Sie gähnt, sie bringt Qual, sie ist ein Martyrium. Wo sie ihr graues Zepter schwingt, da gibt es keine Freude, keine Lust, keinen Impuls mehr. Sie läßt die Zeit stillstehen und zieht klebrige Fäden: Es war öd, es ist öd, es wird immer öd bleiben. Doch fragt man Menschen nach den Gemütslagen, die ihnen am unangenehmsten sind, dann spricht niemand von ihr, statt dessen ist von Angst die Rede, von Trauer, Schmerz, Haß, vielleicht noch von Scham. Aber Langeweile? „Hab’ ich doch nie! Komm’ ich gar nicht zu!“, schießt es aus jedem, den man auf sie anspricht, wie aus der Pistole. Langeweile ist kein Thema, sie steht nicht einmal im Lexikon – keine Definition, fast keine Literatur.
Erst, wenn man ins Synonymwörterbuch blickt, beginnt man zu ahnen, daß wir es hier mit einem unserer schrecklichsten Gemütszustände zu tun haben. Unter „langweilig“ hagelt es ausschließlich Furchtbares: öde, trostlos, trist, fad, reizlos, unlebendig, eintönig, stumpfsinnig, steril, geisttötend. Da ist von einem Gefühl wie „aufgewärmter Kohl“, wie „kalter Kaffee“ die Rede. Auf ein auch nur einziges neutrales, geschweige denn positives Wort wird nicht verwiesen.
Dennoch hat sie, fragt man nach, angeblich niemand. Handelt es sich bei der guten, alten Langeweile um eines der letzten Tabus unserer ach so aufgeklärten Zeit? Eines steht fest: Langeweile ist nicht stubenrein in einer Gesellschaft, die sich vom protestantischen Arbeisethos regieren läßt, in der selbst Entspannung und Trauer zu einer Aufgabe gemacht, als eine Art Arbeit geleistet und zu einem Wirtschaftsfaktor umfunktionalisiert werden. Dabei ist die Langeweile selbst der Motor für die seit Jahrzehnten mit Abstand am lautesten boomende Wirtschaftssparte: die Unterhaltungsindustrie. Um die gefürchtete Langeweile unter keinen Umständen aufkommen zu lassen, um sie mit aller Macht zu zerstreuen, hat der Mensch unendlich viel erfunden: Von der Babyrassel bis zum Spielfilm, vom Quietscheentchen bis zum Computerspiel, vom Radio bis zum MP3-Player, vom Freizeitpark bis zum größten Kampfgerät fürs Amüsement und gegen die Langeweile, dem Fernsehen.
Die vielen Mittel gegen sie und die Tatsache, daß von den meisten Menschen so vehement verneint wird, sie überhaupt jemals zu haben, deuten darauf hin, daß die Langeweile als ungeheure Bedrohung empfunden wird – und so gut wie überall lauert. Auch in der Liebesbeziehung hängt sie wie das Damoklesschwert über den Partnern. Die Höchststrafe für jeden Mann und jede Frau und ein Grund, vor Scham im nächstgelegenen Boden zu versinken, ist der Vorwurf des oder der Geliebten: „Mein Gott, bist Du langweilig!“
Vor was fürchten wir uns da eigentlich? Und was ist das denn genau: Langeweile? Wie kommt es, daß ein Zustand, eine Situation, eine Arbeit, ein Mensch, etwas, das eben noch spannend und interessant war, uns erfüllte, plötzlich öde und stumpfsinnig wird? Warum ist uns auf einmal danach, das totzuschlagen, wonach wir uns so oft sehnen, nämlich Zeit. „Die Zeit totschlagen“ ist ein sprachliches Bild für die Langeweile, das in seiner Grausamkeit einiges darüber sagt, wie entsetzlich sich Langeweile anfühlt.
Der schauderhafte Zustand der Langeweile kommt immer dann auf, wenn aus etwas die Luft raus ist, wir das aber noch nicht merken oder nicht wahrhaben wollen, deshalb nichts ändern und etwas fortführen, was uns längst nicht mehr erfüllt. Gestern war der verführerische Blick des Geliebten noch Anlaß für vermehrten Adrenalinausstoß, heute führt dieselbe Geste nur noch zu einem Gähnen. Das aber – wenn wir es denn überhaupt zur Kenntnis nehmen mögen – trauen wir uns nicht zu zeigen. Also tun wir interessiert wie immer – und gähnen innerlich, weil wir uns nun tatsächlich langweilen. Ebenso kann es jahrelang Spaß gemacht haben, sich in Schale geworfen auf Vernissagen zu zeigen, Sekt zu schlürfen und Smalltalk zu üben. Doch plötzlich kommt einem dieselbe Veranstaltung wie einbetoniert, wie aus einem schlechten Film vor; die Menschen sind fade, die Gespräche monoton, alles ist ermüdend. Gewöhnlich suchen wir die Schuld daran in uns: wir sind wohl nicht gut drauf heute, schlechte Laune, zuviel Arbeit, zu wenig Ruhe. Aber in der Ruhe, die wir uns dann holen, wird das Ganze nur noch schlimmer, die Zeit saugt an uns, es tut fast weh.
