Leserbriefe erheitern, freuen, ärgern, fordern zur Gegenschrift heraus - und sind neben den Traueranzeigen für jede Tageszeitung das Salz in der täglichen Nachrichten-Suppe. Soziologe Dr. Thomas Ferdinand Krauß hat sich mit der Botschaft von (manchen) Leserbriefen beschäftigt.
Gelegentlich fragen mich Bekannte, ob ich diesen oder jenen kenne und was das denn für einer sei. Dabei geht es meist um gewisse Leserbriefschreiber, die in regelmäßigen Abständen die kurzfristige Aufmerksamkeit im Landkreis erringen und mit ihren skurrilen Thesen allgemeines Kopfschütteln auslösen. Ich sage dann wahrheitsgemäß: „Nein, den kenne ich nicht persönlich“. Manchmal frage ich zurück, ob der Fragende denn seinerseits jenen kennt, der ein paar Dörfer weiter, elbabwärts, ebenfalls in großer Regelmäßigkeit mit gar kuriosen Welterkenntnissen aufwartet, oder diesen aus der Kreisstadt, der nicht müde wird, seine Kübel voll Ressentiment auf den politischen Gegner auszuleeren.
Natürlich beeilt sich die Elbe-Jeetzel-Zeitung, die so etwas recht häufig druckt, darauf hinzuweisen, daß Leserbriefe allein die Meinung des Verfassers wiedergeben. Leserbriefe sind der Beleg für das in unserer demokratisch verfaßten Gesellschaft hochgeachtete Gut der freien Meinungsäußerung. Sie bezeugen die Freiheit, die es den Schreibern erlaubt, ihre Meinungen in aller Öffentlichkeit auszubreiten. Dessen ungeachtet haben die freien Meinungen aber auch einen Gehalt, oder sollten dies zumindest, und sind nicht nur Dokument ihres freizügigen Daseins. Sie wollen etwas sagen, eine Botschaft „rüberbringen“. Das heißt: mit ihren Bekundungen betreten sie das nicht ganz unkomplizierte Feld der Kommunikation.
„Alles Verhalten hat Mitteilungscharakter“, sagt der Systemiker Paul Watzlawick. Und weil man sich nicht nicht-verhalten kann, kann man auch nicht nicht-kommunizieren – wer nichts sagt, sagt auch etwas. Dies ist das erste Axiom der Kommunikationstheorie: Man kann nicht nicht-kommunizieren. Kommunikation ist unhintergehbar, sie findet immer und überall statt, gewollt und ungewollt, beabsichtigt und unbeabsichtigt – vor allem auch in Leserbriefen. Der Leserbriefschreiber mit seinem intentionalen, seiner selbst bewußten Verhalten müßte eigentlich wissen, daß er einen Akt der Kommunikation vollführt. Warum sonst sollte er sich an tausende – wenn auch anonym bleibende – Adressaten wenden?
Jedem Wissen über sein eigenes Verhalten steht allerdings ein Nicht-Wissen gegenüber. Diesen „blinden Fleck“, der einem selbst unbekannt ist, sehen und erkennen aber die anderen, zumal, wenn man sich so abenteuerlich in der Öffentlichkeit bewegt, wie es manche Leserbriefverfasser tun.
Der untergründige Sachverhalt läßt sich mit den mittlerweile gängigen Erkenntnissen über das Wesen der Kommunikation recht gut erhellen. Wer kommuniziert, meint zuallererst, seine Botschaften seien zuvörderst die Inhalte: Politik, Umwelt, Glaubensfragen, moralisch-ethische Bedenken, wissenschaftliche oder persönliche Erkenntnisse über kommunale oder weltbewegende Ereignisse. Hauptsächlich geht es in den Leserbriefen, die Kopfschütteln hervorrufen, um felsenfeste Überzeugungen von der Richtigkeit oder Falschheit bestimmter Sachverhalte.
