Hier der zweite Teil der Rede von Sylvia Kotting-Uhl anlässlich des (am Montag) stattfindenden Fachgesprächs zum Thema "Lagerung von Atommüll" der Grünen-Bundestagsfraktion.
Die Debatte ist nicht abgeschlossen
Es liegt auf der Hand, dass angesichts der international unterschiedlichen Vorstellungen über die Endlagerung des Atommülls die Debatte um die optimale Endlagerung der hochradioaktiven Atomabfälle nicht abgeschlossen ist.
Der EU-Energie-Kommissar Günter Oettinger macht sich neuerdings für rückholbare Endlagerung von Atommüll stark. Dazu müssten die Endlager zugänglich sein. "Ein Endlager, wie ich es mir vorstelle, ist eine Tiefgarage", sagte er laut Medienberichten Ende November in Brüssel.
Rückenwind erhielten die Befürworter der Rückholbarkeit auch durch die Ereignisse in der Asse und in Morsleben. In beiden sind Wasserzuflüsse und Instabilitäten des gesamten Bauwerks bekannt geworden, die die Konstrukteure zuvor immer ausgeschlossen hatten. Nicht nur die FDP in Niedersachsen, auch viele Grüne halten es inzwischen für sicherer, die Lagerstätte für einen langen Zeitraum offen zu halten und zu überwachen, um unvorhergesehene Entwicklungen beherrschen zu können.
Die wichtigsten Argumente für einen baldigen Verschluss:
Die der Atomkraft kritisch gegenüberstehenden Wissenschaftler und Fachleute, die sich über einen längeren Zeitraum mit Fragen der Endlagerung beschäftigen, lassen sich in Deutschland an wenigen Händen abzählen. Unter ihnen plädieren die meisten für die baldige Endlagerung und gegen eine dauerhaft rückholbare Lagerung des Atommülls.
Hauptargumente sind:
- Die Sicherheit eines Endlagers sei auf lange Sicht am besten gewährleistet, wenn es in tiefen geologischen Formationen durch mehrere Barrieren von der Biosphäre abgeschottet und unzugänglich gestaltet sei. Nur ein solches Lager biete "passiven" Schutz, ohne menschliche Überwachungs- und Wartungsmaßnahmen. Durch das Verfüllen der Hohlräume wird die Gebirgsstabilität erhöht und die Gefahr vermindert, dass durch Verformungen unerwünschte Wasserwegbarkeiten entstehen. Beim Verschließen der Kammern werden gleichzeitig technische Dämme eingebaut, die die Wahrscheinlichkeit von Kontakten zwischen Müll und Flüssigkeiten gegenüber einem offengehaltenen System weiter verringern. Durch das Verschließen werde also ein sicherer Zustand hergestellt als durch das Offenhalten, das Verformungsrisiken nicht begegne.
- Das Offenhalten zugunsten einer potentiellen Rückholung der Abfälle bedeute auch, dass Schächte und Verbindungswege zwischen Atommüll und Biosphäre in Kauf genommen werden. Solche Schächte durchlöchern das Gebirgsgestein und schaffen zusätzliche Unsicherheiten.
- Wenn eine geologische Formation mit sehr weitgehender Stabilität gefunden werde, seien Entwicklungen der natürlichen Barriere relativ gut prognostizierbar. In tiefen geologischen Formationen spielen klimatische und andere natürliche Veränderungen im oberflächennahen Bereich (z.B. Erosion) nur eine geringe Rolle. Der Stofftransport findet generell mit zunehmender Tiefe langsamer statt. Einen Kontakt der Abfälle mit Grundwasser und damit der Transport von Radionukliden könne man zwar generell nie ausschließen, die Fließgeschwindigkeiten von Flüssigkeiten sind im tiefen Untergrund aber sehr gering.
- Es sei unmöglich, eine ausreichende Überwachung über die gigantischen Zeiträume zu gewährleisten, über die der Atommüll von der Biosphäre abgeschottet werden muss. Eine Überwachung sei bestenfalls für einige Jahrhunderte denkbar, nicht aber über 1 Million Jahre. Gerade in der Anfangsphase sei aber am wenigsten mit unvorhersehbaren Änderungen des Systemverhaltens zu rechnen. Für die natürliche Barriere könnten zuverlässige Prognosen immerhin für einen Zeitraum von 10000 Jahren abgegeben werden. Ob sich über einen solchen Zeitraum ein Überwachungsbetrieb organisieren lasse, sei dagegen völlig unvorhersehbar. Nicht nur für die menschliche Gesellschaft, sondern auch für das Klima und Entwicklungen in der Biosphäre sind über einen solchen Zeitraum kaum Aussagen mit einer entsprechenden Genauigkeit machbar. Die Sicherheit sei bei einem passiv sicheren System auch dann besser gewährleistet, wenn in fernerer Zukunft durch gesellschaftliche Entwicklungen die Kenntnisse über das Lager verlorengegangen sind.
