an der Front noch nicht benötigt, und die Kinder und Jugendlichen spielen begeistert bei der HJ mit, glauben an Wunderwaffen, Endsieg und den unfehlbaren Führer, der sich, von den Dörflern fast unbemerkt, kaum 20 Kilometer entfernt beim Städtchen Rastenburg seine „Wolfsschanze“ in den Wald betonieren ließ.

Solche Geschichten erzählt Arno Surminski ganz leicht, wie nebenbei, aber wer sich mal einen Nachmittag mit diesem Buch in seinen Sessel verkriecht, wird erstaunt feststellen, wie man in dieses Leben, dieses Buch eintauchen kann. Vielleicht liegt es daran, daß die Dörfler ähnlich in Tage und Jahreszeiten hineinleben wie hier im Wend-land. Krieg und Politik sind fern, Waldarbeit und der ewige Rhythmus des Säens und Erntens, von Geburt und Tod liegen näher.

Und so leben sie wie Kinder, die glauben, wenn sie die Augen schließen, werden sie auch nicht gesehen. 1944, als längst alles verloren ist und die Front immer näher rückt, kümmern sich die Leute wie jedes Jahr um Ernte und Wintersaat, dann um Weih-nachtsbraten und ärmliche Geschenke und erst dann um die Frage, ob man nicht besser die Planwagen packen sollte. Als sie dann endlich doch losziehen, werden sie von der Front überrollt, stehen verblüfft im Auge des Wirbelsturms und nutzen die trügerische Ruhe, um in ihre geplünderten Häuser zurückzugehen. Doch dort bleiben sie, die paar Jokehner, die den Weg gefunden haben, nicht lange.


Die Zeit, die dieses Buch beschreibt, ist bekannt. Es wird nichts ausgelassen – nicht die Vergewaltigungen, nicht der Verrat, nicht die Grausamkeit und auch nicht die, die bis zum bösen Schluß noch ihre Menschlichkeit bewahren konnten. Wir wissen, wie es ausgeht und eigentlich müßte die Lektüre daher etwas langweilig sein – doch weit gefehlt.

Manchmal ertappt man sich sogar dabei, wie man den Steputats und Heinrich aus Masuren, der Majorschen und Onkel Franz, der blinden Oma und Frau Aschumeit durch die Jahre hindurch zurufen möchte, daß sie doch bitte nicht so naiv sein sollen, daß die Sache nicht gut gehen kann, daß sie ihr Bündel schnüren und verschwinden müssen.

Und am Ende hat es der lustige Peter nicht geschafft, die Eltern sind fort für immer, aber das Leben geht weiter.


Ich weiß nicht, ob das nunmehr geplante „Zentrum für Vertreibung“ in Berlin dazu beiträgt, zu verstehen, was in der Folge von Nazis und Zweitem Weltkrieg in Ostpreußen geschah. Aber dieses Buch tut das, spannend bis zum Schluß. Da erfährt man immerhin noch, was aus denen, die uns fast 500 Taschenbuchseiten lang begleitet haben, wurde. Hermann/Arno hat es ohne Eltern, mithilfe einer kinderreichen Nachbarin geschafft, ist ein seriöser Jurist geworden und schreibt seit 1972 an seinen klugen Büchern. „Jokehnen“ erschien erstmals 1974 und wurde 2000 als Taschenbuch neu aufgelegt. Es fordert nichts zurück, beschuldigt und verklärt nicht.

Aber es zeigt eine kleine, von mehr oder weniger naiven, hart arbeitenden Menschen bewohnte Weltgegend, in der sich Geschichte und Geschichten zu einer Tragödie entwickelten, die für viele bis heute nicht vergangen ist.




2008-05-04 ; von Stefan Buchenau (autor),

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