Stefan Buchenau fragt: Was ist wirklich faul an unserem Sozialsystem? Der Bundesaußenminister und Vizekanzler Guido Westerwelle scheint mit seinem Amt nicht ausgelastet zu sein, denn in den letzten Wochen profiliert er sich als mutiger Sozialpolitiker, der so gut wie jede seiner fragwürdigen Äußerungen mit „Das muß man in Deutschland sagen dürfen“ beschließt.
Darf er auch, doch weiß der Mann sehr gut, daß sich von Hartz IV niemand ein spätrömisch-dekadentes Leben leisten kann – es geht bei seinen verbalen Rüpeleien ja auch nicht um Sozialpolitik, sondern um Wahlkampf.
Aber irgendwas ist tatsächlich faul im Staate Deutschland. 2009 leisteten wir uns einen Etat für „Arbeit und Soziales“ über 123 Milliarden Euro, dazu kommen rund 6 Milliarden für „Familie, Senioren, Frauen und Jugend“. Das ist eine Menge Holz – und mehr, als die meisten Länder prozentual berappen können oder wollen, führt allerdings nicht zu „anstrengungslosem Wohlstand“ bei den Betroffenen – eher im Gegenteil, wie OECD-Studien zur Kinderarmut beweisen. Was geht da schief?
Die deutsche Sozialpolitik, ein System aus Kranken-, Alters- und Arbeitslosenversicherung, war im 19. Jahrhundert eine Idee von Reichskanzler Bismarck. Dabei ging es ihm nicht vordringlich darum, Bedürftige zu unterstützen, sondern der seinerzeit noch linken, aufstrebenden SPD den Nährboden zu entziehen, also schon damals letztlich um die Macht im Staat. Es handelte sich nur in zweiter Linie um soziale Maßnahmen. In erster Linie ging es um ungestörtes „Durchregieren“ einer durch Geburt und Besitz definierten Elite, die den Armen des Landes ein paar Brotkrümel hinwarf, um selbst in Ruhe Kuchen essen zu können, also hauptsächlich um Verwaltung und Ruhigstellung der Sozialfälle. So gesehen eine Erfolgsgeschichte.
Die Mischung aus Modernisierungsverlierern, gering Qualifizierten, allein Erziehenden, aus chronisch Kranken und dann auch aus vielen Zuwanderern, die irgendwann vom Fortschrittswagen gepurzelt waren, erfüllt bis heute eine, aus Sicht der Eliten, wichtige gesellschaftliche Funktion: Der „Bodensatz“ der Gesellschaft, heute „Prekariat“ genannt, stellt ein wirksames Drohpotential für alle dar, die noch nicht auf staatliche Hilfen angewiesen sind und sich deshalb notgedrungen auf weniger Lohn, weniger Rechte einlassen, nur um nicht in den Mühlen der Sozialfürsorge landen zu müssen. Außerdem gibt sie, durch ihre bloße Existenz einer großen Menge an Menschen Arbeit in den diversen Sozialbehörden, der Arbeitsagentur, in Projekten zur Weiterbildung, Wiedereingliederung, Vermittlung, Betreuung und nicht zuletzt bei Polizei, Justiz und Strafvollzug.
Die „Leistungsempfänger“ sind also praktisch Arbeitgeber, wurden aber über Jahrzehnte, bis zu den Hartz-Reformen, hauptsächlich verwaltet und damit systematisch (und leider oft erfolgreich!) zur Unmündigkeit, Trägheit und einem weitgehend anstrengungslosen Leben, wenn auch nicht in Wohlstand, erzogen. Dabei spielten fast alle mit: Arbeitgeber mit Lohndrückerei und Verlegung von Standorten ins billigere Ausland, Sozialbehörden mit diversen Projekten und Sonderleistungen für dies oder das, ohne eine nachhaltige Änderung der Lebensumstände der betreuten Sozialfälle auch nur anzustreben oder gar zu kontrollieren. Kein Wunder: wer macht sich schon gern selbst überflüssig. Mitgemacht haben auch und nicht zuletzt einige derjenigen, die aus ihrer Sicht völlig zu recht kalkulierten, daß sich schlecht bezahlte Arbeit kaum lohnt, wenn das Leben, auch mit dem einen oder anderen Schwarzjob, anders und leichter zu finanzieren ist.
