Wie katastrophal die Raketenangriffe den Alltag in Lemberg beeinflussen, weiß Natalya Petryschyn. Ihre Eltern leben in der angegriffenen Stadt. wnet erzählte sie, wie ihre Mutter den Alltag nach den Angriffen erlebt.
Natalya Petryschyn ist angespannt. Die in der Ukraine geborene Hamburgerin sitzt mit drei Kindern in ihrer Ferienwohnung in Vietze und kann nur hilflos zuschauen, wie Lemberg, die Heimatstadt ihrer Eltern, mit Raketen attackiert wird. "Erst am späten Montag Abend konnte ich meine Mutter wieder erreichen," erzählt sie. "Sie hatte noch Glück. In ihrem Stadtteil fiel der Strom nur einige Stunden aus. In anderen ist bis heute (Dienstag) immer noch kein Strom da."
Acht russische Raketen hatten am Montag rund 90 % der Stromversorgung für die Stadt zerstört, hatte die Mutter Natalya Petryschyn erzählt. In Lemberg wird gerade deutlich, wie sehr das moderne Leben von Strom abhängig ist: Verkehrsampeln, Straßenbahnen, automatische Türen, elektronische Supermarktkassen, Handys, Kraftwerke ... Selbst der Luftalarm funktioniert nicht mehr. In den Supermärkten stehen alle Türen offen, davor bilden sich lange Schlangen, weil alles manuell aufgeschrieben und ausgerechnet werden muss.
"Irgendwann fuhren Alarmwagen mit Megaphon-Ansagen durch die Straßen," hatte die Mutter der Tochter erzählt. "Die Krankenhäuser haben aber wohl Notstromaggregate." Dem Vater, der gehbehindert in seiner Wohnung sitzt, nützt das wenig. Es gibt niemanden, der dafür sorgt, dass Kranke oder Gehbehinderte in Sicherheit gebracht werden.
Aber der Vater würde das sowieso nicht zulassen. "Ich gehe nirgendwo hin", ist seine regelmäßige Reaktion auf die Bitten der Tochter, Lemberg zu verlassen. Er will die Ukraine vom Balkon aus verteidigen und notfalls "Gegenstände auf die Russen werfen". Die ebenfalls kranke Mutter würde zwar ausreisen, will ihren Mann nicht alleine lassen. Außerdem hat sie Angst vor einer 24 Stunden langen Busreise.
Die langen Schlangen vor den Geschäften und die aufgeregten Menschen dort stressten die Mutter so sehr, dass sie lieber im Stryjskipark spazieren ging - obwohl es auch in der Nähe Raketeneinschläge gab. Fatalistisch erzählt sie ihrer Tochter, dass sie sich zwei große Kerzen besorgt hat und notfalls ihren Ofen mit Holz aus dem Park füttern wird.
Natalya Petryschyn treibt es um, dass sie hier in idyllischer Atmosphäre ihre Ferien verbringt und ihren Eltern nicht beistehen kann. "Während wir hier in der Sonne sitzen, explodieren in Lwiw die Häuser. Und ich kann nichts tun," ist ihre hilflose Reaktion. "Aber es hilft mir, hier Ruhe zu haben. Viele Menschen zu treffen und immer wieder die gleichen Fragen beantworten zu müssen setzt mir sehr zu."
Schwierig ist es für sie, wenn sie nach den Ferien in Hamburg ihre Arbeit als Migrationshelferin wieder aufnehmen muss. "Hamburg hat 500 Menschen aus Russland aufgenommen. Viele von ihnen werden zu mir in die Beratung kommen," erzählt die Sozialpädagogin. "Ich weiß nicht, wie ich es durchhalten soll, wenn ich Russen vor mir sitzen habe, die Putin und den Krieg richtig finden."
PS: die Ukrainer haben das Wort "Mobilisierung" sarkastisch umgedichtet: sie nennen die Soldatenrekrutierung "mohilisierung". Im Ukrainischen heißt mohila Grab.
Foto | Angelika Blank: Natalya Petryschyn und ihre Tochter Emilia vor ihrer Ferienwohnung in Vietze.