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Meine Stimme aus dem Volk

Sehr verehrte Damen und Herren, liebe Kinder. Hören Sie jetzt, wenn Sie möchten, meine unernst mal unernst gemeinte und zünftig verspätete Rede zum gesamtdeutschen Tag – eine Stimme direkt aus dem Volk. Denn da wir alle das Volk sind, bin ich das ja auch. Lassen Sie mich, laßt mich beginnen mit einer Frage, die ich um der Einheit willen spalte in zwei: Was haben wir gemein, wir Deutschen? Und: Worin sind wir uns einig?

„Wir wollten die Freiheit – und bekamen den Rechtsstaat“, sagte die jüngst verstorbene Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley. Ja, so gemein sind wir mit uns selbst, wir Deutschen – das haben wir alle gemein. Aber im Ernst: Wenn ich da eine Weile drüber nachdenke, über unsere Gemeinsamkeiten im Norden und Süden, im Westen und Osten, dann komme ich auf drei Dinge. Erstens: Wir hadern mit uns selbst. Wir Deutschen – und damit meine ich alle, die dauerhaft in dieser Republik leben und sich ihr willentlich oder unwillig zugehörig fühlen – wir Deutschen also, wir mögen es, uns damit zu beschäftigen, wie sehr wir mit unserem Staat hadern. Das mag, wenn mir dieser unpolitische Ausdruck gestattet sei, geschichtsnatürlich sein, wahrscheinlich ist es auch notwendig. Aber nicht immer sinnvoll.

Zweitens: Wir hadern gern mit unserer Freiheit. Dabei sind wir sogar so frei, den 3. Oktober nicht zu feiern. Mich, zum Beispiel, bewegt eher der 9. November, er rührt mich jedes Jahr zu Tränen. Der 3. Oktober hingegen ist mir lästig, wird jedes Jahr lästiger. Ich habe nichts gegen die Party, aber es ist kein Volksfest, sondern ein Krawattenträgerfest, bei dem das Volk oder eben ein paar seiner Bürgerinnen und Bürger mehr oder weniger aufrecht mit ihren Kindern zum Brandenburger Tor gehen und gucken und mehr oder weniger Bier trinken. Mich ödet das an.

Ich hab’ auch nie verstanden, warum man ausgerechnet diesen bürokratischen Tag zum Feiertag macht. Es ist doch wohl ein bürokratischer Akt gewesen, verehrte Damen und Herren: die Vollendung einer Tatsache zur Formsache. Die große Mehrheit der Ostdeutschen wollte ganz offenbar – so bitter das für den einen oder die andere sein mag – nicht den dritten Weg, auch keinen vierten, sondern direktemang unter die vor all der Freiheit schützende Hand Helmut Kohls. Nun ist es so, und es könnte, trotz allem, schlechter sein. Besser sicher auch.

Man könnte, statt am 3. Oktober zu feiern, auch einfach so ein Bier trinken, oder eines demonstrativ nicht trinken. In einem Rechtsstaat hat man diese Freiheit. Man muß kein Fähnchen schwenken. Ich finde das super, Kinder! Ich glaube, ihr wißt gar nicht, wie gut ihr’s habt, daß ihr auch am Tag der Einheit keine Fähnchen schwenken müßt!

Drittens: Wir hadern mit unserer Demokratie. Das Schwierige mit der Demokratie ist ja, nicht nur in Deutschland, daß die Mehrheit entscheidet. Das kann lästig sein, ja, ins Unglück führen, denn diese Mehrheit hat dummerweise nur selten recht. Fürs Recht ist die Rechtsprechung da. Die Gewaltenteilung ist dann wieder das Gute an der Demokratie. Ich bin ein Fan davon – viel leidenschaftlicher als für die deutsche Nationalmannschaft. Ich finde übrigens: der Rechtsstaat schließt die Freiheit durchaus nicht aus. Aber das sind so Begriffe: Rechtsstaat, Freiheit, Volk. Die kann ein jeder nach Gusto und eigenen Zwecken in seiner ideologischen Panade drehen und wenden. Manchmal ist die so fettig, daß einem übel wird, und dann verwechselt man Panade mit Freiheit und Rechtstaat und Volk. Da beißt man dann lieber in einen Döner als in die Fritten, die ja, wie wir von Asterix lernten, die Belgier erfunden haben.