Und auch das gehört ins Bild: Schwarzarbeit entsteht besonders dort, wo etwa Bauvorhaben aus Kostengründen nur noch mit Sub- und Sub-Sub-Unternehmen realisiert, ganze Bereiche, zum Beispiel bei der Gebäudereinigung, „outge-sourced“ werden und Gewerbeaußendienste oder Arbeitsagenturen personell gar nicht imstande sind, Arbeitsbedingungen tatsächlich zu prüfen. Auch öffentliche Arbeitgeber zeigen sich auffällig wenig daran interessiert, genaueres über die tatsächlichen Arbeitsverhältnisse bei „externen Dienstleistern“ zu erfahren. So entstanden über Jahrzehnte, beileibe nicht nur in Großstädten, regelrechte „Sozialdynastien“, also Familien, die seit drei oder mehr Generationen „vom Amt“ leben und in denen die meisten überhaupt nicht mehr wissen, daß es noch andere Möglichkeiten gibt, an Geld zu kommen, als einen Antrag zu stellen.Das hat aber, solange das Land reich schien, kaum jemanden gestört, weil es immer noch bequemer ist, soziale Probleme mit Geld zuzuschütten, als sie zu lösen.
Spätestens mit der deutschen Einheit, der Deindustriali-sierung ganzer Landstriche und der Entlassung von rund 150 000 Angestellten der Regierung der verschwunde-nen DDR wurde dieses System (aus dem immerhin auch Sozialleistungen für über 16 Millionen neue Bundesbürger finanziert werden) schlicht unbezahlbar. Und seitdem überbieten sich Lobbyisten und Politiker, letztere vor allem im Wahlkampf, mit mehr oder weniger populistischen Auftritten unter der Überschrift „Leistung muß sich lohnen“. Wobei sie im Ergebnis auf die einprügeln, die ohnehin schon ganz unten angekommen sind, deren mögliche Leistung seit Jahren, zumindest in legalen Arbeitsverhältnissen, nicht gefragt ist. Von denen sind, statistisch gesehen, gerade mal rund zwei Prozent (mit hoher Dunkelziffer!) Sozialbetrüger, das heißt Menschen, die es sich in den Resten der „sozialen Hängematte“ bequem machen – der Rest (also 98 Prozent) sucht Wege aus der fürsorglichen Belagerung durch die Sozialbehörden, hat aber objektiv wenig Chancen.
Es mag ja sein, daß, wie der „Paritätische Wohlfahrtsverband“ vorrechnet, eine Familie mit zwei in Vollzeit Beschäftigten selbst bei einem Stundenlohn von unter 6 Euro mehr Geld hat als eine gleichgroße Familie mit Hartz IV – nur: wo hat dieser Verband die Familien mit zwei Vollverdienern gefunden? Von den derzeit rund 40 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten arbeiten mehr als die Hälfte, also gut 22 Millionen, in Teilzeit. Und für viele ist ein Stundenlohn von 6 Euro (brutto!) unerreichbar, etwa für Wachschützer oder Friseure, für die von der Gewerkschaft „ver.di“ schon mal ein Tarifvertrag mit Löhnen unter 4 Euro abgeschlossen wird. Die werden dann, falls sie den Gang zum Amt nicht scheuen, „Aufstocker“, also Menschen, die trotz Arbeit unter dem Existenzminimum leben müssen und deshalb einen Zuschuß bekommen.
Wofür dann also das viele Geld, wenn es schon nicht bei denen ankommt, die es wirklich brauchen? Beispielhaft geht es beim Kindergeld zu. Das bekommen alle. Nur die, die es wirklich nötig hätten, also ALG II-Bezieher haben nichts davon, weil es mit ihrem Regelsatz verrechnet wird. So ein Hartz IV-Haushalt, entsprechende Kinderzahl vorausgesetzt, verfügt mit diesen Regelsätzen, über ein „Einkommen“, das deutlich die tatsächlichen Ver-dienstmöglichkeiten nicht nur von gering Qualifizierten, sondern auch von mancher Fachkraft übersteigt. Was wiederum nicht etwa heißen soll, daß es den „Bedarfsgemeinschaften“ an-strengungslos üppig geht, sondern, daß es den Unternehmen und öffentlichen Arbeitgebern in diesem unserem Land gelungen ist, im Kielwasser von Deregulierung, Globalisierung und mit Hilfe des Drucks von Minijobs und Hartz IV, einen Niedriglohnsektor zu schaffen, der alle Löhne sanft und unaufhaltsam nach unten drückt. Verantwortungsvolle Familienväter werden es sich unter diesen Umständen dreimal überlegen, ob sie eine Arbeit annehmen, die im Ergebnis weniger Geld in der Familienkasse bedeutet.
