Elf Asylbewerber sind inzwischen in Gartow angekommen. Einer von ihnen: Adam R. Nach einer lebensgefährlichen zehnmonatigen Irrfahrt erreichte der 20-jährige Architekturstudent aus Syrien vor einigen Tagen Restorf - sein vorläufiges Zuhause während des Asylverfahrens.
Sein Handy trägt Adam R. (Name geändert) immer bei sich. Nicht nur deswegen, weil er verzweifelt hofft, endlich Nachricht von seiner Familie zu erhalten. Es ist vor allem ein Video, dass sein Bruder drehte, kurz bevor Adam das Land verließ, dass ihn nicht loslässt: zu sehen ist darauf ein halbnackter Mann, auf einer Bahre liegend, der Körper übersät mit kleinen Wunden - umringt ihn eine klagende Menschenmenge. Ein Anderer versucht verzweifelt, den Sterbenden wieder zu beleben, doch vergebens, wie ein Kontrollmonitor am Rande des Geschehens zeigt. Der Mann ist tot.
Der Sterbende im Video war Adams Cousin. Kaum 20 Jahre alt, musste der junge Syrer mit ansehen, wie sein Verwandter nach einem Bombenangriff auf Daraa starb. Daraa, das ist die Stadt, in der die ersten Proteste gegen die Regierung Baschar Al-Assads stattfanden, die Stadt in der der Bürgerkrieg seinen Ausgangspunkt hatte.
In Syrien hilft nur Flucht
"Für Assads Sicherheitskräfte ist jeder, der aus Daraa kommt, verdächtig," so Adam. "Aufgrund der bloßen Tatsache, dass wir aus Daraa stammen, werden wir verfolgt, verhaftet und misshandelt." Immer wieder waren er, seine Freunde und Mitglieder seiner Familie von den Sicherheitskräften drangsaliert oder verhaftet worden. Nachdem Adam den Tod seines Cousins miterleben musste, war ihm endgültig klar, dass er sein Land verlassen musste, um überleben zu können.
Keine einfache Entscheidung für den 20-jährigen, der in Daraa Architektur studierte. Seine Familie, seine Freunde zurücklassen, sein Studium aufgeben für eine ungewisse Zukunft? Doch es wurde immer gefährlicher in Syrien zu bleiben. Und Adam hatte einen Traum: er wollte sein Studium in Deutschland zu Ende führen, unbelastet von Gewalt und Unterdrückung. Glücklicherweise kommt Adam aus Mittelstandsfamilie: der Vater Ingenieur, die Mutter Lehrerin - da konnten sie ihm "ein wenig Geld" mitgeben, damit wenigstens der jüngste Sohn, Bruder von weiteren zwei Brüdern und zwei Schwestern, ins sichere Europa reisen konnte.
675 000 Dollar Verdienst für eine Ladung Menschen
Wieviel Geld die Flucht nach Europa allerdings kosten würde, das hätte Adam sich niemals träumen lassen. In Alexandria war die Reise zunächst zu Ende. In der ägyptischen Hafenstadt musste der junge Mann die bittere Erkenntnis machen, dass sich längst skrupellose Geschäftemacher an dem Schicksal der Flüchtlinge bereichern. Unverschämte 2500 Dollar kostet in Alexandria die lebensgefährliche Überfahrt nach Italien. Ein Anderer zahlte gar 6000 Dollar erfuhr Adam später von Schicksalsgenossen. 2500 Dollar für einen engen Platz auf einem offenen, kaum 20 m langen Fischerkahn, der mit Adam zusammen weitere 270 Flüchtlinge rund 2000 km durch das Mittelmeer bis nach Catania auf Sizilien brachte. 270 x 2500 Dollar - stolze 675 000 Dollar brachte nur diese eine Bootstour dem ägyptischen Schleppernetzwerk ein. Und es war beileibe nicht die einzige Tour, die in dieser Woche den ägyptischen Hafen verließ.
Monatelang schuftete Adam 18/19 Stunden am Tag in einer ägyptischen Kaffeebar, schlief im Restaurant, um das Geld für die Überfahrt zusammen zu kratzen. Im Oktober war es endlich soweit: ein Mittelsmann hatte ihm einen "Platz" auf einem Fluchtboot verschafft.
"Auf dem alten Kahn war für Jeden gerade soviel Raum, dass man mit angezogenen Beinen unter freiem Himmel sitzen konnte," so Adam. "Während der neun Tage dauernden Überfahrt bei Sturm und Regen gab es täglich einen kleinen Becher Wasser und gerade soviel Brot, dass wir nicht verhungerten." Wie 270 Menschen auf dem überfüllten Boot ihre Notdurft verrichteten, blieb im Dunkeln. Wie durch ein Wunder erreichten alle Mitreisenden das italienische Ufer lebend. Eine hochschwangere Frau an Bord erlitt allerdings während der Fahrt eine Frühgeburt, die nur durch die Hilfe eines ebenfalls mitreisenden Doktors der Psychologie glücklich ausging.
Endlich in Europa - die Irrfahrt geht weiter
Etwa 160 Meilen vor der sizilianischen Küste wurden das Flüchtlingsboot von Helfern des Roten Kreuzes entdeckt und die Flüchtlinge an Bord geholt. Adam wurde zunächst einmal in ein Krankenhaus in Catania gebracht, da er durch die Wellenschaukelei, Schlaflosigkeit, permanenten Hunger und Durst an starken Schwindelanfällen litt.