- Ein passives Sicherungssystem und der Verzicht auf aktives menschliches Eingreifen habe den Vorteil, dass dies potentiellen historischen Entwicklungen besser angemessen ist, in denen den Menschen um das Atommülllager der Wille oder die Fähigkeit abhandenkommt, die Bewachung oder Wartung weiter auszuführen. Es sei keineswegs gesichert, dass die technischen und wissenschaftlichen Möglichkeiten künftiger Generationen sich gegenüber dem jetzigen Zustand generell verbessern werden. Ins Kalkül gezogen müsse auch der gegenteilige Fall, dass die Kenntnisse verloren gehen.
- Für den Fall deutlich verbesserter Techniken wäre es im Übrigen künftigen Generationen gegebenenfalls auch möglich, an die Abfälle in einem verschlossenen Endlager zu gelangen, wenn dies notwendig sei.
- Befürworter eines baldigen Verschlusses des Endlagers weisen darauf hin, dass die von den Verfechtern der Rückholbarkeit vorgebrachten Sicherheitsargumente nicht über den gesamten Isolationszeitraum von 1 Million Jahren durchdacht werden. Das Problem werde so nur verschoben. Die Kontrolle und Überwachung werde bei allen genannten Alternativen außer dem sogenannten Hüte-Konzept letztlich nur über einige Jahrhunderte vorgesehen. In diesem Zeitraum seien die meisten potentiellen Sicherheitsprobleme aber nicht zu erwarten. So werde das Maximum einer Temperaturerhöhung, die das Wirtsgestein verändere, erst nach einigen tausend Jahren auftreten. Auch die Haltbarkeit der Abfallbehälter erschöpfe sich (wenn eine sichere Variante gewählt wird) erst nach vielen hundert Jahren.
- Auch eine rückholbare Endlagerung berge Gefahren. So werden die Beschäftigten im Endlager radioaktiver Strahlung ausgesetzt. Das Offenhalten des Lagers bringt die Gefahr mit sich, dass radioaktive Partikel in die Umgebung gelangen, sei es durch Unachtsamkeit oder durch gewollte Aktion. Wasserzuflüsse oder Instabilitäten können auch so eintreten, dass die Rückholbarkeit unmöglich gemacht wird, dann sind die nicht verfüllten Gebirgsgänge möglicherweise weitaus gefährlicher für die Umwelt als ein verschlossenes Lager.
- Ein verschlossenes Lager bietet größtmögliche Sicherheit gegen Missbrauch, da niemand mehr an die gefährlichen Abfälle herankommt. Auch bei Kriegen oder bei terroristischen Attacken wird die Nutzung des Atommülls für üble Zwecke so schwer wie möglich gemacht. Die Gefahren durch terroristische Attacken seien bei einer zugänglichen Aufbewahrung des Atommülls deutlich größer als bei einem geologischen Abschluss des Lagers. Im Entscheidungsprozess müsse eine gewichtige Rolle spielen, dass die Weitergabe kernwaffenfähigen oder radioaktiven Materials zum Bau einer "schmutzigen Bombe" ausgeschlossen werde.
- Die Befürworter der baldigen Endlagerung nehmen für sich in Anspruch, der Forderung nach Generationengerechtigkeit am besten nachzukommen. Durch den baldigen Übergang zu einem passiven Sicherungssystem würde diejenige Generation, die die Atomenergie nutzte auch für die Kosten und für die Beseitigung der Abfälle gerade stehen. In allen anderen Varianten werde die Last der Endlagerung in weit stärkerem Maße auf die kommenden Generationen verschoben.
- Auch unter ökonomischen Gesichtspunkten sehen die Befürworter der baldigen Endlagerung Vorteile: In ihrer Variante gebe es ein Ende der finanziellen Belastung, weil das verschlossene Lager nicht mehr bewacht und kontrolliert werden muss. Vor allem äußern sich einige Wissenschaftler skeptisch, ob die Abfallverursacher nach Ablauf einiger Jahrzehnte noch für neu auftretende die Kosten der Endlagerung herangezogen werden können, weil die Unternehmen dann vielleicht nicht mehr existieren.
