„Wir verstehen nicht, warum einer so etwas tut“, auch an Gartows Realschule können Schüler und Lehrer nicht verstehen, was einen Jugendlichen zum Amoklauf treibt. Doch sie fühlen sich an ihrer Schule sicher. Vertrauen und Gemeinschaftsgeist helfen bei der Bewältigung des Schocks.
Am dritten Tag nach dem furchtbaren Anschlag in Winnenden ist an der Gartower Schule kaum noch etwas von Betroffenheit zu spüren. Fröhlich rasen die Schüler zum Pausenbeginn zu ihrem – selbstorganisierten - kleinen Imbiss im Eingangsbereich. Lange Schlangen haben sich in Windeseile gebildet, während andere die schuleigenen Mäuse füttern. Überall stehen kleine Grüppchen, besprechen bei Cola und frisch belegten Brötchen Albernes und Wichtiges.
Am Donnerstag Morgen war das ein wenig anders. „Da herrschte schon ziemliche Betroffenheit“, so der kommissarische Schulleiter Gerhard Sprockhoff. „Bei den Gesprächen in den Klassen wurde deutlich, dass die Schüler überhaupt nicht nach vollziehen konnten, was einen Jugendlichen in den Amoklauf treibt. Da herrschte oft völliges Unverständnis.“ Viele Eltern waren so verunsichert, wie sie mit dem Thema umgehen sollten, dass sie sich in der Schule erkundigten bzw. darum baten, dass die Lehrer den Amoklauf im Unterricht aufgreifen.
Glaubt man den Worten von Schulleiter Sprockhoff, so fühlen sich die Schüler an der Haupt- und Realschule in Gartow so wohl, dass sie sich nicht vorstellen können, dass jemand aus ihrer Mitte sie ebenfalls derart bedrohen könnte. „Nein, wir trauen so etwas niemandem von unserer Schule zu“, war denn auch mehrfach im Pausenhof zu hören. „Wir kennen uns so gut, das können wir uns nicht vorstellen. "
Gerhard Sprockhoff denkt zwar, dass die Schule in Gartow mit ihren insgesamt 140 SchülerInnen so überschaubar ist, dass er meint, eventuelle Problemlagen rechtzeitig erkennen zu können, doch er weiß auch, „dass wir in die Köpfe nicht hinein schauen können“. Trotzdem ist er überzeugt davon – oder sollte man besser sagen, er hofft? -, dass ein Amoklauf wie in Winnenden die Gartower Schule nicht erwischen wird, denn: „Wir sind hier auf dem Land. Da kennt man sich besser als in den Großstädten, weiß mehr über einander. Viele unserer SchülerInnen wohnen im gleichen Dorf, manchmal auch zusammen mit Lehrern. Außerdem gibt es auch außerhalb der Schule viele Berührungspunkte, so dass es schnell auffällt, wenn jemand nirgendwo dazu gehört oder Probleme hat.“
Gefahr durch Anonymität?
Außerdem haben Studien ergeben, dass Schüler keine „großen Systeme wollen“. „Womöglich ist es auch die Anonymität der Menge, die nicht so offene Schüler schneller durchs Raster fallen lässt.“ Wird in Gartow denn nicht gemobbt? „Nun ja, die Schüler nennen das nicht Mobbing, sondern „ärgern, oder 'ausschließen“, aber das Wichtigste ist, sie kommen zu uns, wenn es Probleme gibt“, ist Sprockhoff überzeugt. Das Kollegium versucht, eine Kultur zu pflegen, die sowohl unter den SchülerInnen als auch zwischen Lehrern und Schülern ein gutes Vertrauensverhältnis ermöglicht. Und es scheint zu funktionieren: „Die SchülerInnnen kommen zu uns, wenn sie Probleme haben. Wir bemühen uns allerdings auch permament, ihnen zu signalisieren, dass wir gesprächsbereit sind und ein offenes Ohr für ihre Probleme und Nöte haben“, so Sprockhoff.
Ein paar Gespräche im Pausenhof scheinen das Bild einer harmonischen Schule zu bestätigen. Allerdings sind es auch hier wieder Mädchen, die neugierig sind, wer ihre Schule besucht, die sich offen und gesprächsbereit zeigen. Die 13- bis 17-jährigen Jungs schlurfen vorbei, werfen einen kurzen Blick – vor allem auf die Kamera – und geben sich ansonsten cool und unberührt.
Trotz allen Sicherheits-Glaubens denkt auch die Gartower Schule über Sicherheitsmaßnahmen nach, zumal das Landeskriminalamt (LKA) auf die Tat von Winnenden schnell reagierte und bereits am Donnerstag ein ca. 20 Seiten starkes Dossier zu „Zielgerichteter Gewalt und Amokläufen an Schulen“ an sämtliche Schulen verschickte. Darin finden Schulleiter und Pädagogen sowohl Informationen zur „Phänomenologie“ von Amokläufen als auch praktische Hinweise zur Verhinderung von Nachahmungstätern und zur gezielten Prävention von Amoktaten. In dem Papier geht auch das LKA davon aus, dass Amoktaten in der „absoluten Mehrzahl“ von männlichen Jugendlichen als Einzeltäter begangen werden, sie sollen aus unauffälligen Elternhäusern stammen und selten wegen Gewalttätigkeiten polizeilich aufgefallen sein.