Dieses Problem wird erst in der Zukunft seinen ganzen Charme entfalten, wenn all jene, die heute von Hartz IV oder Niedriglöhnen leben müssen, Rentner werden, deren Minirente dann dauerhaft durch Steuergeld aufgestockt werden muß. Dieser Zustand ist unhaltbar, darin ist Herrn Westerwelle zuzustimmen, aber wie wäre er zu ändern?
Tatsache ist: Es gibt einfach nicht genug herkömmliche, anständig bezahlte Arbeitsplätze für alle, die wollen und können. Tatsache ist, daß Ausbildungsstand der Arbeitslosen und offene Stellen oft nicht zusammen passen. Tatsache ist, daß die Beschäftigten der Arbeitsagenturen selbst oft nur mäßig für ihre Tätigkeit qualifiziert und die Berechnungen der Regelsätze oft schlicht falsch, Daten über offene Stellen ungenau und veraltet sind. Dazu haben die Vermittler oft nur vage Vorstellungen von den Anforderungen ver-schiedener Berufe. Tatsache ist auch, daß so man-cher Leistungsempfänger gern von „Zwangsarbeit“ spricht, wenn an ihn das unerhörte Ansinnen gestellt wird, für den bezogenen Unterhalt plus Aufschlag irgendeine Gegenleistung, etwa gemeinnützige Tätigkeiten, zu leisten. Die für solche Fälle vom mutigen Herrn Westerwelle geforderten Sanktionen gibt es längst – nur trifft es gelegentlich auch solche, die eine angebotene Arbeit zum Beispiel deshalb ablehnen, weil sie in Landkreisen wie etwa diesem einfach nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur vorgeschriebenen Zeit an ihrem Arbeitsplatz erscheinen können, oder solche, die ihre Krankschreibung zwar fristgerecht abgeben, deren Leistungen aber trotzdem gekürzt werden, weil man „im Amt“ (zu recht) davon ausgeht, daß manche Menschen sich einfach nicht beschweren.
Nichts gegen eine Erhöhung der Regelsätze für Kinder, nur wird das im Ergebnis dazu führen, daß sich Arbeit für Kinderreiche noch weniger lohnen dürfte. Auch nichts gegen einen Ersatz der diversen Sozialleistungen samt der dazugehörigen Behörden durch ein Grundeinkommen – aber nicht, wie manche träumen, bedingungslos. Einen auskömmlichen Mindestlohn für alle vorausgesetzt, halte ich es keineswegs für ehrenrührig, für staatliche Leistungen, nach Ablauf von Arbeitslosengeld I, zumindest in Teilzeit und nach Maßgabe von Qualifikation, Gesundheit und Familienstand sowie natürlich gegen zusätzliches Entgelt, auch etwas zu tun.
Es fehlt ja nicht an Arbeit, es fehlt an ordentlicher Bezahlung. Und nach den vielen Jahrzehnten beinahe lückenloser Verwaltung von Arbeitslosen mit dem Ergebnis zunehmender Unmündigkeit und Unfähigkeit zu geregelten Tagesabläufen fehlt es auch oft an der Bereitschaft und Fähigkeit der Leistungsempfänger, einfach nur täglich pünktlich zu erscheinen und für sein eigenes Leben zu arbeiten. Wobei „Arbeit“ in der Debatte gern mit Lohnarbeit gleichgesetzt wird. Aber was macht eigentlich eine joblose, alleinerziehende Mutter den ganzen Tag? Oder jemand, der die eigenen Eltern pflegt? Was machen Arbeitslose, die ehrenamtlich in der Feuerwehr, in Vereinen oder sonstwo ihre Zeit nutzbringend einsetzen? Warum werden für solche Tätigkeiten, ohne die unsere Gesellschaft längst zusammengebrochen wäre, eigentlich keine Löhne (oder ein anständiges Zubrot zum ALG II) gezahlt oder wenigstens ordentliche Rentenansprüche gewährt?