Die wichtigsten Argumente für die Rückholbarkeit
- Das stärkste Argumente der Befürworter einer Rückholbarkeit ist sicherlich die größere Flexibilität gegenüber künftigen Entwicklungen und Erkenntnissen. Die Verfechter dieser Endlagerungs-Variante weisen darauf hin, dass sich alle Wissenschaftler einig sind, dass Langzeitprognosen niemals völlig sicher sind. Im strengen naturwissenschaftlichen Sinn könne kein Langzeit-Sicherheitsnachweis erbracht werden. Dafür sind die zu betrachtenden Zeiträume zu lang, die Methoden nicht ausgefeilt genug und die Komplexität der Probleme zu groß. Mit dem Verschluss des Lagers würde aber die Revidierbarkeit einer Entscheidung weitgehend aufgegeben. Es müsse aber immer damit gerechnet werden, dass die vorhandenen Rahmenbedingungen sich durch tektonische Erdbewegungen oder eine drastische Klimaveränderung so stark verändern, dass die bisherigen Lösungen nicht mehr den neuen Anforderungen entsprechen. Auch mit Fehlern, die beim Bau des Endlagers aus Unwissenheit oder Unachtsamkeit geschehen sind, sei mit einem rückholbar gestalteten Endlager besser umzugehen.
- Gegen ein schnelles Verschließen des Endlagers sprechen in den Augen der Befürworter der Rückholbarkeit auch unzureichende wissenschaftliche Kenntnisse über wichtige Rahmenbedingungen. So seien die Kenntnisse der Wasserwege im tiefen Untergrund nur bruchstückhaft. Schon minimale Klüfte im Gestein könnten über solche Wege eine radioaktive Verseuchung des Grundwassers bewirken und so letztlich der Strahlung einen Weg in die Biosphäre ermöglichen. Für eine Langzeitvoraussage sei auch noch viel zu wenig darüber bekannt, wie radioaktive Strahlung langfristig die umschließenden Wirtsgesteine verändern könne. Dass über solche Wirkungen die Stabilität der natürlichen Barriere zerstört werde, sei als Gefahr noch nicht ausreichend im Blickfeld. Durch eine Verschiebung des Verschlusses, so die Hoffnung, würden genauere wissenschaftliche Einschätzungen möglich.
- Durch die Überwachung des Lagers sei auch präventive Schadensvorsorge durch Reparaturen möglich, wenn sicherheitsgefährdende Veränderungen festgestellt werden. Im Fall sich abzeichnender drastischer Unsicherheiten könnten die Abfälle aus dem Lager geholt und an anderen Orten untergebracht werden. Auch neue wissenschaftliche Erkenntnisse oder Verfahren beim Umgang mit dem radioaktiven Müll könnten gegebenenfalls angewendet werden, wenn der Atommüll für die neuen Methoden noch erreichbar sei.
- Eine besondere Gefahr wird bei der nicht-rückholbaren Endlagerung darin gesehen, dass die Bildung kritischer Massen im abgelagerten Atommüll nicht erkannt werden könne. Diese Kritikalitätssicherheit sei bei den anderen Varianten deutlich besser, da es Kontrollen und Eingriffsmöglichkeiten gibt.
- Beim endgültigen Verschluss des Endlagers befürchten die Skeptiker auch, dass die Informationen über das tödliche Lager langfristig verloren gehen. Künftige Generationen könnten dann versehentlich das Lager anbohren und so den Müll wieder mit der Biosphäre verbinden.
- eine wesentliche Rolle für die Argumentation der Befürworter einer rückholbaren Lagerung spielen ethische Argumente. Dabei wird davon ausgegangen, dass durch den Verschluss des Endlagers künftigen Generationen die Möglichkeit genommen wird, die beste Endlagervariante zu bestimmen und dazu neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu nutzen. Sie hätten die Folgen möglicher Fehlentwicklungen zu tragen, ohne die getroffene Entscheidung revidieren zu können. Diese Einschränkung des Handlungsspielraums sei angesichts der fehlenden wissenschaftlichen Eindeutigkeit der jetzt möglichen Entscheidung nicht zu rechtfertigen.
- Auch aus demokratietheoretischer Sicht sei der Verschluss wegen seiner Endgültigkeit problematisch, weil er durch neue Mehrheiten nicht revidiert werden könne.
- Das Offenhalten der Option "Rückholbarkeit" ist in den Augen der Befürworter dieser Möglichkeit auch besser als die baldige Endlagerung geeignet, die notwendige Akzeptanz für einen Endlagerstandort zu erlangen. Angesichts der Komplexität des Problems finde ein schrittweises, breit und offen diskutiertes Vorgehen eher Verständnis, als eine schnelle und nicht reversible Festlegung.