Nun belehrt uns die Kommunikationstheorie darüber, daß wir dabei gelegentlich nicht wissen, was wir hier so ungebremst tun: Wir senden nämlich Botschaften auf mindestens vier Ebenen, von denen die explizit geäußerte inhaltlich-sachliche Ebene nur die eine, und oft die unbedeutendste ist. Neben dem, was wir der Sache nach zu sagen meinen, sagen wir stets auch etwas über uns selbst. Das ist die Ebene der Ich-Aussage. Des weiteren sagen wir immer auch etwas über unser Verhältnis zum Adressaten. Das ist die Beziehungsebene der Kommunikation. Und schließlich senden wir Botschaften immer auch auf der Ebene des Appells, indem wir den Angesprochenen zu etwas bewegen wollen; meist wollen wir, daß er zustimmt und unsere Aussagen für richtg hält. Seltener oder fast nie wollen wir, daß er uns aufgrund unserer Äußerungen für nicht zurechnungsfähig hält.
Bei manchen Leserbriefen scheint es so zu sein, daß ihre Verfasser nicht wirklich davon ausgehen, daß hunderte oder tausende Menschen mitkriegen, was sie da äußern. Vor allem scheint manchem Leserbriefschreiber nicht klar zu sein, daß er mehr über sich und sein Verhältnis zur Welt und zu anderen Menschen ausplaudert, als ihm lieb sein kann. Aber was tut er da eigentlich kund? Das Problem ist: Nicht nur er weiß es nicht, wir, die Adressaten, wissen es auch nicht! Jedenfalls nicht genau, und deshalb interpretieren wir die Sache. Das hat mit der Sender-Empfänger-Struktur der Kommunikation zu tun. Jedem Sender steht mindestens ein (und bei Leserbriefen eine große Zahl) Empfänger gegenüber, die die Botschaft zu ihrem persönlichen inneren Verständnis umarbeiten müssen. Da aber die kommunizierten Schichten unterhalb der Inhaltsebene meist nicht ausdrücklich geäußert werden, sondern unbewußt mitlaufen, ist der Empfänger der vier Botschaften nachgerade gezwungen, sie deutend zu erschließen.
Alle vier Ebenen, die Ebene des inhaltlich Gesagten, die Ebene der Ich-Aussage, die Ebene der Beziehunsgsgestaltung und die Ebene des Appells, werden unvermeidlich und gleichzeitig kommuniziert. Man kann es nicht vermeiden, gleichzeitig etwas über sich mitzuteilen; man kann es nicht vermeiden, gleichzeitig etwas darüber mitzuteilen, wie man dem anderen begegnet und man kann es nicht vermeiden, Stimmungs- oder Handlungsappelle zu senden. Hinzu kommt, und das macht Kommunikation gelegentlich so kompliziert: Die vier Botschaften werden immer vom anderen mit dessen vier Empfänger-Ohren entgegengenommen, wobei die mitschwingenden ungenauen, stimmungsgefärbten, nonverbalen Kommunikationselemente unterhalb des beabsichtigt Gesagten gegenüber dem ausdrücklich Geäußerten oftmals bedeutsamer sind. Watzlawick geht sogar davon aus, daß sie es immer sind!
Wenn also bestimmte Leserbriefe mit verärgertem oder irritiertem Kopfschütteln quittiert werden oder man anfängt, sich über den Verfasser lustig zu machen, dann geschieht dies vor allem auf dem Hintergrund einer Deutung ihrer in ihrem Text sonst noch mitschwingenden Botschaften, die, weil sie so „laut“ sind, das explizit Geschriebene in den Hintergrund gedrängt haben. Daß der Empfänger auf den Sender dabei lediglich auf dem Boden seines eigenen Hinein- oder Herausgehörten reagiert, ist an sich nichts Skandalöses. Immer schon reagieren wir auf vermeintlich Kommuniziertes kraft unserer subjektiven Zutat des „Verstehens“. Womit sonst als mit unserem höchstpersönlichen Sensorium sollten wir es denn tun? Es geht auch gar nicht anders, weil derjenige, der uns da etwas kommuniziert, in aller Regel keine Gebrauchsanweisung mitliefert, wie er sich verstanden wissen will – zumal er dies meist selbst gar nicht so genau weiß, sonst würde er sich die mitlaufenden Aussagen, vor allem die über sich selbst, wenn nicht verkneifen, dann zumindest weitaus bewußter steuern.