Warum geben wir nicht einen möglichst großen Teil des Geldes, das heute an Menschen fürs Zu-Hause-Bleiben überwiesen wird, statt dessen aus, um für diese Menschen sinnvolle, am besten noch qualifizierende Arbeitsfelder zu schaffen? Die sozialen Folgekosten von endlosen Tagen auf dem Sofa vor der Glotze sind auf Dauer deutlich höher, als es die Kosten für einen öffentlich geförderten Beschäftigungssektor je sein können.
Dabei wird es nicht in allen Fällen ohne sanften Druck gehen, doch das ist ein zumutbares Übel für Menschen, die dauerhaft öffentliches Geld zum Lebensunterhalt beziehen. Natürlich wird es auch dann einige geben, die „durchs Netz schlüpfen“, aber ein Land wie Deutschland sollte aushalten können, daß nicht jede(r) „richtig“ arbeitet; jede Gesellschaft braucht auch ein paar Lebenskünstler, Schnorrer, Aussteiger, die das Bruttosozialprodukt zwar nicht steigern, aber Farbtupfer ins Einheitsgrau setzen – auch das ist sozial.
Und wir brauchen eine ernsthafte Debatte über praktikablen, finanzierbaren und sinnvollen sozialen Ausgleich zwischen „Arm und Reich“. Den wird es aber, für alle Beteiligten, nicht zum Nulltarif geben. So mancher Großverdiener wird teilen lernen und so mancher ALG II-Empfänger „Zumutbarkeit“ für sich neu definieren müssen. Und dann bräuchten wir noch eine Regierung, die Probleme anpackt, statt sie aus Angst vor Umfragen oder Wahler-gebnissen vor sich herschiebt – oder in Talk-Shows verlagert.
Was wir dagegen überhaupt nicht brauchen, das sind „Tabubrecher“ wie den Herrn Westerwelle, oder auch Demagogen, die jegliche Form der Gegenleistung für Sozialunterstützung als „Zwangsarbeit“ bezeichnen.
Foto: obs/Secusmart
Meinung
Westerwelle lügt Wahrheit
Stefan Buchenau fragt: Was ist wirklich faul an unserem Sozialsystem?
Der Bundesaußenminister und Vizekanzler Guido Westerwelle scheint mit seinem Amt nicht ausgelastet zu sein, denn in den letzten Wochen profiliert er sich als mutiger Sozialpolitiker, der so gut wie jede seiner fragwürdigen Äußerungen mit „Das muß man in Deutschland sagen dürfen“ beschließt. Darf er auch, doch weiß der Mann sehr gut, daß sich von Hartz IV niemand ein spätrömisch-dekadentes Leben leisten kann – es geht bei seinen verbalen Rüpeleien ja auch nicht um Sozialpolitik, sondern um Wahlkampf.
Aber irgendwas ist tatsächlich faul im Staate Deutschland. 2009 leisteten wir uns einen Etat für „Arbeit und Soziales“ über 123 Milliarden Euro, dazu kommen rund 6 Milliarden für „Familie, Senioren, Frauen und Jugend“. Das ist eine Menge Holz – und mehr, als die meisten Länder prozentual berappen können oder wollen, führt allerdings nicht zu „anstrengungslosem Wohlstand“ bei den Betroffenen – eher im Gegenteil, wie OECD-Studien zur Kinderarmut beweisen. Was geht da schief?
Die deutsche Sozialpolitik, ein System aus Kranken-, Alters- und Arbeitslosenversicherung, war im 19. Jahrhundert eine Idee von Reichskanzler Bismarck. Dabei ging es ihm nicht vordringlich darum, Bedürftige zu unterstützen, sondern der seinerzeit noch linken, aufstrebenden SPD den Nährboden zu entziehen, also schon damals letztlich um die Macht im Staat. Es handelte sich nur in zweiter Linie um soziale Maßnahmen. In erster Linie ging es um ungestörtes „Durchregieren“ einer durch Geburt und Besitz definierten Elite, die den Armen des Landes ein paar Brotkrümel hinwarf, um selbst in Ruhe Kuchen essen zu können, also hauptsächlich um Verwaltung und Ruhigstellung der Sozi-alfälle. So gesehen eine Erfolgsgeschichte.
