Der Landkreis hat 127 Millionen Euro Schulden. Das Land Niedersachsen ist bereit, drei Viertel der Schulden der Kommunen und des Kreises zu übernehmen. Dies ist ein Angebot, das nicht abgelehnt werden kann. Schuldenlast und Zinspflichten schnüren den kommunalen Verwaltungen sonst den Atem ab. ... findet Albrecht von Sydow.
Voraussetzung für die Entschuldung ist entweder eine Reform der Verwaltungsstruktur, d.h. Fusionen der Samtgemeinden und/oder Fusion des Landkreises mit Lüneburg (und evtl. Uelzen), oder es muß plausibel dargestellt werden, daß Kommunen und Landkreis künftig mit ausgeglichenem Haushalt, also ohne neue Schulden auskommen.
Wenn man sich umhört, scheint alles auf eine Fusion des Landkreises mit Lüneburg hinauszulaufen. Auch wenn die meisten Kommunalpolitiker einer solchen Entwicklung skeptisch gegenüberstehen, sieht man keinen anderen Ausweg.
Das ist allen bekannt. Aber geht es wirklich darum, dem Landkreis und den Kommunen zu helfen? Geht es wirklich darum, die Verwaltungen sparsamer und effizienter zu machen, so daß sie bürgerfreundlicher sind?
Gibt es keine Alternativen?
Ich werfe mal einen sehr oberflächlichen Blick auf die Vor- und Nachteile einer Fusion auf Landkreisebene, auf die wir vermeintlich unweigerlich zusteuern.
Der einzige (für mich) erkennbare Vorteil einer Fusion wäre, daß durch die Zusammenlegung von Teilen der Verwaltung Geld gespart werden könnte. Ob das aber realistisch ist? Vielleicht erweist sich der Versuch, auf diese Weise Geld einzusparen, als Schildbürgerstreich? Wir wissen, daß zentralistische Strukturen zu mehr Verwaltungsakten führen. Derzeit haben viele Kommunalpolitiker und Unternehmer Ansprechpartner in der Kreisverwaltung, zu denen ein persönliches Vertrauensverhältnis besteht. Deswegen werden Auskünfte häufig informell gegeben und Anfragen auf einem vergleichsweise kurzen Dienstweg erledigt. Wenn diese persönlichen Beziehungen wegfallen, erhöht das den bürokratischen Aufwand. Dieser Mehraufwand steht den avisierten Einsparungen entgegen und übersteigt sie vielleicht sogar.
Nachteile einer Fusion
Erstens leben im Landkreis Lüneburg 134 Menschen pro Quadratkilometer, insgesamt 180 Tausend. In unserem aber nur 40/km2, insgesamt 50 Tausend, d.h. 22% der Bevölkerung eines mit Lüneburg fusionierten Kreises (16% eines Großkreises mit Uelzen). Wichtige Verteilungsfragen im Rahmen von Wirtschaftsförderprogrammen werden aber auf Kreisebene entschieden. Wer wäre so naiv zu glauben, daß wir von den Kuchenstücken künftig noch etwas abbekämen? Insbesondere mit dem Wissen, daß unterschiedliche Bevölkerungsdichten auch völlig unterschiedliche strukturelle Defizite und Bedürfnisse haben?
Derzeit machen Renate Ortmanns-Möller in der Kreisverwaltung und die kreiseigene Wirtschaftsförderung einen wunderbaren Job, Fördermittel ins Wendland zu holen. Wenn diese und alles, was sie leisten, wegfallen, verlieren wir sehr viel, was in unseren kommunalen Haushalten gar nicht unmittelbar auftaucht. Die Effekte ihrer Arbeit wirken sich vielleicht relativ schnell in Arbeitsplätzen, aber nur indirekt und langfristig auf steigende Gewerbesteuern etc. aus.
Zweitens verlängern sich die Anfahrtswege unzumutbar. Daß Menschen aus Schnackenburg, Holtorf, Gummern und Kapern künftig mehr als eine Stunde Autofahrt rechnen müssen, um die Kreisverwaltung zu erreichen, bzw. einen noch viel absurderen Aufwand betreiben, wenn sie auf öffentliche Verkehrsmittel zugreifen müssen, ist schlicht abartig - mir fällt kein besseres Wort dazu ein. Auf der Ebene der menschlichen Bedürfnisse lassen sich natürlich zahlreiche weitere Nachteile anführen. Wer will glauben, daß eine Lüneburger Kreisverwaltung ihre Aufgabenbereiche Sozialfürsorge, weiterführende Schulen, öffentlicher Nahverkehr, Bauwesen, Kreisstraßen etc. wirklich mit Blick auf die im Wendland völlig anders gearteten Bedingungen und Bedürfnisse ausrichtet? Muß man nicht viel eher davon ausgehen, daß sie ihr ganzes Augenmerk auf die Bedürfnisse reicher Speckgürtel-Hamburger legt, von denen unverhältnismäßig viel mehr Steuereinnahmen zu erwarten sind?