Zwar nicht präzise, aber bei weitem nicht so ungesteuert, wie man annehmen möchte, spielen sich die Deutungen der mitlaufenden Botschaften bei den Empfängern ab. Sie verlaufen im Gegenteil sogar eher homogen. Das hat seine Ursache darin, daß Mitglieder ein und derselben Kultur an gemeinsamen Tiefenstrukturen des kollektiven Unbewußten teilhaben, die sie dazu befähigt, einander annähernd auch auf jenen „unterirdischen“ Ebenen zu verstehen, die Kommunikation überhaupt erst möglich machen.
Aus bahnbrechenden sozialwissenschaftlichen Forschungsergebnissen weiß man seit mehr als 60 Jahren, daß unterhalb bestimmter Aussage- und Denkformen bestimmte Persönlichkeitsmerkmale wirksam sind. Beispielsweise ist vom Denken in hierarchischen Dimensionen und von der übertriebenen Zurschaustellung von Stärke und Robustheit – überhaupt von Kraftmeiereien und Feindseligkeiten – auf Züge des „autoritären Charakters“ zu schließen, die sich durch Diffamierung des Menschlichen und potentiell antidemokratische Tendenzen auszeichnen. Die Abwehr des Kreativen, Phantasievollen und Sensiblen sowie die Disposition, in starren Kategorien zu denken, entlarvt solche Charakterstrukturen in ihrem rigiden Wesen. Zusammen mit ebenso Halt gebenden wie festgefahrenen Feindbildern schützen sie davor, dahinterliegende, unbewußte Ängste wahrnehmen zu müssen, die nicht ins Selbstbild passen, deshalb aggressiv verleugnet werden und so ins Gegenteil kippen und zu Gewaltbereitschaft führen.
Unbewußtes erkennt Unbewußtes umstandslos“, lautet eine psychoanalytische Erkenntnis über die Kommunikation der Psychen. Weil alle Menschen ein Unbewußtes haben, das kulturell und sozial vorstrukturiert ist, erspüren sie ganz selbstverständlich die unter der Botschaft wirkenden Persönlichkeitsanteile, weil auch sie zutiefst unbewußt wahrnehmen, was hier skurril oder bedrohlich erscheint. Man nennt das Intuition. Auch das Skurrile und das Bedrohliche gehören zum gemeinsamen soziokulturellen Erbe, und deshalb ist das Befremdliche daran nicht fremd, sondern auf unangenehme Weise bekannt.
Auf diese, nicht auf die vordergründigen Inhalte einer kommunizierten Botschaft, reagiert man mit Kopfschütteln oder Zorn oder Belustigung. Der Kreis schließt sich: Die mehr oder weniger unbewußte Reaktion der Abwehr seitens der Leserinnen und Leser korrespondiert mit den tendenziell kommunikationsfeindlichen Botschaften, die solche Leserbriefe zwischen den Zeilen transportieren.
Bei den skurrilen Leserbriefen, die die Landkreiszeitung abdruckt, beschleicht einen zuweilen ein Gefühl von Peinlichkeit oder Mitgefühl. Man selbst würde so in aller Öffentlichkeit nicht vorgeführt werden wollen. Man wäre vielleicht eher dankbar, hätte man im persönlichen Umfeld jemanden, der einen, wenn auch schmerzhaft, darauf hinwiese, daß man sich aufgrund der kommunikativ mitlaufenden Botschaften, die von den Rezipienten entschlüsselt werden könnten, zum Gegenstand wildwüchsiger Küchenpsychologie macht und gerade das nicht erreicht, was man will: ernstgenommen und auf gewisse Weise als interessanter Zeitgenosse anerkannt zu werden.
