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"Moby Dick": furioses Spektakel über Größenwahn und Besessenheit

Am Donnerstag hatte das neue Stück der Freien Bühne Wendland Premiere - "Moby Dick". Eine spektakuläre Parabel über die zerstörerische Kraft der menschlichen Gier und die Urgewalt der Natur.

Mit ihrem neuen Stück "Moby Dick" präsentiert die Freie Bühne Wendland erneut ein ebenso mitreißendes Spektakel wie vor Jahren "Heimatlos - Wirtshausoper in einem Rausch." Doch dieses Mal ist es keine rustikal-spaßige Alpenposse, sondern ein wilder Ritt durch schäumende Wogen des Meeres und menschliche Besessenheiten.

Was mit der "Wirtshausoper" begann, findet mit "Moby Dick" seine Fortsetzung: auch hier verzichtet die Freie Bühne auf eine feste Spielstätte und zieht mit dem zum Walfangkutter umgebauten Theaterbus durch Dörfer in der Region wie Schauspieltruppen früherer Zeiten.

Wo der Bus Halt macht, verwandelt sich der Dorfplatz. Die "Pequod" (das Schiff Kapitän Ahabs) wird zum Mittelpunkt des Platzes. Die Zuschauer werden hineingezogen in das wilde Leben einer Schiffscrew, die dem Untergang geweiht ist.

Die Geschichte kennt (fast)Jede/r: Der undurchsichtige, von dämonischen Gedanken gequälte, Kapitän Ahab ist davon besessen, den mächtigen weißen Wal "Moby Dick" zu erlegen, der ihm vor Jahren ein Bein abgerissen hatte. Von Rachegelüsten getrieben, zieht er die Mannschaft in seinen Bann und verführt sie, mit ihm auf Jagd zu gehen. Dabei ahnt Ahab, dass er sich selbst am meisten im Wege steht. "Moby Dick ist nur eine Maske, die ich zerschlagen muss, um aus meinem verkrüppelten Leben zu entkommen." (Zitat aus dem Roman) 

Wie schon anfangs prophezeit, ist die Fahrt dem Unheil geweiht. Schiff und Mannschaft inklusive Kapitän gehen unter. Lediglich ein Mitglied der Crew, Ismail, überlebt. Er erzählt die Geschichte von "Moby Dick" und seinem besessenen Jäger.

Was viele nicht wissen: Der von Herman Melville 1851 veröffentlichte Roman ist weniger eine Abenteuergeschichte, sondern gespickt mit zahlreichen Betrachtungen über den Reiz der Seefahrt, Naturphänomene oder über Wesen und Lebensart von Walen. Darüber hinaus ist es ein Roman über die zerstörerische Wucht der Natur einerseits - und das übermächtige Böse im Menschen.

Am Ende gewinnt die Natur über alle ehrgeizigen Versuche, den eigenen Willen durchzusetzen. Vom Schiff und dem Großteil der Mannschaft bleibt nichts übrig. Doch "das große Leichentuch des Meeres", so der Letzte Satz im Roman, "wogte weiter wie schon vor fünftausend Jahren."

"Moby Dick" - ein Roman zwischen Abenteuer und Naturphilosophie

Die Freie Bühne Wendland hatte sich dem umfassenden Roman - der aus 135 Kapiteln besteht - respektvoll genähert und die Originaltexte um gemeinsam erarbeitete Passagen ergänzt. Heraus kam dabei eine eindrucksvolle Collage über Größenwahnsinn, Besessenheit und maßlose Gier. Aber auch über Respektlosigkeit gegenüber der Natur und der Hilflosigkeit gegenüber Bösen in sich selbst. 

Es ist nicht schwer zu erkennen, dass "Moby Dick" mit seiner Thematik hochaktuell ist. Naturzerstörung und Artenschutz waren 1851, als Melville seinen Roman veröffentlichte, keine vieldiskutierten Themen. Und doch beschreibt der Roman an unzähligen Stellen eben diesen respektlosen Umgang mit Natur und Tierreich - aber auch die Reaktion der Natur auf Größenwahnsinn. 

Mit der Inszenierung schont die Theatertruppe das Publikum nicht. Mit vollem Körpereinsatz und intensivem Spiel zieht das Ensemble das Publikum hinein in das wilde Leben auf einem Walfangkutter, hinauf zu rohen Schiffsleuten, die mit Messern fuchteln, dauernd raufen, Teller ablecken und Wind und Wetter unerschüttert trotzen. Hinein in eine Welt aus Hass, Gier, Rache und Maßlosigkeit.

