Seit über acht Wochen gilt für Behinderten-Wohnheime die gleiche Regel wie für Alten- und Pflegeheime: sie dürfen keinen Besuch empfangen. Für Eltern wie Bewohner eine unerträgliche Situation.
Wenn Marion (Name geändert) ihren behinderten Sohn im heilpädagogischen Wohnheim in Schnega besuchen will, dann konnte sie wochenlang mit ihm nur durch die geschlossene Scheibe des Büros oder über die Außenpforte sprechen. Jan (Name geändert) sollte im Gelände bleiben. Direkte Begegnungen waren bis zum 20. Mai nicht erlaubt.
Nicht nur für Jan waren die vergangenen Wochen eine Pein. Auch Marion litt unter der Situation. "Es war kaum zu ertragen, dass ich mit meinem Sohn nur durchs Fenster oder über die Außenpforte sprechen konnte." Dabei gehört Jan zu keiner Risikogruppe.
Denn betreten durfte sie das Grundstück des Wohnheims nicht. Lediglich
das Verwaltungsgebäude durfte sie betreten, um mit der Heimleitung
bestimmte Dinge zu klären. Ihr Sohn hatte schnell raus, dass er seine
Mutter durch die Fenster des Büros sehen kann. Bei unserem Besuch
wanderte er deshalb von
Fenster zu Fenster, um Kontakt zu seiner Mutter aufzunehmen, die im Büro gerade Unterlagen durchsah.
Die Selbständigkeit ist dahin
Auch eine andere Mutter findet die für Behinderte ebenso scharfen Beschränkungen wie für Bewohner von Alten- und Pflegeheimen unerträglich. "Unser Sohn war vor Corona jede Woche mehrmals in Salzwedel im Streichelzoo und hat da Kontakte gepflegt," berichtet sie. "Er war alle vier Wochen für ein Wochenende hier bei uns, hat hier viel Anregung und Bewegung gehabt. Und er war auch selbständig einkaufen. Nichts davon geht aktuell."
Auch dieser 38-jährige Mann gehört zu keiner Risikogruppe, geschweige denn ist er infiziert. Eine Kommunikation per Videochat ist mühsam, da es an dem Wohnort der Mutter keine schnelle Internetverbindung gibt - und das Heim nicht über WLAN verfügt. "Inzwischen deuten sich psychische und gesundheitliche Probleme an," so die Mutter.
Dabei sind die Bewohner des Domänenparks noch in einer vergleichsweise komfortablen Situation. Das Gelände der Wohneinrichtung ist rund 12 000 qm groß, es gibt einen Garten und Tiere. Und im Haus stehen insgesamt rund 800 qm zur Verfügung.
Gespräche durch die Milchglasscheibe
Nach der neuen Regelung, die seit Mittwoch gilt, dürfen die beiden Mütter ihre Söhne einmal in der Woche besuchen. Aber es gibt Vorschriften: Bewohner und Besucher dürfen sich nur an einem Tisch gegenübersitzen, der in der Mitte mit einer Plastikscheibe getrennt ist. "Da Plexiglasscheiben in der benötigten Größe derzeit nur mit langen Lieferzeiten oder zu horrenden Preisen zu haben sind, mussten wir uns mit einer leicht milchigen Kunststoffplatte zufrieden geben," bedauert Heimleiter Andree Dombrowski. Die Folge: Mutter und Sohn können sich nur leicht verschwommen sehen.
Essen und Trinken ist während des Besuchs verboten. Und beim Überreichen von Geschenken sollten "Situationen vermieden werden, in denen die Abstandsregel nicht mehr eingehalten oder ein Hand-Gesichtskontakt gefördert wird." (Zitat Verordnung) .
Nur zur Erinnerung: wir reden hier über Erwachsene, deren Hauptprobleme daraus bestehen, dass sie sich oft nicht richtig artikulieren können bzw. ihre geistigen Fähigkeiten beschränkt sind.
Außerdem müssen sich die Angehörigen entscheiden, wer besuchen geht. Denn für die Besuche ist nur eine feste Person erlaubt, die auch nicht wechseln darf.
Vor und nach jedem Besuch muss der gesamte Besuchsplatz desinfiziert werden. Jeder Besuch muss dokumentiert werden (mit Besucher- und Bewohnername, Telefonnummer, Besuchsdatum, Symptomstatus und Kontakten sowie Besuchsbeginn und Ende). Wer die Registrierung verweigert, darf das Gelände nicht betreten.
Die Unterlagen müssen drei Wochen aufbewahrt - und dann vernichtet werden. Für diese zusätzlichen Arbeiten gibt es kein Extrapersonal. "Das wuppen die Angestellten, die sowieso da sind," so der Heimleiter. Es bezahlt ihm auch niemand den Ausdruck von jeweils 19 Seiten Hygieneplan, den er jedem Besucher in die Hand drücken muss. Den Erhalt dieses Papiers müssen die Besucher quittieren.
Marion kann ihren Sohn jetzt zwar regelmäßig besuchen, aber ist sie mit der neuen Regelung zufrieden? "Das ist ein
kleiner Fortschritt, aber völlig unbefriedigend. Mein Sohn gehört zu keiner Risikogruppe, also warum diese Beschränkungen?"