Letztendlich geht jeder, der etwas bestimmtes äußert, in seinem Alltagsverständnis davon aus, daß er diesen Inhalt und nichts anderes meint. Nimmt man dieses naive kommunikative Selbstverständnis ernst und bleibt allein bei der Inhaltsebene, so folgt dennoch unvermeidlich, daß die Empfänger der Botschaft die innere Logik des Gesagten und dessen kommunikative Qualität intuitiv überprüfen und logische Brüche oder andere Irrationalismen registrieren.
Bleiben wir bei der Sache, über die in Leserbriefen geschrieben wird, und lassen die psychosoziale Dimension außer acht, so steht fest, daß Aussagesätze über Sachverhalte nur dann zustimmungsfähig sind, wenn ihnen ein bestimmtes Maß an Vernünftigkeit innewohnt. Mit Sachaussagen betreten wir das Feld der Rationalität, die diesseits der Kommunikationspsychologie ihre eigenen Maßstäbe hat. Nun könnte man sagen: „Halt! Hier handelt es sich doch bloß um Meinungen und nicht um ernstzunehmende Aussagen über die Wirklichkeit!“
Theodor W. Adorno, der große Philosoph des letzten Jahrhunderts, hat in seinen Erörterungen über „Meinung, Wahn, Gesellschaft“ (1961) herausgearbeitet, daß Meinungen zufällig und beliebig sind, bloß subjektive Setzungen, von begründeten Urteilen und rationalen Einsichten weit entfernt. Aber, so seine Anmerkung, in den bloß subjektiven Überzeugungen verberge sich zumeist das dumpf Opportune, und deshalb bleibe es selten bei bloß harmlosen Meinungen. Daß einmal festgesetzte Meinungen eine starke Resistenzkraft gegen Argumente haben, kommt aus ihrer Funktion: „Sie bietet Erklärungen an, durch die man die widerspruchsvolle Wirklichkeit widerspruchslos ordnen kann, ohne sich groß dabei anzustrengen. Hinzu kommt die narzißtische Befriedigung [...], indem sie die Anhänger darin bestärkt, sie hätten es immer gewußt und gehören zu den Wissenden.
Das Selbstvertrauen der unentwegt Meinenden fühlt sich gefeit gegen jedes abweichende konträre Urteil.“ Das Problem ist, daß die Leserbriefschreiber ihre festgesetzten Meinungen nicht als beliebige Ansichtssachen feilbieten sondern als gehaltvolle Aussagen über die Realität. Sie wollen, daß man sich mit ihnen auseinandersetzt. Um sich nicht in die Gefahr zu begeben, fälschlich psychologisiert zu werden, müßten sich also Leserbriefaussagen in ihren Inhalten der Kommunikationsform des Begründens und Argumentierens bedienen und auf fragwürdige Behauptungssätze verzichten. Überhaupt müßte man das Ineinssetzen von bloßer Behauptung („Isso!“) und überprüfbarer Wahrheit aufgeben, um ernstgenommen werden zu können. Wer das Feld der Sachaussagen betritt, bewegt sich auf der Folie der Rationalität, das heißt des Verstandes, des analytischen Denkvermögens, der Urteilskraft und des Wirklichkeitssinnes. Sachaussagen dürften sich eher neutral, von Emotionen ungetrübt, also „objektiv“ darstellen. Zur inneren Logik der Sach-Ebene gehört, daß man mit guten Gründen arbeitet. Gute Gründe fußen auf einer gemeinsamen, von allen Menschen geteilten Logik, sie sind rekonstruierbar, nachvollziehbar und daher potentiell akzeptierbar. Nur was begründungsfähig ist, ist zustimmungsfähig. Wo man argumentativ kommuniziert, gilt der „zwanglose Zwang“ des besseren Arguments (Jürgen Habermas).