Das Zerlegen eines Wals wird zu einem ekstatischen erotisch aufgeladenen Ereignis, bei dem die Crew in rauschhafter Lust im Ambra badet, den gelben Klumpen aus dem Darm des Wals, der als Grundstoff für Parfüm in Europa mit Gold aufgewogen wurde. Diese Gier nach Ambra wurde von Melville ironisch kommentiert: "Wer würde wohl denken, dass die feinsten Dam en und Herren sich an einem Wohlgeruch laben, den man aus den ruhmlosen Gedärmen eins kranken Pottwals holt! ..." Auch über die Tatsache, dass Walfleisch von Menschen gegessen wird, wunderte sich Melville: "Dass der Mensch das Tier auffrisst, welches für das Licht in seiner Lampe sorgt, scheint mir eine befremdliche Sache."

Inszenierung mit überwältigender Bilderkraft

Die große Kunst der Freien Bühne Wendland, eindrucksvolle Bühnenbauten ohne großes Budget bauen zu können, zeigt sich auch hier wieder. Der Theaterbus der Freien Bühne verwandelte sich - grau gestrichen und mit zahlreichen Versatzstücken eines Segelschiffes versehen - zu einem riesigen abgewrackten Walfangkutter. Ausgestattet mit professionellem Zubehör wie Mast, Seile, Rahstangen, dazu eine absenkbare, an Seilen gehängte, Bugplattform und während der Aufführung montierter Reling vergisst der Zuschauer völlig, dass da ein angemalter Bus steht. In monatelanger Arbeit hatten Arwed Wetzel, Hauke Stichling-Pehlke, Stephan Rätsch getüftelt, bis dieses grandiose Bühnenbild fertiggestellt war.

Wohl noch komplizierter war der Aufbau des "kleinen" Wals: ein alter VW (Polo?), fahrtüchtig, hinten mit einem riesigen Traktorreifen ausgestattet, ein Metallgelenk, welches hinten herausragt und an dessen Ende eine dünne Metallplatte die Flosse symbolisiert. Die Herausforderung: Das Konstrukt muss fahren, fast alle äußeren Bestandteile müssen abnehmbar sein, so dass nach der "Zerstörung" nur noch ein dürres Gerippe übrig bleibt. Für die nächste Aufführung muss der Gerät aber wieder funktionieren, alle Teile müssen wieder fest an ihren Plätzen sitzen - ohne dass stundenlange Montagearbeiten  notwendig sind.

Große Tonnen, in denen Feuer glimmte, lange Spieße (die Harpunten) und anderer Metallschrott vervollständigen das Bild einer düsteren Schicksalsgemeinschaft auf marodem Kutter in einer ungezähmten Welt mit unheimlicher Macht. 

Das Spiel: Wuchtig und dennoch leichtfüßig

Ob wuchtig derb, rauschhaft den Reizen des wertvollen Stoffs erlegen oder den schäumenden Wellen im Sturm trotzend - das Ensemble überzeugt in jeder Gefühlslage. Die Sogwirkung war in Jameln so intensiv, dass das Hühnergackern aus einem nahe gelegenen Hof wie ein surrealer Beitrag zum Stück wirkte.

Doch Leichtfüßigkeit fehlt auch nicht. Bewundernswert wie Jaco Emilio Werkhäuser mit unglaublicher Leichtigkeit vom Boden über die Schiffswand bis hoch in die Takelage klettert. Mit "affenartiger Geschwindigkeit" ist hier keine Floskel. Mit diesen akrobatischen Elementen - wie auch einer Jonglageszene zwischen zwei Crewmitgliedern - wird das nervös-vibrierende Treiben dieser dem Untergang geweihten Crew noch unterstrichen.  

Insgesamt ist "Moby Dick" ein faszinierendes Spektakel, das noch lange nachwirken wird. Und nicht nur wegen des mitreißenden Spiels und der mächtigen Bilder. Die Botschaft, wie unheilvoll sich die abgründigsten Triebe des Menschen auswirken können, wird tief haften bleiben.

Diesen Gesamteindruck können selbst zwei mit den Standardappellen der Ökobewegung (Respektlosigkeit beenden, Konsum reduzieren, Artenvielfalt erhalten usw. usw.) gefüllten "Predigten" nicht trüben, die dem Publikum die Botschaft noch einmal per Ansprache einpauken wollen.

Schade, dass das Ensemble dem Stück und der Wirkmacht der eigenen Inszenierung nicht traut.

Vom 24. Juni bis zum 13. August wird "Moby Dick" an verschiedenen Orten in der Region gespielt. Die genauen Daten und weitere Informationen gibt es auf der Website der Freien Bühne.

Fotos | Kina Becker




Fotos

2021-06-16 ; von Angelika Blank (text),
in 29479 Jameln, Deutschland

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