Die Mischung aus Modernisierungsverlie-rern, gering Qualifizierten, allein Erziehenden, aus chronisch Kranken und dann auch aus vielen Zuwanderern, die irgendwann vom Fortschritts-wagen gepurzelt waren, erfüllt bis heute eine, aus Sicht der Eliten, wichtige gesellschaftliche Funktion: Der „Bodensatz“ der Gesellschaft, heute „Prekariat“ genannt, stellt ein wirksames Drohpotential für alle dar, die noch nicht auf staatliche Hilfen angewiesen sind und sich deshalb notgedrungen auf weniger Lohn, weniger Rechte einlassen, nur um nicht in den Mühlen der Sozialfürsorge landen zu müssen. Außerdem gibt sie, durch ihre bloße Existenz einer großen Menge an Menschen Arbeit in den diversen Sozi-albehörden, der Arbeitsagentur, in Projekten zur Weiterbildung, Wiedereingliederung, Vermittlung, Betreuung und nicht zuletzt bei Polizei, Justiz und Strafvollzug. Die „Leistungsempfänger“ sind also praktisch Arbeitgeber, wurden aber über Jahrzehnte, bis zu den Hartz-Reformen, hauptsächlich verwaltet und damit systematisch (und leider oft erfolgreich!) zur Unmündigkeit, Trägheit und einem weitgehend anstrengungslosen Leben, wenn auch nicht in Wohlstand, erzogen. Dabei spielten fast alle mit: Arbeitgeber mit Lohndrückerei und Verlegung von Standorten ins billigere Ausland, Sozialbehörden mit diversen Projekten und Sonderleistungen für dies oder das, ohne eine nachhaltige Änderung der Lebensumstände der betreuten Sozialfälle auch nur anzustreben oder gar zu kontrollieren. Kein Wunder: wer macht sich schon gern selbst überflüssig. Mitgemacht haben auch und nicht zuletzt einige derjenigen, die aus ihrer Sicht völlig zu recht kalkulierten, daß sich schlecht bezahlte Arbeit kaum lohnt, wenn das Leben, auch mit dem einen oder anderen Schwarzjob, anders und leichter zu finanzieren ist.
Und auch das gehört ins Bild: Schwarzarbeit entsteht besonders dort, wo etwa Bauvorhaben aus Kostengründen nur noch mit Sub- und Sub-Sub-Unternehmen realisiert, ganze Bereiche, zum Beispiel bei der Gebäudereinigung, „outge-sourced“ werden und Gewerbeaußendienste oder Arbeitsagenturen personell gar nicht imstande sind, Arbeitsbedingungen tatsächlich zu prüfen. Auch öffentliche Arbeitgeber zeigen sich auffällig wenig daran interessiert, genaueres über die tatsächlichen Arbeitsverhältnisse bei „externen Dienstleistern“ zu erfahren. So entstanden über Jahrzehnte, beileibe nicht nur in Großstädten, regelrechte „Sozialdynastien“, also Familien, die seit drei oder mehr Generationen „vom Amt“ leben und in denen die meisten überhaupt nicht mehr wissen, daß es noch andere Möglichkeiten gibt, an Geld zu kommen, als einen Antrag zu stellen. Das hat aber, solange das Land reich schien, kaum jemanden gestört, weil es immer noch bequemer ist, soziale Probleme mit Geld zuzuschütten, als sie zu lösen. Spätestens mit der deutschen Einheit, der Deindustriali-sierung ganzer Landstriche und der Entlassung von rund 150 000 Angestellten der Regierung der verschwunde-nen DDR wurde dieses System (aus dem immerhin auch Sozialleistungen für über 16 Millionen neue Bundesbürger finanziert werden) schlicht unbezahlbar. Und seitdem überbieten sich Lobbyisten und Politiker, letztere vor allem im Wahlkampf, mit mehr oder weniger populistischen Auftritten unter der Überschrift „Leistung muß sich lohnen“. Wobei sie im Ergebnis auf die einprügeln, die ohnehin schon ganz unten angekommen sind, deren mögliche Leistung seit Jahren, zumindest in legalen Arbeitsverhältnissen, nicht gefragt ist. Von denen sind, statistisch gesehen, gerade mal rund zwei Prozent (mit hoher Dunkelziffer!) Sozialbetrüger, das heißt Menschen, die es sich in den Resten der „sozialen Hängematte“ bequem machen – der Rest (also 98 Prozent) sucht Wege aus der fürsorglichen Belagerung durch die Sozialbehörden, hat aber objektiv wenig Chancen.
