Wann hört Agitprop auf und wo fängt Kunst an? Diese Frage stellt sich bei der aktuellen Ausstellung des Westwendischen Kunstvereins im Zehntspeicher Gartow. Fünf Installationen sind dort ganz dem Thema "Flucht, Überleben und Neuankunft" gewidmet.
Seit im September 2015 Tausende Geflüchtete im Budapester Bahnhof Keleti ausharrten und die Bilder von Richtung Westen wandernden Menschenschlangen durch die Medien gegangen sind, ist das Thema aus der öffentlichen Diskussion nicht mehr verschwunden. Inzwischen sind wohl alle Aspekte intensiv diskutiert worden, die mit dem Thema Flucht, Einwanderung und Integration auch nur im entferntesten zu tun haben.
Braucht es da jetzt noch eine Kunst-Ausstellung zum Thema? Der Westwendische Kunstverein fand: ja - und lud die beiden Künstler Stefan Roloff und Christian Kneifel ein, ihre Installationen im Zehntspeicher Gartow zu präsentieren.
Herausgekommen ist eine Ausstellung, die in fünf Installationen viel über die Erfahrungen Geflüchteter erzählt. Hier erzählt Napuli Langa über ihre vier Tage dauernde Baumbesetzung am Oranienplatz in Berlin. Dort tauschen sich eine alte Ostpreußin und ein Iraner über ihre Fluchterfahrungen aus.
In einer anderen Installation, "Let there be Light", beschreiben 30 Menschen aus allen Kontinenten in ihren Muttersprachen gleichzeitig ihre Vorstellungen einer idealen Welt.
Es sind betroffen machende Geschichten, die in den einzelnen Stationen zu hören sind. Erzählt werden sie von Geflüchteten mittels Videos und Audioeinspielungen. Der ganze Zehntspeicher ist ins Dunkel getaucht. Lediglich die fünf Installationen sind - zum Teil spärlich - ausgeleuchtet, was dem ganzen Raum die Atmosphäre einer Wanderung im Dunkeln von Lichtpunkt zu Lichtpunkt gibt.
Und die Kunst? Ist es politische Kunst, wenn auf der einen Wand ein großformatiges Gemälde leicht abstrahiert Boote und Menschen zeigt, die auf dem Meer herum irren und auf der gegenüberliegenden Wand ein Foto zu sehen ist, mit einem golden leuchtenden Brandenburger Tor, vor dem ein Paar mit schwarz verhängten Tüchern steht? Die Botschaft ist schnell zu erfassen und leicht zu verstehen: nach einer dramatischen Flucht finden sich die Geflüchteten in einer Welt wieder, die ihnen fremd ist. Ähnlich plakativ sind die anderen Installationen.
Immer wieder stellt sich dem Betrachter die Frage, wo die Grenzlinie ist zwischen illustrierten Erfahrungsberichten und künstlerischer Auseinandersetzung mit dem Thema. Dabei kleben die beiden Künstler eng an ihren Protaganisten, lassen sie ohne kritische Distanz ihre Geschichten erzählen.
Es tut sich der Verdacht auf, dass es hier um einen neuerlichen, mit künstlerischen Vorzeichen versehenen, Versuch geht, Betroffenheit und Mitgefühl zu erzeugen. Das ist in Ordnung und bei Flüchtlingshelfern und wohl auch einigen Geflüchteten gerne gesehen, würdigt es sie doch in ihren teils fürchterlichen Erlebnissen.
Die Geflüchteten jedenfalls, die am Sonntag durch mehr oder weniger intensive Motivationshilfe die Ausstellung besuchten, zeigten sich wenig beeindruckt. Von einigen war zu hören, dass sie die Installationen "gut" fanden. Nach der Führung durch zwei Farsi und Arabisch Guides war der Weg zum - üppig ausgestatteten arabischen - Buffett und zum Gespräch mit anderen Geflüchteten schnell gefunden.
Die Frage aber, wann Kunst politisch ist oder ob Kunst überhaupt politisch sein soll, bleibt offen. Sie wird seit Äonen immer wieder heiß diskutiert. Auch die aktuelle Documenta in Athen greift die Diskussion auf. Deren Kurator plädiert dafür, dass - auch - die Kunst wieder mehr politische Verantwortung übernehmen muss. Dagegen stellt die Autorin Christine Lemke-Matwey im ZEIT-Artikel "Verkauft uns nicht für dumm" die Frage, ob sich die Kunst radikal genug verändert, um dieser Rolle weiter gerecht zu werden?
Eine "radikale Veränderung der Kunst" ist bei den Installationen von Kneisel und Roloff nicht zu erkennen. Vielleicht liegt das aber auch daran, dass sich beide nicht die Zeit gegeben haben, das "Flüchtlingsthema" in seiner ganzen philosophisch wie gesellschaftlichen Dimension zu erfassen.
Denn wie schrieb es Christine Lemke-Matwey in ihrem oben genannten Artikel: "Kunst dauert, Kunst braucht Zeit, Durchdringung, Tiefgang. Bis große
Katastrophen (...) oder historische Zäsuren (...) ihren ästhetischen Niederschlag finden, können Jahrzehnte vergehen.
Jahrzehnte, in denen sich knarrend die Gewichte verschieben und wenig bis gar nichts mehr
zusammenpasst. " Die Ausstellung "Flight - Flucht und Überleben" zeigt wenig bis nichts von diesem "knarrenden Verschieben der Gewichte".
Über das Thema "Kunst und Politik - ein Spannungverhältnis" wird übrigens am Samstag (21.5.) um 17 Uhr im Zehntspeicher ausführlich in einer Podiumsdiskussion gesprochen.Neben den beiden Künstlern diskutieren auf dem Podium der Dokumentarfilmer Prof. Gerd Roscher sowie die Malerin Birgit Schiemann. Moderiert wird die Diskussion von dem Publizisten Reinhard Kahl. Es dürfte spannend werden.
Foto / Angelika Blank: Am Sonntag interessierten sich Geflüchtete für die "Flight"-Ausstellung im Gartower Zehntspeicher.