Die der rationalen Kommunikation zugrundeliegende unvermeidliche Beziehungskonstellation ist die der wechselseitigen Anerkennung des Anderen als rationalen Menschen: Bei allen Beteiligten gibt es zwangsläufig, schon immer und unvermeidlich die wechselseitige Unterstellung von Zurechnungsfähigkeit. Diese notwendig wechselseitige Rationalitätsunterstellung beinhaltet, daß die Beteiligten davon ausgehen können müssen, daß bei ihrem Gegenüber das Prinzip der Nicht-Manipulativi-tät gilt: es wird Wahrheit gesprochen und nicht gelogen; es gilt unabdingbar der hohe Wert der Verbindlichkeit und Wahrhaftigkeit (das Angekündigte tritt auf der Handlungsebene auch wirklich ein, das Gesagte ist auch wirklich so gemeint!).
Diese beiden wechselseitigen Unterstellungen, die von Zurechnungsfähigkeit und von Nicht-Manipulativität regeln idealtypisch das gesellschaftliche Handeln unter erwachsenen, autonomen Rechtssubjekten. In der rationalen Kommunikation schließen wir den Vertrag, uns selbst und gegenseitig ernstzunehmen – sonst hätte Kommunikation überhaupt keinen Sinn. Eine Verletzung dieser Norm hat offene oder indirekte Sanktionen zur Folge. Die maximale Sanktion ist der Ausschluß aus der Gemeinschaft der Teilnehmer am kommunikativen Geschehen.
Automatisch schließt sich der, der das Prinzip der Verbindlichkeit und der Zurechnungsfähigkeit verletzt, selbst aus. Er macht sich unglaubwürdig oder zum Gespött. Jedenfalls gilt er nicht länger als gleichberechtigtes Subjekt des Kommunikationszusammenhangs; allenfalls wird er als Objekt von Kommunikation behandelt (man redet nicht mehr mit ihm sondern über ihn). Auch hier schließt sich der Kreis: Wer auf der Inhaltsebene die Regeln argumentativer Rede verletzt, verstärkt damit automatisch die mitschwingenden Botschaften, die dann zum eigentlichen Gegenstand der Betrachtung werden.
Da es sich bei Leserbriefinhalten, die besagtes Kopfschütteln hervorrufen, im weitesten Sinne um politische Inhalte handelt, erscheint es umso unverständlicher, daß sie die Leserinnen und Leser, die sie doch anscheinend überzeugen wollen, nicht nur nicht mitnehmen sondern sogar überwiegend abstoßen – eine doppelte Botschaft, ein gleichzeitiges „Komm her – geh’ weg!“
Diese doppelten Botschaften finden vor allem auf den drei Ebenen unterhalb der inhaltlichen Kommunikation, also zwischen den Zeilen statt. Die Adressaten sehen sich verführt, mit emotionalen Irritationen zu reagieren, so verquirlt ist das Ganze. Auf der Ebene der Ich-Aussage wird mitgeteilt: „Ich sehe das, was du nicht siehst! Ich erkenne, was die Großkopferten machen, als Lug und Trug! Ich habe mich auf die großen, weltbewegenden Themen kapriziert. Mir kann keiner was vormachen! Ich habe den Durchblick!“ Gleichzeitig wird unterschwellig etwas ganz anderes mitgeteilt: „Ich bin allein. Niemand hört mir zu! Niemand sieht die Dinge richtig (nämlich so wie ich). Ich dringe nicht durch (deshalb muß ich mich ständig wiederholen)! Ich bin voller Wut und Ärger über die, die uns manipulieren und etwas Schlimmes antun!“
Auf der Beziehungsebene lautet die Botschaft: „Ich bin okay, du bist es nicht!“ Und: „Ihr, Leserinnen und Leser, die Ihr von mir die Wahrheit mit meinen eindringlichen Worten erst eingebläut bekommen müßt, Ihr versteht es einfach nicht!“ Oder: „Wer ins Visier meines Durchblicks gerät, den mach’ ich fertig!“
Auf der Ebene des Appells entspricht die Botschaft diesem: „Kommt alle her! Lest mich! Immer wieder habe ich Euch Wichtiges zu sagen, deshalb schreibe ich auch immer wieder dasselbe! Laßt Euch nicht von der Politik (des Gegners) verarschen! Hört auf mich! Nehmt mich doch endlich ernst!“ Gleichzeitig unterschwellig: „Vorsicht! In meiner Verärgerung über dies und jenes verliere ich jeglichen Anstand und jegliche Beherrschung, also nehmt Euch vor mir in acht!“
Das sagen skurrile Leserbriefe natürlich keinesfalls explizit, noch weniger beabsichtigen sie dies – aber das Kopfschütteln, das sie ernten, reagiert nicht auf das, was intendiert wird, sondern auf das, was sich untergründig aufdrängt.