Es mag ja sein, daß, wie der „Paritätische Wohlfahrtsverband“ vorrechnet, eine Familie mit zwei in Vollzeit Beschäftigten selbst bei einem Stundenlohn von unter 6 Euro mehr Geld hat als eine gleichgroße Familie mit Hartz IV – nur: wo hat dieser Verband die Familien mit zwei Vollverdienern gefunden? Von den derzeit rund 40 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten arbeiten mehr als die Hälfte, also gut 22 Millionen, in Teilzeit. Und für viele ist ein Stundenlohn von 6 Euro (brutto!) unerreichbar, etwa für Wachschützer oder Friseure, für die von der Gewerkschaft „ver.di“ schon mal ein Tarifvertrag mit Löhnen unter 4 Euro abgeschlossen wird. Die werden dann, falls sie den Gang zum Amt nicht scheuen, „Aufstocker“, also Menschen, die trotz Arbeit unter dem Existenzminimum leben müssen und deshalb einen Zuschuß bekommen.
Wofür dann also das viele Geld, wenn es schon nicht bei denen ankommt, die es wirklich brauchen? Beispielhaft geht es beim Kindergeld zu. Das bekommen alle. Nur die, die es wirklich nötig hätten, also ALG II-Bezieher haben nichts davon, weil es mit ihrem Regelsatz verrechnet wird. So ein Hartz IV-Haushalt, entsprechende Kinderzahl vorausgesetzt, verfügt mit diesen Regelsätzen, über ein „Einkommen“, das deutlich die tatsächlichen Ver-dienstmöglichkeiten nicht nur von gering Qualifizierten, sondern auch von mancher Fachkraft übersteigt. Was wiederum nicht etwa heißen soll, daß es den „Bedarfsgemeinschaften“ an-strengungslos üppig geht, sondern, daß es den Unternehmen und öffentlichen Arbeitgebern in diesem unserem Land gelungen ist, im Kielwasser von Deregulierung, Globalisierung und mit Hilfe des Drucks von Minijobs und Hartz IV, einen Niedriglohnsektor zu schaffen, der alle Löhne sanft und unaufhaltsam nach unten drückt. Verantwortungsvolle Familienväter werden es sich unter diesen Umständen dreimal überlegen, ob sie eine Arbeit annehmen, die im Ergebnis weniger Geld in der Familienkasse bedeutet.
Dieses Problem wird erst in der Zukunft seinen ganzen Charme entfalten, wenn all jene, die heute von Hartz IV oder Niedriglöhnen leben müssen, Rentner werden, deren Minirente dann dauerhaft durch Steuergeld aufgestockt werden muß. Dieser Zustand ist unhaltbar, darin ist Herrn Westerwelle zuzustimmen, aber wie wäre er zu ändern?
Tatsache ist: Es gibt einfach nicht genug herkömmliche, anständig bezahlte Arbeitsplätze für alle, die wollen und können. Tatsache ist, daß Ausbildungsstand der Arbeitslosen und offene Stellen oft nicht zusammen passen. Tatsache ist, daß die Beschäftigten der Arbeitsagenturen selbst oft nur mäßig für ihre Tätigkeit qualifiziert und die Berechnungen der Regelsätze oft schlicht falsch, Daten über offene Stellen ungenau und veraltet sind. Dazu haben die Vermittler oft nur vage Vorstellungen von den Anforderungen ver-schiedener Berufe. Tatsache ist auch, daß so man-cher Leistungsempfänger gern von „Zwangsarbeit“ spricht, wenn an ihn das unerhörte Ansinnen gestellt wird, für den bezogenen Unterhalt plus Aufschlag irgendeine Gegenleistung, etwa gemeinnützige Tätigkeiten, zu leisten. Die für solche Fälle vom mutigen Herrn Westerwelle geforderten Sanktionen gibt es längst – nur trifft es gelegentlich auch solche, die eine angebotene Arbeit zum Beispiel deshalb ablehnen, weil sie in Landkreisen wie etwa diesem einfach nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur vorgeschriebenen Zeit an ihrem Arbeitsplatz erscheinen können, oder solche, die ihre Krankschreibung zwar fristgerecht abgeben, deren Leistungen aber trotzdem gekürzt werden, weil man „im Amt“ (zu recht) davon ausgeht, daß manche Menschen sich einfach nicht beschweren.