Von offener Aggression zu verinnerlichten Gewaltphantasien?
Aber das LKA beschreibt auch, warum es so schwierig ist, Amokläufer im Vorfeld zu erkennen: „Sie haben selten für Außenstehende sofort erkennbare schwere psychische Störungen und sind nicht ausschließlich sozial isolierte Einzelgänger.“ Vor diesem Hintergrund klingt auch Schulleiter Sprockhoffs Satz „ich kann mich gar nicht erinnern, wann wir die letzte richtige Schlägerei hatten“, nicht wirklich beruhigend. Auch ihm ist bewusst, dass eine offen ausgetragene Schlägerei womöglich weniger gefährlich ist, als ständig mit sich geschleppte Aggressionen, die sich nur noch in stundenlangen virtuellen Schlachten oder ausgiebigen Chats am Computer äußern. In einer Welt, die vielen Erwachsenen, so eben auch Lehrern und Eltern, verschlossen bleibt. Wer kennt schon „twitter“, „kwick“, „krautchan“, oder „blog-city“?
Auch für Schulleiter Sprockhoff sind das Begriffe aus einer fremden Welt. Ganz abgesehen davon, dass die Sprache dieser Blogs (=Wortkreuzung aus Web + log (von Logbuch), ein öffentlich einsehbares Tagebuch, das auf einer Internetseite geführt wird) für Erwachsene oft den Einsatz eines Übersetzers erfordert. Hier nur ein Beispiel aus „krautchan.net“, auf dem auch Tim K. „gebloggt“ hat:
Bernd 2009-03-11 16:56:46.407474 Nr. 486229 : >warum wurde dieser beitrag von moderatoren geändert?
> shaky zerfickt amokläuferposts im akkord!
Bernd 2009-03-11 16:57:00.749904 Nr. 486231 1236782756001.png
>siehe postzeit dieses Fadens.
Bernd 2009-03-11 16:58:51.073061 Nr. 486236
>photoshop
Bernd 2009-03-11 16:59:56.642976 Nr. 486239
>Drinvor ich sehe pixel.
Bernd 2009-0>>4861793-11 17:00:47.283848 Nr. 486243
>>486236
nein GIMP
Alles verstanden? Nein? Dann geht es Ihnen so wie vielen Eltern, Lehrern oder Pädagogen, die den Zugang zur Sprache ihrer Kinder längst verloren haben. (Zum Trost: da unser Internetfachmann gerade auf Auslandsreise ist, versteht auch die Autorin den Inhalt dieses Dialogs nur in groben Zügen...) Um nach zu vollziehen, was im Internet wirklich „abgeht“, müssten viele Erwachsene einen Intensivkurs in Internetnutzung machen. Denn so manche/r 12-jährige bewegt sich im Internet derart versiert, wie es oft weder Eltern noch Lehrer können.
Doch viele Eltern möchten vielleicht auch gar nicht in den Geheimnissen ihrer Kinder wühlen. „Schließlich wollen wir das Vertrauen der Kinder ja nicht verlieren“, bezweifelt Gerhard Sprockhoff den Sinn der „Internetkontrolle“, „ich wäre jedenfalls früher wütend geworden, wenn mein Vater in meinem Tagebuch gelesen hätte“.
Die Gartower Schule setzt weiterhin auf Gesprächsoffenheit und Vertrauen, um den Aufenthaltsort Schule nicht zum Risikoort werden zu lassen. Außerdem begrüßt Gerhard Sprockhoff den Vorstoß des ehemaligen Justizministers Prof. Christian Pfeiffer, der Schulen wieder zu einem gesellschaftlich lebendigen Ort machen möchte, wo Veranstaltungen stattfinden, Sportvereine aktiv sind und auch Erwachsene sich in ihrer Freizeit treffen. Ein angenehmer Ort soll Schule wieder werden und als Mittelpunkt der Gemeinde auch außerhalb der Unterrichtszeiten vielfältig genutzt. Technische Sicherheitsmaßnahmen wie nur einseitig zu öffnende Türen werden zwar überlegt, spielen aber im Schulkonzept keine herausragende Rolle. Denn schließlich "wollen wir eine offene Schule bleiben", so Gerhard Sprockhoff.
PS: Um trotz aller Betroffenheit nicht ganz die Realität aus den Augen zu verlieren, hier ein paar Zahlen:
>seit den 60er Jahren hat es international etwa 100 sogenannte "School-Shootings" gegeben, bei denen ca. 200 Personen getötet worden sind.
>In den USA sind bisher jährlich ca. ein Prozent aller getöteten Jugendlichen durch einen Amoklauf umgekommen.
>Die Wahrscheinlichkeit, einem solchen Ereignis zum Opfer zu fallen, liegt für nordamerikanische Schüler bei etwa 1 zu 2 Millionen, was ungefähr der Wahrscheinlichkeit entspricht, bei einem Flugzeugabsturz sein Leben zu verlieren.
Quelle für das PS: NZZ online
Foto: Angelika Blank
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