Eine gravierende doppelte Botschaft in der freien Meinungsäußerung ist es, wenn dieses höchste Gut der demokratisch verfaßten Gesellschaft mißbraucht wird, indem man es zur Befriedigung persönlicher Bedürftigkeiten oder zur Diffamierung anderer benutzt. Es kann nicht sein, auch nicht in einer ländlichen Zeitung, daß der politische Gegner oder eine Gruppe, die partikulare Interessen Einzelner im Namen der Allgemeinheit in Frage stellt, öffentlich herabgewürdigt und dieses Desaster dann als „freie Meinungsäußerung“ geadelt wird. Daß hohe Politiker, insbesondere in Wahlkampfzeiten, wie die Kesselflicker aufeinander einprügeln und dabei die gesellschaftliche Moral und die allgemeine Kommunikationskultur nachhaltig beschädigen, ist schlimm genug – aber die Damen und Herren in den Talkshows brauchen das wahrscheinlich, weil sie aufgrund ihrer mittlerweile eingespielten Gemeinsamkeiten kein eigenes Profil mehr aufweisen. Sie bedienen sich des sozialpsychologischen Mechanismus’ der Eigengruppen-Fremdgruppen-Antipathie und machen damit gleichermaßen Anhänger wie Opponenten zu Objekten ihrer manipulativen Techniken. Kein Wunder, wenn die Bevölkerung „draußen im Lande“, vor allem die einfache Frau und der einfache Mann auf dem Land, von solcher Niveaulosigkeit angesteckt wird. Daß aber die Medien die Kameras draufhalten (und die Leserbriefseiten offenbar ebenso interessiert scheinen), wo Gezänk statt Argumentation den Verkauf zu steigern verspricht, ist schamlos. Es treibt die gesellschaftliche Verwahrlosung voran. Verantwortlich verhielten sich die Verbreiter der veröffentlichten Meinung, wenn sie den kommunikativen Zerfallserscheinungen entgegenwirkten und, wie Reich-Ranicki es forderte, endlich Kultur und Aufklärung lieferten.
Ein Phänomen der Gegenwartsgesellschaft, das deshalb so besonders entsetzlich ist, weil es kaum noch Entsetzen hervorruft, ist die Zunahme von Gewaltbereitschaft. Sie wird von den Medien verbreitet, um sodann von der Gewerkschaft der Polizei und dem Papst beklagt zu werden. Gewaltbereitschaft beginnt bereits bei den Denkformen und bei deren kommunikativem Ausdruck. Wer in Schwarz-weiß-Schemata denkt, kann nicht die Güte eines ihm unpassenden Arguments abwägen, geschweige denn würdigen. Resultat ist, daß, insbesondere vor laufenden Kameras – und damit vor einem Millio-nenpublikum – nur noch Polemik und so gut wie nie Argumentation zählt. Man zielt Siege an, will dem Kontrahenten Niederlagen bereiten. In aller Regel werden die mundtot gemacht, die ein paar Sätze mehr brauchen, um einen komplexen Sachverhalt auszubreiten. Man quatscht ihm einfach dazwischen – und das Publikum applaudiert. Nirgends geht es in der öffentlichen Arena noch um verständigungsorientiertes Handeln, wie es der Sinn von Kommunikation doch ist. Es geht um den Kampf um den besseren Platz im demoskopiegesteuerten Rating der Selbstdarsteller.