Und wie steht es mit der regionalen Identität?
Und drittens verlieren wir unsere regionale Identität. Dafür kann man sich vielleicht nichts kaufen. Aber der politischen Identität des Wendlands verdankt Deutschland möglicherweise den Atomausstieg. Das mag abgehoben klingen, aber ich finde diesen Zusammenhang nicht abwegig. Es sind ja nicht nur die Menschen gewesen, die auf die Straße gegangen sind und protestiert haben. Sondern auch unsere Kreispolitiker aus allen politischen Lagern haben auf Landesebene in Sachen Atom- und Endlagerpolitik immer wieder gegen den Strich ihrer eigenen Parteien gebürstet.
Das Wendland war wirtschaftlich betrachtet in Niedersachsen vielleicht immer nur unbedeutender Blinddarm. Aber politisch waren wir immer ein sehr sichtbarer, ein sehr unbequemer und ein sehr widerborstiger Bremsklotz in diesem Systemgetriebe, das ohne uns in Gorleben schon lange ein Endlager für Atommüll in Betrieb genommen hätte. Und wir alle wissen, daß das Fehlen eines solchen Endlagers ein entscheidendes Argument für den Atomausstieg war.
(Randnotiz: Wenn die Wendländer als Belohnung für ihre 30jährigen Anstrengungen auch nur 1% dessen erhalten würde, was Deutschland in Folge des Atomausstiegs einspart, dann könnte sich der Kreis das Erheben von Steuern künftig sparen und die Dörfer pflastern mit Kitas, Grundschulen, Bürgerbüros und Bushaltestellen mit komfortablen Fahrplänen).
Worum geht’s bei der Landkreisfusion eigentlich?
Die Nachteile sind so eindeutig, daß es offensichtlich nicht darum geht, etwas für die Menschen zu tun. Aber worum geht’s denn dann? Selbst wenn man keinem Einzelnen Vorsatz unterstellen will, wird man das Gefühl nicht los, daß die herrschende (finanz-)kapitalistische Systemlogik uns als späte Strafe dafür, daß wir uns quergestellt haben, jetzt unsere regionale Identität wegnehmen will.
Ich höre schon das Gegenargument, daß die Identität der Wendländer unabhängig sei von Verwaltungsstrukturen. Aber genau das stelle ich in Frage. Natürlich wird sich das Identitätsgefühl nicht von einem Tag auf den anderen verändern. Aber nach einigen Jahren schon. Und es ist auch völlig verständlich, wenn die Menschen in Hitzacker oder Clenze sich in einem fusionierten Landkreis politisch und wirtschaftlich anders ausrichten als bisher. Schon jetzt ist es ja so, daß die Samtgemeinden nicht in allen Fragen an einem Strang ziehen. In einem fusionierten Großkreis würden sie sich in dem einen oder anderen Fall auch gegeneinander ausspielen lassen.
Und auch die Planvariante, die Samtgemeinden zu einer Großsamtgemeinde zu fusionieren, auf die ein Teil der Kreisverwaltungsaufgaben übertragen werden könnte, würde nur Symptome kaschieren. Der Sichtbarkeits- und Bedeutungsverlust, den die Region erleidet, wenn wir im politischen System eine Hierarchiestufe runtergeschubst werden, führt früher oder später auch zu einem Identitätsverlust. Wenn man in zehn Jahren in den Landkreis fährt, dann fährt man halt nach Lüneburg. Oder in die Peripherie von Lüneburg. Oder in die Peripherie der Peripherie. Aber nicht mehr ins Wendland.
Gibt es einen Ausweg?
Genug der Rummoserei. Gibt es einen Ausweg? Haben unsere gewählten kommunalen Politiker in den Samtgemeinden und im Kreis nicht alle Möglichkeiten ausgelotet? Ich kann diese Frage nicht beurteilen, aber mein Eindruck ist, daß wirklich sehr große Anstrengungen unternommen wurden, diese Fusion zu vermeiden. Und daß schlicht der Punkt erreicht ist, wo der Landrat und die anderen gewählten Vertreter keine realistische Alternative sehen.