Gewöhnlich bekämpfen wir derlei Zustände mit Ablenkung. Wir lassen uns von irgendetwas berieseln: Musik, Film, Fernsehen. Oder wir schütten ganz schnell einen großen Eimer voll Aktivität auf die Langeweile: Jogging, Fahrrad, Fitness – in der Hoffnung, daß sie nun spurlos und möglichst für immer verschwindet. Das Dumme ist, daß das in aller Regel klappt – und zumindest oberflächlich fühlt es sich natürlich erst einmal gut an, die Langeweile vertrieben zu haben. Dumm ist nur, wenn man es zu schnell tut und sich niemals auf die Langeweile und den tieferen Grund für sie einläßt, denn unter der Langeweile liegt (fast immer) ein Schatz vergraben, ein Schatz, den wir nie erreichen werden, wenn wir die Langeweile nur blitzartig und geschäftsmäßig mit den zahllosen Anti-Ödnis-Techniken, die uns heutzutage zur Verfügung stehen, beiseiteschieben oder zuschütten – was übrigens schon Friedrich Nietzsche wußte: „Man erntet als Lohn für vielen Überdruß, Mißmut, Langeweile jene Viertelstunden tiefster Einkehr in sich und die Natur. Wer sich völlig gegen die Langeweile verschanzt, verschanzt sich auch gegen sich selbst. Den kräftigsten Labetrunk aus dem eigenen innersten Born wird er nie zu trinken bekommen.“
Oder Xavier de Maistre, Offizier der Armee des Königreichs Sardinien und ein Experte in Sachen Langeweile: nach sechswöchigem Hausarrest (in erschwerender Weise während der Karnevalssaison) schrieb er Ende des 18. Jahrhunderts in „Reise um mein Zimmer“: „Wehe dem, der nicht einen Tag seines Lebens alleine sein kann, ohne die Qual der Langeweile zu empfinden, und der sich, wenn nötig, lieber mit Dummköpfen unterhält als mit sich selbst.“
Mit der Langeweile ist es ein bißchen wie mit der Angst. So, wie die Angst deshalb ein so unangenehmes Gefühl ist, weil sie uns vor etwas warnen will, was wir unbedingt meiden sollten, fühlt sich die Langeweile deshalb so gräßlich an, damit wir etwas wandeln, das uns nicht mehr befriedigt, nicht mehr voranbringt, nur noch eine Routine ohne seelischen Nährwert ist. Langeweile ist die Sirene, die kreischt, wenn es Körper, Geist und Seele nach etwas Neuem dürstet, unser Bewußtsein dies aber wegschiebt, weil das Neue vielleicht nicht in unser inneres Idealbild paßt. Und die Sirene immer nur abzudämpfen, ist auf die Dauer nicht nur keine Lösung, sondern läßt die Langeweile unter der Oberfläche wuchern. Und eine chronische Langeweile nennt man in leichteren Fällen Melancholie, in stärkeren Depression.
An Kindern ist das sehr gut zu beobachten. Reagieren Eltern auf das herzzerreißende „Mir-ist-sooo-langweilig“ stets auf der Stelle mit einer DVD, einer Fahrt in den Erlebnispark oder mit sonst einer Anti-Langeweile-Schminke, dann ist zwar zuerst einmal die ersehnte Ruhe im Karton. Aber auf Dauer erzieht man sich so nicht nur einen handfesten Nervbolzen heran, der die edle Errungenschaft der Geduld nicht kennt, sondern man gibt dem Kind vor allem weder Zeit noch Chance, aktiv und aus sich selbst heraus den unangenehmen Gemütszustand zu verändern, nämlich in sich zu forschen, sich zu überlegen, wonach ihm denn jetzt eigentlich wirklich ist. Das ist quälend – wohl wahr. Aber ohne diesen Kampf mit der Langeweile gibt es keine echte Kreativität und nie das großartige Erlebnis, etwas zu erfinden, etwas in mir selbst zu entdecken, das mich wirklich fasziniert.