Bald die Hälfte der Bevölkerung wendet sich mittlerweile von diesen unappetitlichen Zurschaustellungen angewidert ab. In den skurrilen Leserbriefen wiederholt sich im Kleinen genau das Dilemma derjenigen, die mit ihrem polternden Auftritt ein geneigtes Publikum anlocken zu können meinen: Je mehr sie sich zum Gespött machen, desto heftiger versprühen sie das aggressive Gift, das die Bereitschaft zur kommunikativen Verständigung abtötet.
Dabei gehen gerade die gedanklichen Positionen, die von ihrem Gehalt her hoch interessant sein könnten, im Abwasserkanal verloren. Alles, was den politischen Mainstream aufstören und mit kritischem Denken vertieft werden könnte, ist für die Demokratie lebensnotwendig und gehört zu ihren wertvollsten Elementen. Das war der Sinn freier Meinungsäußerung: daß man gerade mit erst einmal abwegig erscheinenden Ideen und Erkenntnissen Widerspruch gegen die Zusammenballung von Macht und Einfluß leisten kann, und daß die Idee zur positiven Gewalt wird, wenn sie viele ergreift.
Wer also mit einer „abwegigen“ Idee die Menschen ernsthaft erreichen will, um damit die Politikerkaste in Verlegenheit zu bringen oder in den trägen Gang der Ereignisse verändernd einzugreifen, kommt nicht umhin, um rational motivierte Zustimmung zu werben. Er muß das Interesse an einer vernunftgeleiteten Auseinandersetzung wecken und darf infolgedessen keinesfalls mit den Mitteln der Polemik und der Emotionalisierung operieren. Im Gegenteil: die emotionalen und polemischen Ausbrüche, die öffentliche Diffamierung, die Beleidigung derer, die nicht zur eigenen Gruppe gehören, und die Unbeweisbarkeit von Behauptungen sind es, die das potentielle Publikum abstoßen. Allenfalls verfestigen solche Leserbriefe die insgeheime Befürchtung, die sie bereits unterschwellig transportieren: daß man mit einer Meinung, die die Mehrheit „auf dem falschen Dampfer“ sieht, keine Anhänger finden wird. Und deshalb gebärden sie sich immer wütender. Eine „sich selbst erfüllende Prophezeiung“ nennt das die Kommunikationstheorie.
Wahrlich keine Anhänger (außer die in der eigenen Gruppe) finden solche, die immer schon erkennen lassen, daß sie alles besser wissen und deshalb eigentlich auch gar nicht zu kommunizieren bräuchten. Und damit keine Gefahr einer kommunikativen Auseinandersetzung aufkommt, schlägt man erst mal um sich, um seine Stärke zu demonstrieren: viel Feind, viel Ehr’. Die Stärke dessen, der richtig liegt, besteht dann darin, daß er seine fiktiven Widersacher, die mit ihm persönlich eigentlich gar nichts zu tun haben, erst einmal verunglimpft. Der übliche Weg ist hier entweder die Infantilisierung, die Kri-minalisierung oder die Psychiatrisierung des Gegners („verzogene Kinder“, „Störer der Ordnung & Terroristen“, „gefährliche Irre“). Das funktionierte immer schon: Wer anders denkt, als ich es für richtig halte, wird der Abartigkeit bezichtigt: die, die „nicht richtig ticken“ und es verdienen, als das bezeichnet zu werden, was sie sind: Spinner, Piepmatzideologen, Umweltfaschisten, Terroristen...