Hier lohnt es sich vielleicht zu erwähnen, daß es sich bei dem weitaus größten Teil der Ausgaben der Samtgemeinden und des Landkreises um Pflichtaufgaben handelt. Also um Aufgaben, die gesetzlich wahrgenommen werden müssen. Hier haben die Politiker kaum Handlungsspielraum. Ausnahme ist das Schulwesen. Wie sinnvoll es aber wäre, in unserem Landkreis am Schulwesen zu sparen, mag jeder selbst beurteilen. Eine gute Schulsituation ist ein Hauptargument für junge Familien, die in den Landkreis ziehen wollen. Hier darf nicht gekürzt werden. Es spricht wirklich Bände, daß nach unendlichen Sitzungen und Diskussionen die einzige gangbare – vom Landrat vorgeschlagene – Möglichkeit, den Haushalt zu entlasten, darin besteht, 5 Blitzer aufzustellen.
Also, wenn man sich die verschiedenen gemachten Vorschläge anschaut, wenn man sich mit dem einen oder anderen Kommunalpolitiker unterhält, gewinnt man den Eindruck, daß hier wirklich nach bestem Wissen und Gewissen und sehr ernsthaft versucht wurde, Alternativen zu suchen. Aber daß die Handlungsmöglichkeiten der Politik schlicht ausgeschöpft sind. Und daß unser ziemlich großer Schuldenberg in Kombination mit Gesetzen, die unserer Verwaltung die Hände binden, zu einem Sachzwang führt, der in den Augen eines pragmatischen Politikers nur in eine Richtung führen kann: Fusion der Landkreise.
Wieviel ist den BürgerInnen der Erhalt des Landkreises wert?
Ist das aber wirklich alles? Nur weil Politikern keine Handlungsalternativen offenstehen, muß das Gleiche auch für uns Bürgerinnen und Bürger gelten? Werden wir jetzt alle zu Lüneburgern? Kann es wirklich sein, daß ein Defizit von 5 Millionen pro Jahr (100€/Einwohner, bzw. 8€ monatlich) ausreicht, um uns jeder Freiheit zu berauben, selbst darüber zu bestimmen, wie unser Bau- und Straßenwesen, wie die Schulen und die Versorgung der sozial Schwächeren verwaltet werden?
Das Wendland ist in der Lage, einmal im Jahr 20,000 Menschen beim Castor Transport mit Essen und Schlafplätzen zu versorgen. Wir sind in der Lage 20,000 Polizisten zu beschäftigen und Castor-Transportkosten von 33,5 Millionen Euro zu verursachen. Wir organisieren Sternfahrten nach Berlin, 600 Trecker beteiligen sich an Blockaden, wir haben rund um den Widerstand die kulturell bunteste und vielfältigste Region Deutschlands geschaffen. Alles freiwillig, alles grass-roots organisiert, alles ehrenamtlich, alles gemeinnützig.
Mir erscheint es geradezu abwegig, daß Menschen, die in der Lage sind, so gewaltige Leistungen für das Gemeinwohl über einen so langen Zeitraum zu erbringen, es nicht schaffen sollten, sich erfolgreich gegen diese absurde Fusion zu stemmen.
Was können BürgerInnen tun?
Was können wir tun? Demonstrieren hilft nicht - weil die Politiker keine andere Wahl haben. Wir müssen ins positive, ins konstruktive Handeln kommen. Hier ein paar Ideen:
1. Idee: Die Finanzinformationen, die eine bürokratische Verwaltung zur Verfügung stellt, sind unzureichend (auch wenn sie weiß Gott sehr detailliert und umfangreich sind). Ich vermute, daß es viele Menschen im Landkreis gibt, die das Schul- und Sozialwesen gerne ehrenamtlich unterstützen würden. Aber die Buchhaltung der Samtgemeinden unterscheidet meines Wissens nicht sauber genug zwischen Kostenstellen und Kostenarten. Deswegen kann man gar nicht beurteilen, an welchen Stellen durch ehrenamtliche Beiträge wie viel eingespart werden könnte. Es gibt genügend Betriebswirte und Unternehmensberater im Landkreis, um die Finanzinformationen so aufzubereiten, daß viel effektiver und mit viel spitzerem Bleistift ehrenamtliche Tätigkeiten kostensparend einbezogen werden könnten. Ich selbst wäre gerne bereit, mehrere Stunden meiner Zeit pro Woche zu spenden, wenn sich eine Gruppe von Gleichgesinnten fände, mit der man dieses Projekt in Angriff nehmen könnte.
Als Folge aus dieser Idee könnte eine Börse entstehen für Tätigkeiten, die über Hausaufgabenbetreuung und Fahrdienste bis zu Hausmeisterarbeiten in öffentlichen Gebäuden reichen, um nur einige zu nennen. Auf dieser Börse würde der öffentliche Bedarf mit engagierten Bürgerinnen und Bürgern vernetzt werden.