Nichts gegen eine Erhöhung der Regelsätze für Kinder, nur wird das im Ergebnis dazu führen, daß sich Arbeit für Kinderreiche noch weniger lohnen dürfte. Auch nichts gegen einen Ersatz der diversen Sozialleistungen samt der dazugehörigen Behörden durch ein Grundeinkommen – aber nicht, wie manche träumen, bedingungslos. Einen auskömmlichen Mindestlohn für alle vorausgesetzt, halte ich es keineswegs für ehrenrührig, für staatliche Leistungen, nach Ablauf von Arbeitslosengeld I, zumindest in Teilzeit und nach Maßgabe von Qualifikation, Gesundheit und Familienstand sowie natürlich gegen zusätzliches Entgelt, auch etwas zu tun.
Es fehlt ja nicht an Arbeit, es fehlt an ordentlicher Bezahlung. Und nach den vielen Jahrzehnten beinahe lückenloser Verwaltung von Arbeitslosen mit dem Ergebnis zunehmender Unmündigkeit und Unfähigkeit zu geregelten Tagesabläufen fehlt es auch oft an der Bereitschaft und Fähigkeit der Leistungsempfänger, einfach nur täglich pünktlich zu erscheinen und für sein eigenes Leben zu arbeiten. Wobei „Arbeit“ in der Debatte gern mit Lohnarbeit gleichgesetzt wird. Aber was macht eigentlich eine joblose, alleinerziehende Mutter den ganzen Tag? Oder jemand, der die eigenen Eltern pflegt? Was machen Arbeitslose, die ehrenamtlich in der Feuerwehr, in Vereinen oder sonstwo ihre Zeit nutzbringend einsetzen? Warum werden für solche Tätigkeiten, ohne die unsere Gesellschaft längst zusammengebrochen wäre, eigentlich keine Löhne (oder ein anständiges Zubrot zum ALG II) gezahlt oder wenigstens ordentliche Rentenansprüche gewährt?
Warum geben wir nicht einen möglichst großen Teil des Geldes, das heute an Menschen fürs Zu-Hause-Bleiben überwiesen wird, statt dessen aus, um für diese Menschen sinnvolle, am besten noch qualifizierende Arbeitsfelder zu schaffen? Die sozialen Folgekosten von endlosen Tagen auf dem Sofa vor der Glotze sind auf Dauer deutlich höher, als es die Kosten für einen öffentlich geförderten Beschäftigungssektor je sein können.
Dabei wird es nicht in allen Fällen ohne sanften Druck gehen, doch das ist ein zumutbares Übel für Menschen, die dauerhaft öffentliches Geld zum Lebensunterhalt beziehen. Natürlich wird es auch dann einige geben, die „durchs Netz schlüpfen“, aber ein Land wie Deutschland sollte aushalten können, daß nicht jede(r) „richtig“ arbeitet; jede Gesellschaft braucht auch ein paar Lebenskünstler, Schnorrer, Aussteiger, die das Bruttosozialprodukt zwar nicht steigern, aber Farbtupfer ins Einheitsgrau setzen – auch das ist sozial.
Und wir brauchen eine ernsthafte Debatte über praktikablen, finanzierbaren und sinnvollen sozialen Ausgleich zwischen „Arm und Reich“. Den wird es aber, für alle Beteiligten, nicht zum Nulltarif geben. So mancher Großverdiener wird teilen lernen und so mancher ALG II-Empfänger „Zumutbarkeit“ für sich neu definieren müssen. Und dann bräuchten wir noch eine Regierung, die Probleme anpackt, statt sie aus Angst vor Umfragen oder Wahler-gebnissen vor sich herschiebt – oder in Talk-Shows verlagert.
Was wir dagegen überhaupt nicht brauchen, das sind „Tabubrecher“ wie den Herrn Westerwelle, oder auch Demagogen, die jegliche Form der Gegenleistung für Sozialunterstützung als „Zwangsarbeit“ bezeichnen.