- In einigen Varianten plädieren die Befürworter der Rückholbarkeit auch für die weitere Erreichbarkeit des Strahlenmülls, weil sie darauf hoffen, dass durch künftige technische Fortschritte irgendwann eine Transmutation, eine Umwandlung des langfristig strahlenden Mülls in weniger gefährliche und nur über kürzere Zeiträume strahlende Elemente und Isotope möglich wird.
Das Bundesverfassungsgericht und die Endlagerung
Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 10.11.2009 grundsätzlich ausgeführt, dass der Verschluss des Endlagers ohne die Möglichkeit der Rückholung des Atommülls im Schacht Konrad nicht gegen die Verfassung verstößt. Es wies darauf hin, dass die Genehmigungsvorschriften "ein Restrisiko in Kauf nehmen" dürfen, auch wenn sich ein künftiger Schaden nicht völlig ausschließen lässt. Vom Gesetzgeber eine Regelung zu fordern, die mit absoluter Sicherheit Grundrechtsgefährdungen ausschließe, die möglicherweise entstehen können, "hieße die Grenzen menschlichen Erkenntnisvermögens verkennen und würde weithin jede staatliche Zulassung der Nutzung von Technik verbannen", heißt es in dem Urteil. "Ungewissheiten jenseits dieser Schwelle praktischer Vernunft" so die Verfassungsrichter, "sind als unentrinnbare und insofern sozialadäquate Lasten von allen Bürgern zu tragen".
Im Hinblick auf die Argumentation, dass die Nichtrückholbarkeit und die daraus folgende Einschränkung künftiger Handlungsmöglichkeiten die Rechte der Kläger verletze, stellen sich die Verfassungsrichter auf den Standpunkt, dass es keinen grundgesetzlichen Anspruch darauf gebe, dass der Gesetzgeber nur "reversible" Entscheidungen treffe. Dies gelte insbesondere, da das vom Arbeitskreis Auswahlverfahren Endlagerstandorte im Dezember 2002 formulierte Konzept der nicht-rückholbaren Endlagerung darauf abziele, "insbesondere nachfolgenden Generationen durch die Sicherstellung der wartungsfreien Endlagerung keine unzumutbaren Erblasten aufzuerlegen und die Sicherheit der Endlagerung unabhängig von längerfristigen gesellschaftlichen Entwicklungen zu gewährleisten".
Wie weiter
Die Endlagerdebatte in Deutschland muss endlich offen und öffentlich geführt werden. Schwarz-Gelb versucht seit 30 Jahren, genau das zu verhindern. Um ihre Festlegung auf den ungeeigneten Standort Gorleben nicht zu gefährden, wurden die Probleme mit dem Atommüll beschönigt und möglichst nur in abgeschotteten Kreisen geführt.
Angebracht ist das Gegenteil. Wir brauchen eine wirklich ergebnisoffene Debatte über die Möglichkeiten, das strahlende Erbe der AKW-Zeit möglichst gefahrlos zu lagern. Dazu müssen alle möglichen Standorte für ein atomares Endlager ergebnisoffen verglichen werden. Nötig ist auch eine unvoreingenommene Diskussion über die Vor- und Nachteile der in Frage kommenden Lagervarianten. Nur auf diese Weise können wir zu einer dringend nötigen Entscheidung kommen, die in der Bevölkerung Akzeptanz findet. Vielleicht gibt es ja nach dem Fukushima-Schock auch in dieser Frage Bewegung bei den Regierungsparteien.
Zu dieser Debatte gehört auch die in diesem Text behandelte Frage der Rückholbarkeit. Eine Entscheidung über offene oder verschlossene Lagerung muss bald getroffen werden, weil davon auch die Herangehensweise an die Standortauswahl abhängt. Eine Mehrheit der atomkritischen Fachleute spricht sich derzeit für die baldige Endlagerung aus. Bündnis 90/ Die Grünen haben bisher ebenfalls in diese Richtung argumentiert, sich aber noch nicht endgültig festgelegt. Die Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen hat sich Ende vergangenen Jahres dafür ausgesprochen, die Forderung nach Rückholbarkeit in der Partei gründlich zu diskutieren. Mit dem hier vorgelegten Beitrag soll das Problem und das Für und Wider der unterschiedlichen Varianten beschrieben werden.
Foto: Sylvia Kotting-Uhl beim Gorleben-Besuch des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses in Gorleben im September 2010