Das gilt nicht nur für Kinder. Doch was bei Kindern schon schwierig ist, wird bei Erwachsenen zu einer wahren Höchstleistung an Disziplin. Sich freiwillig diesem furchtbaren Zustand der Langeweile auszusetzen, erfordert – zumal, wenn man es als Kind nie gelernt hat – einen Batzen Mut. Denn wenn man die Langeweile zuläßt – was kommt dann? Keiner weiß das. Diese Unsicherheit ist echtes Abenteuer – kein Abenteuer in Abrahams Schoß wie etwa vorm Fernseher oder im Kino, sondern richtig richtig, mit allem Drum und Dran. Und der Ausgang dieses Abenteuers ist – wie sich das für ein echtes Abenteuer gehört – tatsächlich offen. Kann sein, kann sogar verdammt gut sein, daß da Wünsche, Sehnsüchte, Begierden in mir aufsteigen, die aber so gar nicht in mein wunderschönes Idealbild von mir selbst passen, die Konsequenzen fordern, die eventuell sogar Trennungen nahelegen.
Das können – objektiv gesehen – Kleinigkeiten, irgendein Aus-der-Rolle-Fallen sein, etwa, daß es mich als Vegetarier auf einmal unwiderstehlich nach einem Eisbein gelüstet, oder daß ich, obwohl schon immer als guter Gastgeber bekannt und vor allem beliebt, plötzlich aber so gar keine Lust auf den Verwandtschaftsbesuch habe. Wobei das subjektiv empfunden alles andere als Kleinigkeiten sind. Und es gibt auch objektiv richtig dicke Dinger. Wenn etwa die sonst stets brav passive Ehefrau plötzlich Feuer in sich spürt und – zurecht! – keine Ahnung hat, wie ihr Mann das findet. All so etwas ist mit Angst verbunden, weil die Gefahr besteht, daß mir mein Selbstbild laut knallend um die Ohren fliegt und ich wirklich keine Ahnung habe, ob es am Ende zu mehr Glück oder doch nur zu mehr Streß führt.
Für alle, die ein Geheimnis für sich behalten können: Es führt immer zu mehr Glück, selbst, wenn alles Befürchtete eintritt – was indes selten passiert. Denn Glück, das mehr als aufgeklebtes Lächeln ist, geht nur in dem Maße, wie ich bin, was ich bin. Und ob die Menschen in meiner Nähe, mein Partner, meine Kinder, meine Eltern, meine Freunde wirklich mich meinen oder nur den Vorteil, den sie von mir haben, sieht man dann auch sehr viel klarer.
Vor allem aber: Was ist die Alternative? Das Alte, das Ausgelutschte, das schon lange nicht mehr schmeckt, einfach weiteressen und die dann wirklich aufkommende Langeweile mit irgend etwas übertünchen? Klingt, wenn Sie mich fragen, nicht wirklich reizvoll. Klar: wir haben vor allem Neuen und vor der damit verbundenen Unsicherheit Angst, das fängt doch schon bei einer ungewöhnlichen Frisur an, bei einer Hose, die gerade nicht modern ist, oder beim Impuls, auf offener Straße laut zu lachen. Andersrum ist es aber auch so: wenn wir all das, was uns peinlich ist, wegmachen und aus unserer sichtbaren Persönlichkeit streichen, dann ist es kein Wunder, wenn wir uns langweilen – und zum Langweiler werden.
Der Entschluß, sich der Langeweile nicht immer nur zu entziehen, sondern sich ihr bisweilen auch zu stellen, um den in ihr versteckten Schatz zu entdecken und nach Möglichkeit auch zu heben, ist vor allem ein Akt der Hingabe, der Hingabe an die Dinge, die noch unentdeckt in unserer Seele stecken. Und eines ist sicher: Wer sich – ob einer Sache, einem Menschen oder sich selbst – hingibt, dem ist nicht langweilig und der ist auch nicht langweilig.
Was die Liebesbeziehung betrifft und die oftmals panische Angst davor, womöglich den Vorwurf zu ernten, ein Langweiler zu sein: Wenn man die Langeweile nicht mehr fürchtet, sondern sie als – wenn auch erst mal quälenden – Freund begrüßt, dann mutiert sie oft zu etwas anderem, zum Müßiggang. Und Müßiggang gehört in unserer oftmals überspannten Leistungsgesellschaft auf die Rote Liste der zu schützenden Gemütszustände – auch weil er bekanntlich aller Laster Anfang ist. Und ich kenne kaum eine Liebesbeziehung, der ein klein wenig mehr Laster nicht verdammt gut täte.
Foto: Rainer Erhard.