Was ist eigentlich los mit den Milchproduzenten? Sind sie unfähig, ihre Betriebe auf ökonomisch gesunde Füße zu stellen? Haben wir es mit einem Haufen subventionsabhängiger Schlichtdenker zu tun? Oder ist der Verbraucher schuld, dem seine Ernährung insgesamt nur noch 11 % seines Einkommens wert ist? Die Antwort ist weitaus komplizierter – hier der Versuch einer Erklärung.
Um das aktuelle Problem der Milchbauern zu verstehen, ist ein Ausflug in das Jahr 1984 notwendig, das Jahr, in dem die Milchquote eingeführt wurde. Milchberge und Butterseen füllten die Lager nicht nur in Deutschland. Und weiterhin wurde fröhlich Milch angeliefert. Also erschien es der EU-Kommission eine gute Idee, dass es Landwirten fortan nicht mehr erlaubt sein sollte, Milch in unbegrenzten Mengen zu produzieren. Für jedes Land der EU wurden unterschiedlich hohe Produktionsquoten festgelegt, die nicht überschritten werden durften. Geschah es doch, so waren drastische Strafzölle fällig, die oft den eigentlich Milchpreis überstiegen.
„Hier fängt das Problem an“, so Hannes Lorenzen, Landwirtschaftsexperte und Mitarbeiter des Europäischen Parlaments. „Die Milchquoten wurden nicht nach einem zukunftsträchtigen und gerechten Konzept festgelegt, sondern es wurde schlichtweg der aktuelle Produktionsstand festgeschrieben.“ Das bedeutete zum Beispiel für Bayern, dass sie eine deutliche höhere Quote zugestanden bekamen als benachbarte italienische Landwirte. „Dabei hatte Bayern einen Selbstversorgungsgrad von 150 %, während Italien lediglich auf ganze 50 % kam“, so Lorenzen. Regionen, die sich gerade im Aufbau befanden, waren ebenso Verlierer der Quotenregelung wie junge Betriebe, die nur eine geringe Quote besaßen.
Der An- und Verkauf von Quoten über die „Milchbörse“ führte im Laufe der Jahre dazu, dass es zu einer Umverteilung der Milchmengen kam. Insgesamt wird heute (bei drastisch gesunkenem Verbrauch) von einem Viertel der Landwirte genauso viel Milch produziert wie 1984, doch die Hauptproduktion der Milch hat sich durch Betriebsaufgaben und Quotenübernahmen immer mehr dorthin verlagert, wo Milch noch billiger produziert wird.
Dabei spielten mehrere Faktoren eine Rolle: zum einen bringt eine Kuh heutzutage rund doppelt so viel Milch wie vor 20 Jahren, ihre „Milchleistung“ steigerte sich von 6000 auf rund 12000 l/Jahr. Zum anderen wurden die Landwirte durch permanenten Druck – auch und vor allem auf Rat ihrer Verbände – dazu gebracht, ihre Betriebe immer stärker zu rationalisieren. Das Grasen auf der Weide erschien nicht mehr effektiv, Haltung im Stall auf Betonböden wurde zum Standard, Melkroboter kamen zum Einsatz und, und, und …. Der innereuropäische Milchverbrauch ist dagegen in den letzten Jahren drastisch gesunken, der Export auf den Weltmarkt funktioniert nicht wirklich.
Folge: Im Schnitt liegt der Milchpreis in Europa heute bei ca 20 Ct. In Deutschland liegen die Produktionskosten (inklusive der Tilgungsraten für die teils gigantischen Investitionskredite) allerdings durchschnittlich deutlich über 30 Ct.
Doch da der Verbrauch europaweit zurückgegangen ist, geht auch den Betrieben, die allen Rationalisierungsvorschlägen gefolgt sind, die Luft aus. Und der Export „nach China“, wie er von deutschen, aber auch EU-Politikern seit Jahren als Credo vor sich hergetragen wird, läuft nicht an. „Die Politik Frau Merkels ist es zum Beispiel, den Landwirten so lange unter die Arme zu greifen, bis die Preise wieder steigen. Sprich: bis der Export nach China angelaufen ist“, so Hannes Lorenzen. „Doch China mag nicht wirklich einkaufen. Erstens hatten sie mehrere Milchpulverskandale und zweitens verträgt der asiatische Körper Kuhmilch nicht gut.“
Also muss sich jetzt – sarkastisch gefragt - die Genforschung damit beschäftigen, wie sie die Lactose aus der Milch bekommt, damit der Asienexport der europäischen Milch funktioniert? Seit Jahren hält die EU-Kommission das Export-Credo aufrecht, unterstützt zum Beispiel vom Deutschen Bauernverband, der vehement empfiehlt, die Milcherzeugung noch auszudehnen, um den Exportanforderungen gerecht zu werden, denn „sonst überlebt der Landwirt nicht“. Unter diesem Aspekt wird auch verständlich, warum die EU an der Aufhebung der Milchquote festhält. Und Länder wie Bayern haben keinerlei Interesse an einer begrenzten Produktion: Bayerns Landwirte fahren gut damit, ihre Milch ins chronisch unterversorgte fast benachbarte Italien zu exportieren.
