In Zernien entsteht ein Pflegehof, in dem die Bedürfnisse von dementen Menschen im Vordergrund stehen und nicht die Gewinnmaximierung eines Gesundheitsunternehmens. Träger der selbstbestimmten Pflege-Wohngemeinschaft wird eine Genossenschaft sein.
Holger Hasse ist die Frustration heute noch anzumerken, wenn er über seine Erfahrungen bei der Suche nach einer Unterbringungsmöglichkeit für seine demente Mutter spricht. „Das war regelrechter Horror“, erinnert sich der Ingenieur. „In keiner ‚Einrichtung‘ hatte ich den Eindruck, dass Menschen mit Demenz dort gut betreut sind“.
Denn demente Menschen brauchen eine andere Betreuung als "normale" Pflegebedürftige. Zum Beispiel muss ein/e Demente/r nicht unbedingt gewaschen und angezogen werden, sondern braucht lediglich Unterstützung dabei. Durch die geistige Einschränkung geht das aber vermutlich nicht so schnell. In vielen konventionellen Senioreneinrichtungen mit ihren durchgetakteten Pflegezeiten ein No Go. Überhaupt werden Eigenaktivitäten von BewohnerInnen als zusätzlicher Stress wahrgenommen, da die festgelegten Arbeitsabläufe nicht eingehalten werden können.
EIN ZUHAUSE SCHAFFEN - KEINE HEIMUNTERBRINGUNG
Dann entdeckte Hasse eine Pflege-Wohngemeinschaft, die funktionierte: Ohne Heimcharakter und mit weitgehender Selbstbestimmung der BewohnerInnen. Keine standardisierten Zimmer, keine durchgeregelten Tagesabläufe. „Dort habe ich kein Seniorenheim erlebt, sondern ein richtiges Zuhause“, erinnert sich Hasse. In diesen selbstbestimmten Wohngemeinschaften wird ein ganz anderes Pflegekonzept angewandt: Hier geht es um die Ermöglichung eines normalen Alltags – mit so viel Unterstützung wie der einzelne Mensch benötigt. In einem Umfeld, das ein Zuhausegefühl möglich macht.
Wie Holger Hasse bei seinen Recherchen erfuhr, sind die Zuzahlungen für eine solche Wohngemeinschaft etwa vergleichbar mit denen für die Unterbringung in einer „normalen“ Senioreneinrichtung – und das bei meist höherer Pflegequalität. Finanziert wird eine solche Pflege-WG u.a. aus den Pflegegeldern der BewohnerInnen.
In Zusammenarbeit mit der Angehörigen-Gemeinschaft entstehen Synergieeffekte, die eine zentrale Leitung nicht mehr nötig machen. Die medizinischen Leistungen werden von externen Pflegediensten oder Ärzten erbracht. Das vermeidet eine Einstufung als Heim mit all den strengen Regelungen, die das Heimaufenthaltsgesetz vorschreibt.
„Ich habe in den selbstbestimmten Wohngemeinschaften erlebt, dass nicht nur die BewohnerInnen wesentlich entspannter, aktiver und weniger aggressiv waren als in den „üblichen“ Senioreneinrichtungen, sondern auch das Personal entspannter arbeitete“, so Hasse. In Gesprächen mit Angestellten konnte Hasse sich davon überzeugen, wie wohl sie sich in einer solchen Wohngemeinschaft fühlen. Bei der Frage, ob jemand in ein übliches Heim wechseln möchte, bekam er nur ein vehementes „Nein“ zu hören.
Warum funktioniert das in konventionellen Senioreneinrichtungen nicht? Hoher Renditedruck ist hier ein wesentlicher Faktor bei der Finanzierung, davon ist nicht nur Holger Hasse überzeugt. Und da übliche Altenheime unter das Heimgesetz fallen, müssen zahlreiche, streng geregelte Vorgaben eingehalten werden, nicht nur was Hygiene und Dokumentationspflichten angeht.
Die Folge: Hoher Stress bei den Angestellten, knapp bemessene Zuwendungszeiten für die BewohnerInnen und strikte Zeiten für Frühstück, Abendessen etc., die keine individuelle Anpassung zulassen. Der enorme Druck führt beim Personal zu hohen Krankenständen. Permanente Unterbesetzung verschärft das Problem zusätzlich.
BETREUUNG MIT NATUR UND TIEREN
Für Holger Hasse war schon beim Kennenlernen der selbstbestimmten Pflege-WGs klar: Von solchen Modellen muss es mehr geben. Vor 1 ½ Jahren lernte er dann die Gesundheitsökonomin Katharina Rosteius, ihren Lebenspartner, den Betriebswirt Jan Adams sowie den Architekten Oliver Czaia kennen. Alle waren von der Idee „angefixt“, einen Pflegehof aufzubauen. Seitdem arbeiten die Vier gemeinsam an der Umsetzung ihres Plans. Ein circa zwei Hektar großes Grundstück fand sich in Zernien und wurde bereits reserviert.
Nach dem Vorbild von „Green Care Farms“ soll dort am Rande des Ortes ein Pflegehof mit vier Wohngemeinschaften zu jeweils 12 Personen eingerichtet werden. Eingerahmt werden die Gebäude nicht mit Zäunen, sondern mit Tiergehegen und Gartenteilen. So können sich die BewohnerInnen innerhalb des Geländes frei bewegen und – je nach Interesse - bei Tier- und Gartenpflege aktiv werden.
Für jede Wohngemeinschaft wird es eine „ManagerIn“ geben, die die BewohnerInnen unterstützt. „Sie sollen so viel wie möglich selbst erledigen können“, sagt Jan Adams. „Dazu gehören auch Kochen und andere Haushaltstätigkeiten“. Aus anderen Pflege-Wohngemeinschaften wurde das Modell der Angehörigengemeinschaft übernommen. Diese entscheidet über die Angelegenheiten, die das Ganze betreffen.
Träger des Pflegehofs wird eine Genossenschaft. Das Gründungsverfahren beim zuständigen Prüfverband ist eingeleitet. Die InitiatorInnen kalkulieren, dass Planung und Bau rund 9 Millionen Euro kosten werden. Neben einer Bankfinanzierung soll dies durch die MitgliederInnen der Genossenschaft realisiert werden. Die InitiatorInnen sind derzeit aktiv auf der Suche nach UnterstützerInnen.
STAND DER DINGE
Ein zwei Hektar großes Grundstück am Rande Zerniens wurde reserviert. Gekauft wird es im Laufe des Bebauungsplanverfahrens. Der Gemeinderat Zernien hat hierzu bereits notwendige Beschlüsse gefasst. Das Team rechnet damit, dass es bis zum Abschluss des Verfahrens noch etwa ein Jahr dauern wird.
Am 24. November, 18 Uhr, ist eine Informationsveranstaltung über die Initiative in der Gaststätte „Deutsche Eiche“ in Zernien geplant.
Mehr Informationen über Konzept und Planungsstand gibt es auf der Internetseite der Initiative Pflegehof.
Foto | Angelika Blank: Jan Adams und seine MitstreiterInnen tun alles dafür, dass auf diesem Acker in Zernien in rund zwei Jahren mehrere selbstbestimmte Pflege-Wohngemeinschaften eingerichtet sind.