Eine jede dieser Beschimpfung weist freilich auf den zurück, der sie äußert. Welche immense Wut, welche Verachtung, welche Gewalttätigkeit steckt in dieser Sprache! Aber nicht nur hier. Selbst vergleichsweise entfernt von dem, was sich am Rande der Volksverhetzung befindet, tummelt sich ein scheußliches Wort, das die Leserbriefrunde in Sachen Gegnerdiffamierung gemacht hat. Das ist „der Gutmensch“.
Süffisant erhebt sich das Wort über all jene, die es, im Gegensatz zum „richtigen“ Bewußtsein, einfach nicht begriffen haben. Als Gutmenschen werden die diffamiert, denen unterstellt wird, sie sähen sich als die besseren, weil sie gegen die schlechte Realität aufbegehren. „Wie naiv und anmaßend die doch sind!“, klingt es aus dem Sarkasmus und beißenden Spott heraus, den der unerschütterliche Realist über sie ergießt. Unterstellt wird, daß die „Gutmenschen“ sich mit ihrem Veränderungswillen über die stellen, die sich der normativen Kraft des Faktischen unterworfen haben. Und das muß natürlich gerade gerückt werden. Auch diese feindselige Karikatur des naiven Weltverbesserers schlägt auf den Spötter zurück: Indem er den „Gutmenschen“ als Spinner dastehen läßt, stellt er sich mit seinem ostentativen Realismus über ihn und erstrahlt unweigerlich als der bessere. Noch besser als der „Gutmensch“ ist der, der sich mit dem gesunden Menschenverstand und den harten Fakten ineins weiß und sich damit sozusagen zum Bessermenschen stilisiert. Freilich zum bescheidenen. Indem er der Realität tapfer ins Auge sieht, dient er sich der Mehrheit an, die sich mit den schlechten Verhältnissen identifiziert, weil sie sich ihnen um ihres kleinen ökonomischen Vorteils willen unterworfen hat.
Gefährlich wird es für den Leserbriefschreiber und Gutmenschendiffamierer nur, wenn er seinerseits auf Veränderungen der Realität hinauswill, und von seinem Meinungsstammtisch aus jene in seinen Kreis der Terroristen, Spinner und Gutmenschen einreiht, die von der Mehrheit – sei’s, demokratisch gewählt worden, sei’s als kompetente Wissenschaftler oder philosophische Wegweiser – anerkannt sind. Dann nämlich erkennen die, denen die Leserbriefe gelten, daß sie selbst ins Fadenkreuz der aggressiven Attacken geraten werden, wenn sie na-iv bei ihren Überzeugungen bleiben und nicht sich der Realitätssicht des Gutmenschendiffamierers überantworten.
Abermals schließt sich der Kreis. Wem bestimmte Leserbriefe aufstoßen, die oder der reagiert eher auf die Mentalität des Verfassers als auf dessen verfaßte Einsicht in die Realität, die sich in den Verunglimpfungen und „Kampfansagen“ offenbaren.
Zu wünschen wäre, daß die Leserbriefseite der Landkreiszeitung das Recht auf Meinungsfreiheit darin untermauert, daß sie Meinungen, die erkennen lassen, daß sie andere Meinungen nicht gelten lassen, und daß sie Meinungen, die die Vertreter anderer Meinungen entwerten und beleidigen, nicht das prominente Forum einräumen, das ihnen bislang unhinterfragt eine öffentliche Plattform gewährt.
Dr. phil. Thomas Ferdinand Krauß, Soziologe (M. A.), ist seit mehr als 25 Jahren Paar- und Familientherapeut, lebt in Schnackenburg, arbeitet hauptsächlich als Coach und Kommunikationstrainer von Führungskräften und Supervisor in Psychiatrischen und Sucht-Kliniken. Im Herbst 2009 erscheint sein neues Buch „Liebe über Alles – Alles über Liebe“ im „Psychosozial-Verlag“.