Entwicklungspolitische Überlegungen, die die Frage aufgreifen, was mit den einheimischen Landwirtschaften in Asien oder Afrika passiert, wenn die europäischen Landwirte mit ihrer „Weltmarktpreis-gerechten“ Milch auf den Markt drängen, scheinen die EU-Kommissionäre nicht weiter zu bewegen. Ebensowenig wie die Frage, ob und wie auf Dauer die Selbstversorgung innerhalb der europäischen Union gesichert bleibt.
Für die Landwirte hat die Aufhebung der Milchquote außerdem zur Folge, dass ihnen als Vermögenswert bei einem eventuellen Verkauf noch weniger verbleibt. Bisher konnte die dem Betrieb zugeschriebene Milchquote zu einem bestimmten Wert als Vermögensbestand eingerechnet werden. Gibt es keine Milchquote mehr oder sinkt ihr Wert, so sinkt dementsprechend auch der Vermögenswert des Betriebes.
Immerhin „erwägen“ laut Lorenzen inzwischen 20 der 27 Mitgliedsstaaten eine europaweite Angebotssteuerung. Doch der Landwirtschaftsexperte befürchtet, dass die Milchindustrie nicht geneigt ist, die Rückkehr einer regionaler organisierten Milchproduktion nicht zuzulassen – haben sie doch Milliardenbeträge in den Aufbau industrieller Strukturen investiert.
Und clevere Leichenfledderer haben bereits ihren Vorteil in der Krise der Landwirte: bereits jetzt haben große Betriebe der Milchindustrie, z.B. Danone, damit begonnen, vor der Insolvenz stehende Betriebe aufzukaufen und die ehemals eigenständigen Landwirte als Auftragsproduzenten zu beschäftigen. Naturlich zu von der Industrie festgesetzten Konditionen. Sollte dieser Trend um sich greifen, so dürfte dies das Ende freier Bauern bedeuten. Sie sind dann nur noch Angestellte der Milchindustrie. Winzige Familienbetriebe auf dem Lande dürften allerdings kaum in den „Genuss“ dieser Übernahmen kommen.
In Deutschland stehen sich derzeit die Positionen der Verbände unversöhnlich gegenüber. Während der Deutsche Bauernverband ungebrochen den Export und damit die Anpassung an den Weltmarktpreis propagiert, will der Bund Deutscher Milchviehhalter (BDM) die Quotensteigerung verhindern. Außerdem sollen die Kühe nach den Vorstellungen des BDM die Milch dort geben, wo sie auf Weiden gehalten werden können.
Und der BDM möchte die Angebotssteuerung in die eigenen Hände nehmen. Dabei geht er davon aus, dass seine Mitglieder demnächst rund 50 % der in Deutschland produzierten Milch liefern werden. Das wäre ein starkes Pfund, mit dem der Verband in die Verhandlungen mit der Milchindustrie eintreten könnten. Doch selbst wenn der BDM diese Marktmacht tatsächlich innehat, droht neuer Ärger.
Das Bundeskartellamt wird voraussichtlich ein Kartellverfahren einleiten, sollten sich die Milchlandwirte als Einheit mit festen Preisangeboten der Milchindustrie entgegen stellen. „Dann wird sich die Frage stellen, wieso der OPEC erlaubt wird, die Ölproduktion nach dem Weltbedarf zu regulieren und den Milch produzierenden Landwirten nicht“, so Hannes Lorenzen.
Doch noch nehmen die Politstrategen, sei es in der EU, sei es in Deutschland, die Probleme der Landwirte nicht wirklich ernst. In Lettland ist die Not der Milchbauern inzwischen so groß geworden, dass die lettische Regierung ihnen erlaubt, ihre Milch wieder vom Tanklastwagen direkt zu verkaufen. Und Lettlands angesagtester Top-DJ Toms Grevins hat einen neuen Lieblingsclub: „Es gibt bei uns dieses Sprichwort: Wenn der letzte Tag kommt, geht der Lette erst einmal einen Trinken. Ich bin Resident-DJ in Rigas angesagtestem Club: Der Milchbar. Der Laden hat im Februar aufgemacht und ist jedes Wochenende pickepacke voll. Es ist verrückt. Ich glaube, die meisten sagen sich angesichts der Krise: Jetzt erst recht!"
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Foto: Bundesarchiv/Milchwagen der Meierei Bolle bei der morgendlichen Lieferfahrt durch Berlin/1927