Aber ich finde: Man sollte aufpassen, daß man nicht – nicht mal in Gedanken! – schlampig umgeht mit diesem unserem Rechtsstaat, der ja recht eigentlich eine Demokratie sein soll, will und muß, eine Volksherrschaft also. Davon sind wir noch ein ganzes Stück entfernt, aber näher dran als unter Louis XIV, und man sollte weder zu bescheiden noch zu draufgängerisch sein – in der Politik ist das anders als in der Liebe. Denke ich. In aller Bescheidenheit. Denn man kommt ja nicht umhin, sich so seine Gedanken zu machen, nicht wahr, meine Damen und Herren, auch wenn man an allen Ecken und rundgeschliffenen Kanten von Floskeln davon abgelenkt wird.

Unser aktueller Bundesabschnittsgefährte Wulff hat zum 3. Oktober übrigens gesagt – ach, vergessen Sie’s! Ich weiß es schon nicht mehr, obwohl’s erst gestern war. Und alle haben sich gefreut. Aber er sagt doch immer Erfreuliches, das irgendwie stimmt und deshalb irgendwie keine Bedeutung hat. Oder? Irgendwas mit Respekt oder so? Was man halt so redet, um nicht allzu originell zu sein. Mal ehrlich! Man wäre ja fast enttäuscht, sollte dieser Mensch mal was sagen, also eine richtige Rede halten, die ins Herz geht, die im Kopf bleibt. Ich jedenfalls traue meinem Präsidenten das nicht zu, dafür ist er zu lange in der PR-Politik unterwegs. Obwohl: Gorbatschow war auch lange in der Diktatur unterwegs, bevor er den Weg frei machte für unsere Einheit und die Ent-Diktaturifizie-rung. Aber: ob Gorbatschow oder unser Untermieter in Bellevue einem die Hand geben oder nicht, ist unwichtig. Der Rechtsstaat ist es nicht. Der Rechtsstaat ist eine große Sache, glaubt mir das, Kinder! Auch wenn manch einer der Jüngeren in diesem Rechtsstaat hinter mehr oder weniger vorgehaltener Hand daran zweifelt. Zweifeln ist erlaubt, Zweifel tut uns Deutschen gut. Aber danach sollte man sich entscheiden. Das ist wie mit dem Impfen: Wenn keiner mehr Kinderlähmung hat, unterschätzt man die Krankheit. Wir sollten, bei allen Hinfälligkeiten, Altersschwächen und Bedürftigkeiten unseres gar nicht so alten Staatswesens die Krankheit Willkür niemals unterschätzen. Und das meine ich jetzt, verehrte Damen und Herren, todernst.

Man könnte auch noch ein bißchen weiterdenken und, liebe Kinder, dabei einen Schritt zurückgehen, denn manchmal kann man mit ein bißchen Abstand besser sehen. Und wäre man dann auch noch gebildet, oder zumindest älter, dann könnte man den alten Herbert Wehner aus der Kiste holen, denn der kam nicht nur aus dem Osten, sondern auch aus dem Westen und direktemang aus dem Volk, was ja wir sind. Der Wehner war nicht nur Schuhmachersohn, sondern sogar Kommunist und wurde trotzdem ein kluger Mann, der sagte: „Aus Erfahrungen lernen und nicht verzweifeln: im Streit der Meinungen und Interessen nicht die Auffassungen annehmen und versteinern lassen, als seien die Irrtümer der einen Seite die Rechtfertigung der anderen.“

Darüber müssen wir jetzt erst mal nachdenken, das ist nicht so leicht zu verstehen, ich weiß schon. Und laßt uns, so schön nachdenklich geworden, wünschen, daß wir das Bessere besser vom Nichtsoguten unterscheiden lernen, daß wir unsere Perlen nicht vor die Säue und auch nicht in einen Topf werfen. Sind ja Menschen, wir alle, nicht wahr?

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2010-11-25 ; von Katharina Körting/zero (autor),

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