Keine Panik! Nur jetzt keine Panik! Es ist still im Sperrgebiet. Totenstill. Kurzer Systemcheck, noch im Liegen: Mittwochmorgen, halb sieben. Das ist normalerweise die Zeit, in der mein Haus verkehrsumtost ist. Die Fähre heult und legt donnernd an, Autos rauschen vorbei, Trecker rumpeln hin und her, Busse kommen, wenden und fahren ab, Schüler krakeelen. Und heute: Nichts! Nicht mal die Wildgänse schnattern. Hallo, lebt da noch jemand außer mir?
Diese Stille ist ja gespenstisch, also Radio an: Im Plauderton sagt die Moderateuse, dass entlang der Elbe Alarmstufe 4 und im Landkreis Lüneburg zudem der Katastrophenalarm ausgelöst wurde. Von Lüchow-Dannenberg ist nicht die Rede. Natürlich nicht!
Anruf in der Redaktion des Wendland-Net: Nein, bei uns ist kein Katastrophenalarm. Neu Darchau liegt im Grenzgebiet beider Landkreise. Hat irgendjemand der Elbe mitgeteilt, ab wo sie Katastrophe machen darf? Und was, bitteschön, heißt Alarmstufe 4? Klar bei Tauchretter? Alle Mann in die Boote? Frauen und Kinder zuerst?
Nur jetzt keine Panik! Routinierter Blick aus dem Küchenfenster: Kaum Anstieg des Wassers über Nacht, mein Deich räkelt sich arbeitslos auf dem Buswendeplatz. Auch die Kellerräume sind trocken, Spinnen und Asseln wohlauf. So weit alles in bester Ordnung. Weder Alarm noch Katastrophe.
Um halb acht rückt die Baukolonne an und beginnt, meinen Deich zu bearbeiten. Okay, sie machen ihn hübsch, sie machen ihn glatt, aber – er wird dadurch auch viel niedriger! Ich bin versucht, das Fenster aufzureißen und den Gelbhelmen zuzurufen: „He, machen Se meinen Deich nich kaputt! Ein paar Meter weiter ist Katastrophe!“ Aber ich habe gelernt, den Jungs zu vertrauen. Die machen das ja nicht zum ersten Mal!
Über Tag treffen die ersten Mitleidsbekundungen per E-Mail ein. Besorgte Nachfragen von Freunden („Alles in Ordnung bei dir?“), Hilfsangebote („Ich hab‘ noch zwei Pumpen“) und Ausweichempfehlungen (Betreff: trocken Bettchen). Valium bietet keiner an. Gegen Abend meldet sich meine Mutter auf dem Handy, will sich erkundigen, wie es um mich steht. Ich denke noch „rührend“, da piept es drei Mal, und das Handy ist tot. Akku leer. Na, ob das zur Beruhigung beiträgt?
Am Nachmittag ist mein Deich komplett fertig: lückenlos verdichtet, glattgestrichen und poliert. Er sieht prächtig aus und bereitet sich auf seinen Einsatz vor. Die Herren Baggerfahrer ziehen ab, und das Sperrgebiet ist nun nur noch von Schaulustigen bevölkert. Jetzt kann man nur noch warten.
Ich ziehe es vor, selbst einen Ausflug zu machen: Die Brücke über den Mühlenbach zwischen Neu Darchau und Katemin ist gesperrt, dort ist das Technische Hilfswerk im Einsatz. Das Wasser des Bachs staut sich, weil es nicht in die Elbe abfließen kann, und droht, die Mühle untergehen zu lassen.
Gestern stand ich noch ehrfürchtig vor der Leistung von Feuerwehr (rot) und Bauarbeitern (gelb), aber das hier haut mich um: Die Mädels (ja!) und Jungs vom THW (blau) haben mal eben den Bachlauf mit den größten Sandsäcken aller Zeiten dicht gemacht, damit er, gedrängt von der Elbe, nicht rückwärts fließen kann. Weil der Bach selbst ja aber auch Wasser führt, das eigentlich in die Elbe soll, haben die Mädels und Jungs ’ne Wasserbrücke aus drei der größten Schläuche aller Zeiten über die Straße gelegt und befördern mit den drei größten Pumpen aller Zeiten das Wasser Richtung Elbe. Huch, das heißt ja auch: in meine Richtung! Na, da wird mein Deich wohl doch noch was zu tun bekommen. Vielleicht schon morgen. Und dank all meiner Retter ganz bestimmt ohne Alarm und Katastrophe.
Andreas Conradt berichtet täglich aus Neu Darchau - jedenfalls solange er nicht schippen oder pumpen muss. Alles über das Hochwasser hier!
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Fotos: Andreas Conradt