Der Montagmorgen ist nur auf der Uhr als solcher zu erkennen, draußen herrscht dunkle Nacht. Ein Blick aus dem Küchenfenster erbringt – nichts. Das ist nichts Ungewöhnliches, denn vor meinem Haus sind nur Wiesen und Knicks. Normalerweise. Jetzt ist da Wasser, nur sieht man’s halt noch nicht. Dann wendet doch noch ein Bus: aha, so weit hat’s die Elbe also noch nicht geschafft!
Dann graut der Morgen – und mir auch! Das Wasser ist über Nacht mächtig gestiegen. Der kleine Haufen Tannenbäume, der eigentlich einer Feuerbestattung entgegensah, liegt schon fast im Wasser. Wird wohl eher ’ne Seebestattung. Zehn Uhr, elf Uhr, zwölf Uhr: Die Elbe kriecht höher und höher, aber von der Feuerwehr keine Spur. Hallo? Wo seid Ihr denn? Ich droh‘ hier gerade zu ertrinken, und keiner kümmert sich. Um mich abzulenken gehe ich in mein Büro und kümmere mich um meinen Kontostand. Zur Abwechslung mal Ebbe…
Dann kommt mir ein fürchterlicher Gedanke: Die machen hier gar nix! Die lassen Neu Darchau einfach untergehen! Na, klar! Lüchow-Dannenberg fusioniert demnächst mit so potenten Gegenden wie dem Landkreis Erzgebirge und dem Landkreis Birkenfeld in Rheinland-Pfalz, und die Gemeinde Neu Darchau fusioniert mit der Elbe. Finanzprobleme gelöst, und die neue Elbbrücke wird von Dahlenburg aus direkt nach Neuhaus gebaut. Eine Gedenktafel am Geländer erinnert an den untergegangenen Ort…
Es klingelt, es ist also noch Leben im Ort. Vor der Tür steht der freundliche Klempnermeister, der die bestellten Pumpen vorbeibringt. Der Chef persönlich! Und nicht nur das: Die eine Pumpe ist nagelneu, „die andere ist meine. Die leih‘ ich Ihnen so lange.“ Der Mann hat leicht reden, er kommt aus’m Binnenland. Auf der Pumpe steht „Flutbox“, und sie hat einen Anschluss für einen C-Feuerwehrschlauch.
Gegen 14 Uhr fährt schweres Gerät auf: Einer unerfindlichen Choreographie folgend, verteilen sich Feuerwehrautos, Kieslaster, Bagger und Trecker malerisch auf dem Platz vor meinem Haus. Die einen bringen Sand, der in ihrer Sprache komischerweise Kies heißt. Die anderen laden leere Sandsäcke und Palletten ab. Hat vielleicht doch nicht geklappt mit der Fusion. Hoffnung keimt in mir.
Schnell Schuhe an und raus, aber als ich auf den Platz komme, ist nur noch ein Mann auf einem Anhänger mit dem Abladen der Palletten beschäftigt. Der weiß auch nicht, wie’s weiter geht („ich bin hier nur der Fahrer“). Das Wasser ist jetzt noch rund hundert Meter von meiner Tür entfernt, die ersten Tannenbäume machen sich auf den Weg Richtung Cuxhaven.
Ich beginne mit besitztumswahrenden Maßnahmen und fahre nach Lüneburg. Die Ratten verlassen das sinkende Schiff! Mein Auto hat einen Termin in der Werkstatt, und ich soll einen Leihwagen bekommen. Nach Abgleich der Adresse sagt der Serviceleiter in väterlichem Ton: „Das Auto ist vollkaskoversichert. Machen Sie sich keine Sorgen.“ Ihr seid alle so gut zu mir…
Rückfahrt ins Frontgebiet. Beim Abstieg vom Geestrücken ins Elbetal bin ich bremsbereit, rechne jederzeit mit überfluteter Straße. Aber: nichts. Nur vor meinem Haus tobt das Leben: Scheinwerfer, Blaulicht, Dieselgeruch, Generatorlärm. Ist schon wieder November? Hubschrauber waren schließlich auch schon da.
Nein, die Feuerwehr befüllt Sandsäcke und bringt sie auf Palletten an Stellen, die noch tiefer gelegen sind als mein Haus. Ich frage, ob ich helfen soll, aber Erwin, der Feuerwehrmann winkt ab: „Is eh gleich Feierabend!“ Aber eine Wache wird doch wohl hierbleiben über Nacht? „Nee, jetzt doch noch nicht. Is doch noch gar nix los.“ Der Mann wohnt bestimmt auf’m Hügel. Vor mir liegt eine weitere einsame, dunkle Nacht voller Ungewissheit. Flut ist brutal!
Andreas Conradt berichtet täglich aus Neu Darchau über die Elbe, das Hochwasser und die Pegelstände - jedenfalls solange er nicht schippen oder pumpen muss. Alles über das Hochwasser hier!
Foto: Andreas Conradt