Bei den Flüchtlingen hatte sich herumgesprochen, dass die italienischen Behörden Bootsflüchtlinge wieder zurückbringen. Also entschloss sich Adam, dieses Schicksal nicht abzuwarten und verließ das Krankenhaus auf eigene Verantwortung. Mit dem Zug ging es weiter über Mailand nach Basel, wo ihn die Schweizer Polizei erwischte und wieder zurück nach Italien brachte. Dort verbrachte er zunächst einige Tage im Gefängnis, musste Schläge erdulden und miterleben, wie Mitflüchtlinge von Polizisten so stark geschlagen wurden, dass einem ein Arm gebrochen wurde.
Hier erschien Adam die Situation so aussichtslos, dass er sich mit einer Rasierklinge die Arme aufritzte. Aus welchem Grund auch immer: für die italienische Polizei war dies ein Grund, ihn laufen zu lassen. Erneut startete Adam einen Versuch, sich weiter Richtung Norden durchzuschlagen. Tagelang verbrachte er auf den Straßen Mailands, immer in der Hoffnung, eine Fahrmöglichkeit zu finden. Der Zug war ihm zu unsicher geworden. Unter den Flüchtlingen hatte sich herumgesprochen, dass es an der Mailänder Bahnstation Möglichkeiten gäbe, sich per Auto nach Nordeuropa fahren zu lassen, dass die meisten Angebote allerdings höchst fragwürdig waren. Mehrere Bekannte waren viel Geld bei Betrügern losgeworden, die sie noch vor der Schweizer Grenze aus dem Auto warfen - nachdem sie 2000 Euro abkassiert hatten. Tagelang ging es darum, den fremdenfeindlichen Attacken zu entgehen, nicht ausgeraubt und zusammengeschlagen zu werden, wie es einigen seiner Mitflüchtlingen ergangen war.
Adam gelang es, einen vertrauenswürdigen Fahrer zu finden, der ihn und drei weitere Flüchtlinge für (jeweils!) 500 Euro nach Deutschland brachte.
Am 28. Oktober erreichte der junge Mann dann endlich Dortmund. Doch auch hier war die Irrfahrt noch nicht zu Ende: vom Auffanglager Unna ging es nach Burbach, dann nach Köln, von Köln wieder nach Burbach, bis er dann ins Flüchtlingslager nach Friedland geschickt wurde. Von hier aus konnte er dann endlich am 18. Dezember nach Restorf reisen, wo er nun im ehemaligen Gasthof bei Klaus Evert ein vorläufiges Zuhause fand.
Adam fühlt sich in Restorf wohl, ist den beiden Inhabern zutiefst dankbar - und doch kommt er nicht zur Ruhe. Während des Gesprächs sind seine feingliedrigen Hände ständig in Bewegung, seine Augen von Trauer verschattet, sein Handy lässt er kaum lös. Nachts kann er nicht schlafen - ständig verfolgen ihn die Bilder seines sterbenden Cousins, treibt ihn die Angst um seine Familie um, von der er seit Monaten nichts mehr gehört hat. Um seine Familie vor Repressalien zu schützen, möchte er weder, dass sein richtiger Name veröffentlicht wird, noch möchte er fotografiert werden. "Ein Monat nach meiner Flucht ist die Straße, in der meine Familie lebt, massiv bombardiert worden," erzählt Adam. "Ich weiß nicht, wer von meiner Familie, von meinen Freunden heute noch lebt."
In seinen Träumen wird er geschlagen, erwürgt oder verschleppt. Seit seiner Ankunft in Deutschland ist Adam in psychotherapeutischer Behandlung, mit Medikamenten versuchen die Ärzte, ihn etwas zur Ruhe zu bringen.
Aber es ist nicht nur die Angst um sein Leben und das seiner Familie, die Adam umtreibt. Er hat außerdem panische Angst, wieder nach Italien zurückgeschickt zu werden, in das Land, dessen Behördenvertreter ihn und seine Schicksalsgenossen wie Schwerkriminelle behandelt hatten und Einheimische die Flüchtlinge wie lästige Schmeißfliegen verscheuchten - oder ausraubten. Die Angst ist nicht völlig unbegründet, denn in Deutschland gilt immer noch die Regel, dass als Asylbewerber nur anerkannt wird, wer nicht über ein "sicheres" Drittland eingereist ist.
Zunächst können Adam und seine acht Mitflüchtlinge aus Syrien und dem Iran, die in Restorf untergebracht sind, aufatmen. Jeder der Flüchtlinge hat sein eigenes Zimmer in der Seepension, in zwei Gemeinschaftsküchen können sie sich versorgen, mit den regelmäßigen Zahlungen vom Landkreis Lüchow-Dannenberg kann zumindest das Notwendigste besorgt werden. Eine ebenfalls unter dramatischen Umständen geflüchtete syrische Familie mit zwei kleinen Kindern ist in einer großzügig geschnittenen Ferienwohnung untergebracht.
Liebevoll kümmern sich Klaus Evert und seine Lebensgefährtin Rita Germann um die Bedürfnisse der Gestrandeten, lassen sie teilhaben an ihrem Alltag. Und auch aus den Nachbardörfern gibt es Hilfe: ein Vietzer kommt regelmäßig und gibt ihnen Deutschunterricht. Frauen des Austausch-Treff in Gartow organisieren Transfers nach Gartow und auch ansonsten mangelt es nicht an Hilfsangeboten.
Aber es gibt auch die Kehrseite: seit der Ankunft der Flüchtlinge muss Klaus Evert sich mit anonymen Telefonanrufen auseinandersetzen, die ihn beschimpfen, weil er "die Kanaken" aufgenommen hat. Doch Klaus Evert und Rita Germann lassen sich dadurch nicht beirren. Bei aller Belastung, die die Betreuung von neun Personen mit sich bringt, freuen sie sich auch an dem bunten Leben, dass nun in dem ehemaligen Gasthof herrscht.