Im Dickicht der Verordnungen
Heimleiter Dombrowski bestätigt, dass nur ein Teil der Bewohner zu einer Risikogruppe gehört. Bisher hat es auch nicht einen Infiziertenfall in seinem Haus gegeben. "Theoretisch könnten die Bewohner das Gelände auch verlassen," so der Heimleiter. "Aber da wir nicht kontrollieren können, ob sie 'draußen' Kontakte zu nicht im Heim wohnenden Menschen hatten, müssten wir sie nach der Rückkehr 14 Tage lang in Isolation halten." Bedeutet also in der Realität: der Weg geht nur bis zum Zaun.
Dass die vorgeschriebene Isolation bei geistig Behinderten kaum bis gar nicht umsetzbar ist, zeigt ein Fall, mit dem Dombrowski sich vor einiger Zeit auseinandersetzen musste. Ein 20-jähriger Bewohner kam von einer Spezialbehandlung in einem Krankenhaus zurück. Der an frühkindlichem Autismus leidende, schwerst Gehandicapte, sollte dann nach den allgemeinen Regeln für Krankenhausrückkehrer 14 Tage in Isolation gehen.
"Dieser junge Mann gehört zu keiner Risikogruppe," so Dombrowski. "Aber er ist außerordentlich nähebedürftig und wandert gern im Gelände herum. Wie sollen wir einem schwerst Gehandicapten klarmachen, dass er sein Zimmer nicht verlassen darf? Da hätten wir ihn einsperren müssen." Was nach geltender Gesetzeslage ohne Gerichtsbeschluss nicht erlaubt ist.
Doch weder das Gesundheitssamt noch der zuständige Betreuungsrichter sahen einen Grund zum Einsperren. Dementsprechend verweigerte da Gericht denn auch die Genehmigung zu dieser freiheitsentziehenden Maßnahme.
Das hiesige Gesundheitsamt hatte auch keinen Rat, wie mit der Situation umzugehen sei. "Eine vergleichbare Anfrage haben wir bisher nicht bekommn," hieß es dort laut Dombrowski. "Aber Sie müssen das durchführen."
Dann suchte der Heimleiter Rat beim Landesgesundheitsamt. Dort stieß er zwar auf freundliches Entgegenkommen, aber in der Sache gab es auch hier keine Lösung.
Ergebnis des Gesprächs: die körperliche Versorgung hat mit
Vollschutz (inkl. Schutzanzug, -schuhen und medizinischen
Atemschutzmasken) zu erfolgen. "Außerhalb dieser Versorgung war der
junge Mann dann wieder auf den Fluren unterwegs und umarmte alle, die
er wollte," berichtete Dombrowski.
Der Heimleiter versucht gesetzeskonform zu arbeiten, hat inzwischen die 24. Ergänzung des internen Hygienkonzeptes den jeweils geltenden Verordnungen angepasst. Die Hygieneregeln im Haus werden strikt eingehalten. Ein interner Qualitätsmanager ist für Überwachung der Regeleinhaltung zuständig.
Aber insgesamt entsteht der Eindruck: 100%ig gesetzeskonform zu arbeiten geht in einer Behinderteneinrichtung nicht - oder nur mit freiheitsentziehenden Maßnahmen, die mit einer Inhaftierung vergleichbar sind.
Der Heimleiter fühlt sich mit all diesen Problemen allein gelassen. "Bei den verschiedenen Verordnungen wurde und wird nicht berücksichtigt, dass Behinderte nach anderen Spielregeln leben als Bewohner eines Alten- oder Pflegeheims," so Dombrowski. "Doch alle Versuche, z.B. über unseren Verband, eine bessere Lösung für Behindertenwohnheime zu erreichen, schlugen fehl." Oft kamen nicht einmal Reaktionen auf seine Initiativen.
Ein anderes Zeichen der gesellschaftlichen bzw. staatlichen Ignoranz ist für Dombrowski auch, dass die Behindertenheime ihre Schutzgeräte und -hilfsmittel selbst bezahlen müssen. "Den Alten- und Pflegeheimen wird das kostenlos zur Verfügung gestellt."
Besonders ärglich ist für den Heimleiter, dass sein Personal keinen Bonus bekommen wird sowie Alten- und Pflegekräfte. "Unsere Mitarbeiter leisten mindestens ebenso viel wie die Mitarbeiter in Senioreneinrichtungen," so Dombrowski. "Es ist völlig unverständlich, warum sie diesen finanziellen Bonus nicht erhalten.
"Diese Art Menschen gehört nicht in die Mitte des Dorfes"
Dombrowski hat sich über die staatliche Missachtung nicht sonderlich gewundert, hat er doch hautnah die Erfahrung gemacht, dass Behinderte in dieser Gesellschaft immer noch skeptisch beäugt und potenziell für gefährlich gehalten werden.
"Wir wollten in einem Dorf der Umgebung ein weiteres Wohnheim aufmachen," erzählt Dombrowski. "Doch wie die Haltung der Dorfbewohner zu Behinderten ist, machte nicht nur der vehemente Widerstand deutlich, sondern ein Satz, der im Zuge der Auseinandersetzungen fiel: "Diese Art Menschen gehört nicht in die Mitte des Dorfes." Die Pläne, in diesem Dorf ein weiteres Behindertenwohnheim zu errichten, wurden aufgegeben.
Immerhin ein Positives hat die Corona-Situation, wie Heimleiter Dombrowski berichtet. Der Zusammenhalt unter den Bewohnern ist gewachsen, seitdem sie eingesperrt sind.
Foto | Angelika Blank