2. Idee: Fast fünfzig Prozent des Kreishaushalts entfallen auf “Sachaufwand Soziales”. Damit sind Unterstützungsleistungen für sozial Schwächere gemeint. Wir sollten uns in den Gemeinden und einzelnen Straßen von Gemeinden zusammensetzen und ernsthaft mit unseren Nachbarn darüber sprechen und nachdenken, ob wir nicht Möglichkeiten finden, Sozialhilfeempfänger in unserer direkten Nachbarschaft in unsere Alltage zu integrieren. Ob wir es nicht schaffen, brachliegende Talente und Kompetenzen zu fördern und ihnen ökonomisch Geltung zu verschaffen. Wenn nur zehn Prozent der Sozialhilfeempfänger über solch nachbarschaftliches Engagement wirtschaftlich wieder autark würden, würde das nach meiner Rechnung alleine ausreichen, um das Defizit auszugleichen. Katharina Abelmann und Manfred Geldmacher aus Gartow haben hierzu sehr spannende Gedanken entwickelt.
Im Rahmen der Vereinsarbeit von Wendepunktzukunft planen wir, sowohl Workshops zum Thema “Community Organizing” anzubieten als auch Unterstützung bei der Organisation von Wohnzimmerparlamenten, in denen solche Themen entwickelt werden könnten.
3. Idee: Alle Kommunikation/Anträge etc. zwischen Bürgerinnen und Bürgern und Verwaltung sollte online erfolgen können. Wenn sich in jedem Dorf ein oder mehrere Freiwillige finden, die einmal (oder mehrmals) im Monat ihren Computer und Hilfestellung anbieten, damit ihre Nicht-Internet affinen Nachbarn Anträge ausfüllen und stellen können, könnten sowohl für die Verwaltung als auch für Bürgerinnen und Bürger Kosten eingespart werden.
4. Idee: Die Entwickler von Infrastrukturprojekten wie Windparks könnten unterstützt werden, wenn sie einen Teil der Projekte offenen Bürger-Fonds anbieten, aus denen wiederum ein Beitrag geleistet werden könnte zum weiteren Schuldenabbau der Kommunen. Ich könnte mir vorstellen, daß Fried von Bernstorff z.B., der überlegt im Gartower Wald einen Windpark zu bauen, aufgeschlossen wäre für eine solche Idee.
Ich glaube, daß es nur an uns liegen kann, ob wir kreispolitisch autark bleiben oder nicht. Wir müssen nur laut und deutlich sagen, daß wir das wollen, und dem auch Taten folgen lassen. Jeder wie und wo er kann. So wie beim Castor.
Es gibt aber nur noch wenig Zeit (bis März 2013 muß alles in trockenen Tüchern sein). Folgende Schritte wären zu tun:
1. Schritt: Laute Überzeugungsarbeit der kommunalen Politiker, sich zwecks Entschuldung lieber für die scharfen und schmerzhaften Einsparungen zu entscheiden, als für die Fusion. Laut heißt, daß weite Teile der Bevölkerung sich dieser Überzeugungsarbeit anschließen.
2. Schritt: Lokale Grasswurzelanstrengungen in allen Gemeinden, diese Einsparungen durch ehrenamtliche Tätigkeit zu kompensieren. Nur dann verstehen und glauben die kommunalen Politiker, daß die Selbständigkeit des Kreises eine Zukunft hat. Ich glaube sogar, daß hieraus eine Entwicklung möglich ist, die uns alle deutlich reicher macht.
3. Schritt: Bindender Vertrag zwischen den Gemeinden und dem Kreis, daß künftige Neuverschuldungen ausgeschlossen werden, weil wir nie wieder in diese Situation kommen wollen.
Ich halte es für gut möglich, daß ich diesen offenen Brief in großer Naivität und Ahnungslosigkeit geschrieben habe. Ich weiß auch, daß viele Fusionsbefürworter argumentieren, daß man nur die Wahl hätte, die Fusion selbst zu gestalten, oder aber vom Land zwangsfusioniert zu werden. Wenn aber breite Teile der Bevölkerung Anstrengungen unternehmen, die Autarkie des Kreises zu erhalten, dann möchte ich den Politiker sehen, der einen Ort lebendigen Bürgerengagements zwangsweise auflöst.
Ich hoffe und es fühlt sich für mich so an, daß diese existentielle Krise des Landkreises vielleicht eine große Chance bedeuten kann. Eine Chance, daß Bürgerinnen und Bürger selbst bestimmen, welche Gemeingüter von wem und auf welcher Hierarchieebene am besten erarbeitet und beschützt werden. Daß wir uns endgültig verabschieden von der entmündigten Obrigkeitshörigkeit und selbst die Dinge so gestalten, wie sie vernünftigerweise gestaltet werden müßten.
Für eine (schulden-)freie Republik Wendland!